Beschluss vom 21.08.2023 -
BVerwG 8 B 20.23ECLI:DE:BVerwG:2023:210823B8B20.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 21.08.2023 - 8 B 20.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:210823B8B20.23.0]

Beschluss

BVerwG 8 B 20.23

  • VG Düsseldorf - 28.03.2022 - AZ: 1 K 1157/21
  • OVG Münster - 17.01.2023 - AZ: 15 A 976/22

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. August 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller und Dr. Meister
beschlossen:

  1. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. Januar 2023 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Der Kläger reichte für die Wahl zum Landrat des Kreises V. am 13. September 2020 einen Vorschlag ein. Der Kreisverband der CDU benannte als Wahlbewerber den seit der Kommunalwahl 2015 amtierenden Amtsinhaber, den Beigeladenen. Auch SPD, FDP und Die PARTEI reichten Wahlvorschläge ein. Am 6. September 2020 schaltete der Beklagte eine Anzeige in einem Anzeigenblatt, in der über aktuelle Aktivitäten des Beklagten und zweier seiner Gesellschaften, denen der Beigeladene jeweils vorsitzt, berichtet wurde. Der Beigeladene wurde mit 54,1 % der Stimmen im ersten Wahlgang gewählt. Die zweitplatzierte SPD-Kandidatin erhielt 27,7 % der Stimmen. Der Kläger erhob beim Kreiswahlleiter Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl und rügte, der Beklagte habe durch die Schaltung der Anzeige seine Neutralitätspflicht verletzt. Der Kreisausschuss erklärte die Wahl für gültig. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten verpflichtet, die Wahl für ungültig zu erklären und eine Neuwahl anzuordnen. Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung des Beklagten und des Beigeladenen stattgegeben und die Klage abgewiesen, weil der Wahlfehler nicht mandatsrelevant sei. Die Revision gegen sein Urteil hat es nicht zugelassen.

2 Die auf alle Zulassungsgründe gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

3 1. Der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu. Die Grundsatzrüge setzt die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts voraus, der eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14).

4 Diese Voraussetzungen sind nicht prozessordnungsgemäß dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).

5 Die Frage,
ob bei einer Personenwahl auf die Auswirkungen des Wahlfehlers der amtlichen Wahlbeeinflussung auf das Ergebnis dieses stattgefundenen (ersten) Wahlgangs abzustellen ist oder ob in hypothetischer Weise ein mögliches Ergebnis einer (nicht stattgefundenen) Stichwahl zu ermitteln ist,
betrifft, soweit entscheidungserheblich, kein revisibles Recht. Das Oberverwaltungsgericht hat seinen rechtlichen Maßstab für die Entscheidung, ob die Wahl zum Landrat des Kreises V. wiederholt werden muss und ob insoweit auf das Ergebnis einer eventuellen Stichwahl abzustellen ist, aus § 40 Abs. 1 Buchst. b und § 46b KWahlG NRW abgeleitet. Diese landesrechtlichen Vorschriften zählen nicht zum revisiblen Recht.

6 Soweit die gestellte Frage nicht auf die Auslegung des Landesrechts durch das Oberverwaltungsgericht zielt, sondern auf die für diese Auslegung aus dem Bundesrecht folgenden Grenzen, wird kein revisionsrechtlicher Klärungsbedarf dargetan. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass den Ländern hinsichtlich der Regelung des Wahlprüfungsverfahrens für ihre Landtagswahlen und die Wahlen in ihren kommunalen Gebietskörperschaften ein umfangreicher, durch das Homogenitätsgebot gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG begrenzter Gestaltungsspielraum zusteht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2023 - 2 BvR 2189/22 - NJW 2023, 2025 Rn. 145).

7 Die Beschwerdebegründung zeigt keinen revisionsrechtlichen Klärungsbedarf hinsichtlich der danach einschlägigen verfassungsrechtlichen Grenzen auf. Dazu genügt es nicht, geltend zu machen, die berufungsgerichtliche Auslegung der irrevisiblen Regelung verletze bundesverfassungsrechtliche Vorschriften (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. März 1984 - 7 B 238.81 - Buchholz 401.84 Benutzungsgebühren Nr. 49). Vielmehr muss dargetan werden, dass der bundesverfassungsrechtliche Maßstab selbst einen die Zulassung der Revision rechtfertigenden Klärungsbedarf aufweist (BVerwG, Beschluss vom 28. September 2010 - 8 B 5.10 - juris Rn. 2 m. w. N.). Das ist hier weder für das Homogenitätsgebot selbst (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG) noch für die dort in Bezug genommenen Wahlrechtsgrundsätze geschehen. Ebenso wenig legt der Kläger dar, dass das den Erheblichkeitsgrundsatz rechtfertigende Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) und das daraus abzuleitende Mehrheitsprinzip weiterer Klärung bedürften, um beurteilen zu können, ob die Prüfung der Mandatsrelevanz von Wahlfehlern bei der Landratswahl das absehbare Ergebnis einer bei Wahlwiederholung möglicherweise erforderlich werdenden Stichwahl berücksichtigen darf.

