Pressemitteilung Nr. 62/2017 vom 21.09.2017

Keine Aussetzung der Abschiebung von zwei islamistischen Gefährdern

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat erneut die Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz gegen die Abschiebung von zwei islamistischen Gefährdern abgelehnt. Die Betroffenen, ein Tunesier und ein Türke, wurden im Februar bzw. März 2017 verhaftet. Im Juni 2017 ordnete das Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen die Abschiebung des türkischen Staatsangehörigen gemäß § 58a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) an. Mit Verfügung vom August 2017 ordnete das Hessische Ministerium des Innern und für Sport die Abschiebung des tunesischen Staatsangehörigen an. Beide Ministerien haben ihre Anordnungen damit begründet, dass die Ausländer als „Gefährder“ der radikal-islamistischen Szene in Deutschland zuzurechnen seien. Sie identifizierten sich mit der terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat“ (IS) und bei ihnen bestehe das Risiko der Begehung einer terroristischen Tat, das sich jederzeit realisieren könne.


Die gegen den Vollzug ihrer Abschiebung gerichteten Begehren hat der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig jetzt zurückgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht ist in Fällen einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erstinstanzlich zuständig. Das Gericht hat auf der Grundlage der vorgelegten Erkenntnismittel die Prognose der beiden Ministerien als gerechtfertigt angesehen, dass von den Ausländern eine terroristische Gefahr ausgeht. Dafür reicht in den Fällen des § 58a AufenthG ein beachtliches Risiko aus. Damit können die Betroffenen schon vor der Entscheidung des Gerichts in der Hauptsache abgeschoben werden. Im Fall des tunesischen Staatsangehörigen macht das Gericht die Abschiebung allerdings von der Zusicherung einer tunesischen Regierungsstelle abhängig, dass dem Betroffenen im Fall der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe die Möglichkeit der Überprüfung der Strafe mit der Aussicht auf Herabsetzung der Haftdauer gewährt wird. Im Fall des  türkischen Staatsangehörigen wird die Zusicherung verlangt, dass im Fall seiner Verhaftung in der Türkei die dortigen Haftbedingungen den europäischen Mindeststandards entsprechen und er Besuche von diplomatischen oder konsularischen Vertretern der Bundesrepublik Deutschland erhalten darf.


BVerwG 1 VR 7.17 - Beschluss vom 19. September 2017

BVerwG 1 VR 8.17 - Beschluss vom 19. September 2017


Beschluss vom 02.08.2017 -
BVerwG 1 VR 7.17ECLI:DE:BVerwG:2017:020817B1VR7.17.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 02.08.2017 - 1 VR 7.17 - [ECLI:DE:BVerwG:2017:020817B1VR7.17.0]

Beschluss

BVerwG 1 VR 7.17

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. August 2017
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
beschlossen:

  1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist nach § 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG wird abgelehnt.
  2. Es wird festgestellt, dass der Antrag vom 1. August 2017 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung des Antragsgegners vom 27. Juni 2017 fristgerecht eingegangen ist und daher gemäß § 58a Abs. 4 Satz 3 AufenthG bis zur Entscheidung des Gerichts über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz eine Abschiebung des Antragstellers nicht vollzogen werden darf.

Gründe

1 Die beantragte Wiedereinsetzung nach § 60 VwGO war abzulehnen, da der Antragsteller die Frist nach § 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG nicht hat verstreichen lassen. Zwar ist nach dieser Vorschrift ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach der Verwaltungsgerichtsordnung innerhalb von sieben Tagen nach Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung zu stellen. Diese Frist beginnt gemäß § 58 Abs. 1 VwGO jedoch erst zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist. Hier enthält die Rechtsbehelfsbelehrung in dem angefochtenen Bescheid zwar den Hinweis, dass der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes innerhalb der genannten Frist beim Bundesverwaltungsgericht gestellt werden kann, es wird jedoch nicht auf das Erfordernis hingewiesen, sich hierbei vor dem Bundesverwaltungsgericht von einem Prozessbevollmächtigten gemäß § 67 Abs. 4 VwGO vertreten zu lassen. Eines solchen Hinweises bedarf es aber jedenfalls in Abschiebungsanordnungen nach § 58a AufenthG zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG. Das beruht auf den Besonderheiten dieses Verfahrens, in dem sich der Adressat der Verfügung typischerweise - und so auch hier - in Haft befindet, ihm nur sieben Tage zur Wahrung der Frist nach § 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG zur Verfügung stehen und es sich um ein erstinstanzliches gerichtliches Verfahren handelt, bei dem Rechtsschutz gegen eine behördliche Entscheidung begehrt wird, auf deren Erlass sich ein Antragsteller nicht aufgrund eines Verwaltungsverfahrens einstellen konnte, in dem er - typischerweise - bereits anwaltlich vertreten war (für andere Verfahren siehe hingegen Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 58 Rn. 10). Der in § 58a Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2 AufenthG geforderte Hinweis auf die gegebenen Rechtsbehelfe geht insoweit über die aus § 58 Abs. 1 VwGO folgenden Anforderungen hinaus. Begann die Frist nach § 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG hier danach noch gar nicht zu laufen, sondern ist insoweit die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO maßgeblich, liegen die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung nach § 60 VwGO nicht vor.