8 2. Die Revision ist nicht wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zuzulassen. Der Zulassungsgrund der Divergenz ist nur dann hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts oder eines anderen der in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten Gerichte aufgestellten ebensolchen abstrakten Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 20. April 2017 - 8 B 56.16 - juris Rn. 5).

9 Diese Anforderungen kann eine Abweichung von den vom Kläger zitierten Rechtssätzen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes zum Erheblichkeitsgrundsatz in dessen Urteil vom 29. November 1995 - 4 B 95/605 - (NVwZ-RR 1996, 680) nicht erfüllen, weil der Bayerische Verwaltungsgerichtshof nicht zu den in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufgezählten divergenzfähigen Gerichten zählt. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich die zitierten Rechtssätze auch nicht in seinem die Revision gegen die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes zurückweisenden Urteil vom 18. April 1997 - 8 C 5.96 - (BVerwGE 104, 323 <329 f.>) zu eigen gemacht. Dort wird vielmehr gerade offengelassen, ob der Erheblichkeitsgrundsatz für das kommunale Wahlprüfungsverfahren bundesverfassungsrechtlich zwingend vorgegeben ist.

10 Mit dem Hinweis auf die Urteilserwägung:
"Die im angefochtenen Urteil festgestellte Ungewissheit der Auswirkungen der unzulässigen amtlichen Wahlempfehlung auf die Wahlentscheidungen der Bürger sowie die offene personelle Zusammensetzung der sich einer Stichwahl stellenden Wahlbewerber schließen eine hinreichend sichere Annahme des vermutlichen Ausgangs einer Stichwahl aus." (BVerwG, Urteil vom 18. April 1997 - 8 C 5.96 - BVerwGE 104, 323 <331>)
ist keine Divergenz zu begründen. Diese Erwägung ist kein abstrakter Rechtssatz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO. Sie ist insbesondere nicht dahingehend zu verstehen, dass die Berücksichtigung des voraussichtlichen Ausganges einer Stichwahl bei der kommunalen Wahlprüfung durch Bundesrecht stets ausgeschlossen wäre. Das ergibt sich aus dem Textzusammenhang der Passage und aus dem Umstand, dass sie den Verzicht auf eine Stichwahlprognose im damals entschiedenen Fall nicht mit rechtlichen Annahmen, sondern mit tatsächlichen Feststellungen rechtfertigt.

11 Die voranstehenden Urteilserwägungen führen aus, das Landes- und Kommunalwahlrecht sei verfassungsrechtlich nicht gehindert, in Anlehnung an den Erheblichkeitsgrundsatz vorzusehen, dass nur mandatsrelevante Wahlfehler zur Ungültigkeit der Wahl führen. Dies seien Fehler, bei denen nach der allgemeinen Lebenserfahrung die konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit bestehe, dass sie die Mandatsverteilung beeinflusst haben könnten. Ein Wahlfehler könne den in einer Wahl zum Ausdruck gebrachten Volkswillen nur verletzen, wenn sich ohne ihn eine andere, über das maßgebliche Wahlergebnis entscheidende Mehrheit ergeben würde (BVerwG, Urteil vom 18. April 1997 - 8 C 5.96 - BVerwGE 104, 323 <329 f.>). Diese rechtlichen Ausführungen schließen nicht aus, das maßgebliche Wahlergebnis bei einer Landratswahl in der Wahlentscheidung für eine bestimmte Person zu sehen, die sich - bei Wahlwiederholung - unter Umständen erst aus einer Stichwahl ergibt. Dementsprechend stützt die zitierte Entscheidung sich auch nicht auf einen solchen Rechtssatz. Vielmehr hält sie die Ablehnung einer Prognose des Stichwahlergebnisses für revisionsrechtlich fehlerfrei, weil die Auswirkungen des Wahlfehlers nach den damaligen vorinstanzlichen Feststellungen ungewiss und die personelle Zusammensetzung der Bewerber bei der Stichwahl offen gewesen seien (BVerwG, Urteil vom 18. April 1997 - 8 C 5.96 - BVerwGE 104, 323 <329 f.>). Beides sind tatsächliche Feststellungen, die das Oberverwaltungsgericht hier nicht getroffen hat.

12 3. Die vom Kläger geltend gemachten Verfahrensfehler im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen, soweit sie in einer § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise bezeichnet wurden, nicht vor.

13 a) Die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe seine Verpflichtung zur Amtsermittlung (§ 86 Abs. 1 VwGO) dadurch verletzt, dass es den Ausgang der Wahl der Bürgermeister in den kreisangehörigen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen bei der Kommunalwahl 2020 nicht ermittelt hat, ist schon nicht prozessordnungsgemäß dargetan. Dazu wäre die Darlegung erforderlich gewesen, welche Aufklärungsmaßnahmen sich dem Oberverwaltungsgericht auch ohne förmlichen Beweisantrag hätten aufdrängen müssen, welches Ergebnis sie gehabt hätten und inwieweit dies zu einer für den Kläger günstigeren Entscheidung hätte führen können (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14 f.).

14 Daran fehlt es hier. Der Kläger legt nicht dar, weshalb die von ihm vermisste Sachaufklärung sich dem Oberverwaltungsgericht - ausgehend von dessen materiell-rechtlichem Standpunkt - hätte aufdrängen müssen. Das Oberverwaltungsgericht hat bei der Subsumtion unter den von ihm gebildeten Erheblichkeitsmaßstab auf den Ausgang der Oberbürgermeister- und Landratswahlen abgestellt. Auf den Ausgang der Bürgermeisterwahlen in den kreisangehörigen Gemeinden kam es nach seiner Rechtsansicht damit gerade nicht an. Die insoweit vorgebrachte Kritik des Klägers, das Oberverwaltungsgericht hätte alle Stichwahlen in den Blick nehmen müssen, zielt auf den materiell-rechtlichen Maßstab des Oberverwaltungsgerichts, der im Rahmen der Verfahrensrüge nicht zur Überprüfung des Bundesverwaltungsgerichts gestellt werden kann.

15 Der Kläger legt zudem nicht dar, inwieweit die von ihm benannten Ergebnisse der Bürgermeisterwahlen in den kreisangehörigen Gemeinden zu einem ihm günstigeren Ergebnis hätten führen müssen. Das Oberverwaltungsgericht hat seine Einschätzung, es wäre nur theoretisch möglich gewesen, dass eine Stichwahl zu Ungunsten des Beigeladenen ausgegangen wäre, darauf gestützt, dass nach den von ihm in den Blick genommenen Stichwahlen auf der Ebene der kreisfreien Städte und Landkreise ein Erfolg des Zweitplatzierten entweder vorausgesetzt hat, dass der Zweitplatzierte im ersten Wahlgang weniger als 10 % zurückgelegen hat oder aber der Drittplatzierte ein relativ hohes Ergebnis erzielt und eine Wahlempfehlung zugunsten des Zweitplatzierten abgegeben hat und dass keine der beiden Konstellationen bei der hier zu beurteilenden Wahl gegeben war. Der Kläger legt nicht dar, inwieweit dieser Befund durch die seiner Meinung nach ebenfalls in den Blick zu nehmenden Ergebnisse der Bürgermeisterwahlen in den kreisangehörigen Gemeinden erschüttert wird. Hierfür genügt es nicht vorzutragen, es sei bei Berücksichtigung der Ergebnisse der Bürgermeisterwahlen in den kreisangehörigen Gemeinden in weiteren 28 Fällen zu einem Obsiegen des Zweitplatzierten gekommen und in sechs Fällen habe ein Zweitplatzierter obsiegt, der im ersten Wahlgang mindestens zehn Prozentpunkte zurückgelegen habe. Denn das Oberverwaltungsgericht hat ein Obsiegen des mehr als zehn Prozentpunkte zurückliegenden Zweitplatzierten nicht generell für ausgeschlossen gehalten, sondern nur für den Fall, dass kein Drittplatzierter mit hohem Stimmenanteil eine Wahlempfehlung zugunsten des Zweitplatzierten abgegeben hat. Der Kläger legt nicht dar, dass diese Einschätzung durch die von ihm zitierten sechs Fälle, in denen ein Zweitplatzierter mehr als zehn Prozentpunkte zurückgelegen und die Stichwahl gewonnen hat, widerlegt wird. Insoweit fehlt es insbesondere an Darlegungen dazu, welchen Stimmenanteil der in den von ihm zitierten Fällen jeweils Drittplatzierte hatte und ob er eine Wahlempfehlung zugunsten des Zweitplatzierten abgegeben hat.