2 Daraus folgt, dass der Antrag vom 1. August 2017 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung des Antragsgegners vom 27. Juni 2017 fristgerecht eingegangen ist und daher gemäß § 58a Abs. 4 Satz 3 AufenthG bis zur Entscheidung des Gerichts über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz eine Abschiebung des Antragstellers nicht vollzogen werden darf. Dies hat der Senat im Tenor des Beschlusses zur Klarstellung der Rechtslage festgestellt.

3 Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Beschluss vom 19.09.2017 -
BVerwG 1 VR 7.17ECLI:DE:BVerwG:2017:190917B1VR7.17.0

Abschiebungsanordnung gegen islamistischen Gefährder in die Türkei

Leitsatz:

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG kann vorliegen, wenn die Haftbedingungen im Zielstaat der Abschiebung den in Art. 3 EMRK verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen widersprechen.

  • Rechtsquellen
    ARB 1/80 Art. 7, 14
    AufenthG § 11 Abs. 1, 2 und 5, § 53 Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 2, §§ 58a, 59 Abs. 2 und 3, § 60 Abs. 1 bis 9
    GG Art. 6, 19 Abs. 4
    EMRK Art. 3
    Richtlinie 2008/115/EG Art. 7 Abs. 4, Art. 11 Abs. 2
    StGB § 89a
    VwGO § 80 Abs. 5

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 19.09.2017 - 1 VR 7.17 - [ECLI:DE:BVerwG:2017:190917B1VR7.17.0]

Beschluss

BVerwG 1 VR 7.17

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. September 2017
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph
beschlossen:

  1. Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung des Antragsgegners vom 27. Juni 2017 anzuordnen, wird mit der Maßgabe abgelehnt, dass der Antragsteller erst nach Erlangung einer Zusicherung einer türkischen Regierungsstelle abgeschoben werden darf, wonach
  2. - im Fall einer Inhaftierung des Antragstellers wegen seines Verhaltens vor der Abschiebung die räumliche Unterbringung und die sonstige Gestaltung der Haftbedingungen in dieser Haftanstalt den europäischen Mindeststandards entsprechen,
  3. - Besuche durch diplomatische oder konsularische Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Antragsteller im Fall seiner Inhaftierung während deren Dauer - auch unangekündigt - möglich sind.
  4. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
  5. Der Wert des Streitgegenstands wird für das Antragsverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Der Antragsteller, ein in Deutschland geborener und aufgewachsener 21-jähriger türkischer Staatsangehöriger, begehrt einstweiligen Rechtsschutz im Hinblick auf die Anordnung seiner Abschiebung in die Türkei.

2 Mit Verfügung vom 27. Juni 2017 ordnete das Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen - gestützt auf § 58a AufenthG - die Abschiebung des Antragstellers in die Türkei an. Es begründete seine Entscheidung damit, dass der Antragsteller enge Kontakte in radikal-islamistische Kreise pflege, mit der terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat (IS)" sympathisiere und gewillt sei, die Ziele des "IS" auch aktiv durch Gewaltakte zu unterstützen. Daraus ergebe sich die auf Tatsachen gestützte Prognose, dass vom Antragsteller die Gefahr ausgehe, für sein Vorbild "Islamischer Staat" Anschläge gegen "staatliche Funktionen" oder gegen Unbeteiligte in Deutschland zu verüben. Gegen ihn wurde im März 2017 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gemäß § 89a und § 89b StGB eingeleitet und am 28. März 2017 durch das Amtsgericht Dortmund Untersuchungshaft gegen ihn angeordnet. Am 20. Juli 2017 hat die Staatsanwaltschaft Anklage beim Landgericht Düsseldorf erhoben (601 Js 34/17). Am 13. Juli 2017 hat das Amtsgericht Dortmund zudem Sicherungshaft zur Sicherung der Abschiebung angeordnet (810 XIV(B) 57/17).