16 b) Die sinngemäß erhobene Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) dadurch verletzt, dass es die Ergebnisse der Wahlen der Bürgermeister in den kreisangehörigen Gemeinden ausgeblendet habe, ist ebenfalls nicht prozessordnungsgemäß dargelegt. Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Vermeintliche Fehler in der Sachverhalts- oder Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich grundsätzlich dem sachlichen Recht und nicht dem Verfahrensrecht zuzuordnen. Die Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung ist erst dann überschritten, wenn das Gericht seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen oder sonst von objektiver Willkür geprägt sind.

17 Solches legt der Kläger nicht dar. Nach der Rechtsansicht des Oberverwaltungsgerichts kam es für die Einschätzung der Erheblichkeit des festgestellten Wahlfehlers entscheidend auf den Ausgang der Wahlen in den anderen Landkreisen und kreisfreien Städten an. Gemessen daran war die Nichtberücksichtigung des Ausgangs der Bürgermeisterwahlen in den kreisangehörigen Gemeinden nicht willkürlich.

18 Selbst wenn die Auswahl der für die Einschätzung der Erheblichkeit des Wahlfehlers heranzuziehenden Vergleichswahlen der Beweiswürdigung und nicht dem rechtlichen Maßstab für die Entscheidung zuzuordnen wäre, ergäbe sich nichts anderes. Die Beschränkung der Vergleichsbetrachtung auf die Wahlen in den Landkreisen und kreisfreien Städten rechtfertigt sich jedenfalls daraus, dass es sich dabei um Wahlen zu kommunalen Gebietskörperschaften handelt, die jeweils ebenfalls die Aufgaben eines Kreises wahrnehmen und damit hinsichtlich ihres Aufgaben- und Größenzuschnitts dem verfahrensgegenständlichen Kreis eher entsprechen als die vom Kläger benannten kreisangehörigen Gemeinden.

19 c) Das Oberverwaltungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) nicht verletzt. Dieser soll sicherstellen, dass ein Verfahrensbeteiligter Einfluss auf den Gang des gerichtlichen Verfahrens und dessen Ausgang nehmen kann. Zu diesem Zweck muss er Gelegenheit erhalten, sich zu allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu äußern, die entscheidungserheblich sein können. Zwar korrespondiert mit diesem Äußerungsrecht keine umfassende Frage-, Aufklärungs- und Hinweispflicht des Gerichts. Vielmehr kann regelmäßig erwartet werden, dass die Beteiligten von sich aus erkennen, welche Gesichtspunkte Bedeutung für den Fortgang des Verfahrens und die abschließende Sachentscheidung des Gerichts erlangen können, und entsprechend vortragen. Jedoch verlangt der Schutz vor einer Überraschungsentscheidung, dass das Gericht nicht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <144 f.> sowie Kammerbeschluss vom 15. Februar 2011 - 1 BvR 980/10 - NVwZ-RR 2011, 460 Rn. 13 m. w. N.; BVerwG, Beschluss vom 29. Dezember 2016 - 2 B 12.16 - Buchholz 230 § 127 BRRG Nr. 64 Rn. 12). Ein unzulässiges Überraschungsurteil liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. April 2001 - 4 B 31.01 - NVwZ-RR 2001, 798 <800>).

20 Der Kläger beanstandet, das Oberverwaltungsgericht habe ihn vor seiner Entscheidung nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, es beabsichtige die Entscheidung zur Erheblichkeit des Wahlfehlers auch von den Aussichten des Zweitplatzierten in einer eventuellen Stichwahl abhängig zu machen. Zu einem solchen Hinweis war das Oberverwaltungsgericht nicht verpflichtet. Der gewissenhafte und kundige Prozessbeobachter musste damit rechnen, dass das Oberverwaltungsgericht auf diesen Gesichtspunkt abstellen könnte. Schon das Verwaltungsgericht hat eine solche Möglichkeit in seinem Urteil (UA S. 14) aufgezeigt. Der Beklagte hat diesen Gesichtspunkt in seiner Berufungsbegründung (S. 41) aufgegriffen. Schließlich wurde er ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 17. Januar 2023 (S. 2) auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht angesprochen.

21 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.