3 Mit Schriftsatz vom 28. Juli 2017 hat der Antragsteller beim Bundesverwaltungsgericht Klage gegen die Abschiebungsanordnung erhoben und am 1. August 2017 einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt und diesen Antrag mit Schriftsatz vom 18. September 2017 näher begründet. Er hält die Verfügung für rechtswidrig. Der Antragsteller sei vor Erlass der Verfügung nicht hinreichend angehört worden. Vom Antragsteller gehe keine terroristische Gefahr aus. Die ihm vorgeworfenen Äußerungen ergäben sich nicht aus Chat-Protokollen und seinen eigenen Angaben gegenüber der Haftrichterin. Die Antragsgegnerin stütze sich vielmehr auf die Angaben der Polizeibeamten der Kriminalinspektion Polizeilicher Staatsschutz (KIST) beim Polizeipräsidium B., die möglicherweise von der Vorbereitung der Abschiebungsanordnung gewusst und daher die Sätze geliefert hätten, die hierfür erforderlich seien, nämlich das Bekenntnis zum "IS" und "in Deutschland etwas machen" zu wollen. Da diese Äußerungen nicht durch andere Quellen belegt werden könnten, begegneten sie erheblichen Zweifeln. Der Senat könne die Glaubwürdigkeit der Beamten nicht ohne deren Anhörung einschätzen. Was die vorgeworfene Planung einer Weiterreise nach Syrien betrifft, belegten die Chat-Protokolle das Gegenteil. Die vermeintliche Bedrohung jesidischer Bürger habe der Antragsteller stets bestritten und bestreite sie weiterhin. Im Übrigen stünden einer Abschiebung in die Türkei die dortigen Haftbedingungen entgegen. Der Antragsteller müsse damit rechnen, dort in Haft genommen zu werden. Das OLG Celle habe in einem Beschluss vom 2. Juni 2017 die Auslieferung einer Person zum Zweck der Strafverfolgung wegen der dortigen Verhältnisse in den Gefängnissen abgelehnt.

4 Der Senat hat eine Liste mit Erkenntnismitteln über die abschiebungsrelevante Lage in der Türkei erstellt und ergänzend eine Auskunft des Auswärtigen Amtes (AA) und von Amnesty International (AI) eingeholt. Die in der Liste aufgeführten Erkenntnismittel und die auf die Anfrage des Senats eingegangene Auskunft des AA vom 5. September 2017 und von AI vom 29. August 2017 wurden den Beteiligten zur Kenntnis gebracht.

II

5 Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung des Ministeriums für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen vom 27. Juni 2017 anzuordnen, ist zulässig (§ 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO), auch ist das Bundesverwaltungsgericht als Gericht der Hauptsache zuständig (§ 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO).

6 Der Antrag ist aber unbegründet. Bei der gebotenen Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers, bis zum Abschluss des Klageverfahrens in Deutschland zu bleiben, und dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung überwiegt das öffentliche Interesse. An der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Abschiebungsanordnung bestehen keine ernstlichen Zweifel (1.). Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote, die einer Abschiebung des Antragstellers in die Türkei entgegenstehen könnten, liegen nicht vor.

7 1. Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 58a Abs. 1 AufenthG. Danach kann die oberste Landesbehörde gegen einen Ausländer auf Grund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen. Diese Regelung ist formell und materiell verfassungsgemäß (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - juris und vom 26. Juli 2017 - 2 BvR 1606/17 - juris).

8 a) Die angegriffene Abschiebungsanordnung ist bei der hier gebotenen umfassenden Prüfung (BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 13) nicht zu beanstanden.

9 Die Verfügung begegnet in formeller Hinsicht keinen Bedenken. Es kann offen bleiben, ob hier von einer Anhörung abgesehen werden konnte, weil eine sofortige Entscheidung zumindest im öffentlichen Interesse notwendig war (§ 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW). Denn der Antragsteller ist am 2. Juni 2017 in der Justizvollzugsanstalt D. zu der beabsichtigten Abschiebungsanordnung gemäß § 28 VwVfG NRW durch den Mitarbeiter N. der Zentralen Ausländerbehörde D. in der Justizvollzugsanstalt angehört worden. Der Ausländerbehörde war zuvor der Entwurf der Abschiebungsanordnung übermittelt worden. Im Rahmen der Anhörung erklärte der Antragsteller, er sei mit einer Abschiebung in die Türkei nicht einverstanden. Er gab an, dass "alles zwar schön geschrieben sei und er diesen Worten nicht widersprechen könne", seine Meinung jedoch feststehe. Dann verließ er die Anhörung.

10 b) Die Verfügung ist auch materiell nicht zu beanstanden. Die Abschiebungsanordnung ist gegenüber der Ausweisung nach §§ 53 ff. AufenthG eine selbstständige ausländerrechtliche Maßnahme der Gefahrenabwehr. Sie zielt auf die Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und/oder einer terroristischen Gefahr.

11 aa) Der Begriff der "Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland" ist - wie die wortgleiche Formulierung in § 54 Abs. 1 Nr. 2 und § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - nach der Rechtsprechung des Senats enger zu verstehen als der Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne des allgemeinem Polizeirechts. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umfasst die innere und äußere Sicherheit und schützt nach innen den Bestand und die Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Das schließt den Schutz vor Einwirkungen durch Gewalt und Drohungen mit Gewalt auf die Wahrnehmung staatlicher Funktionen ein (BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <120> = juris Rn. 17). In diesem Sinne richten sich auch Gewaltanschläge gegen Unbeteiligte zum Zwecke der Verbreitung allgemeiner Unsicherheit gegen die innere Sicherheit des Staates (BVerwG, Beschlüsse vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 15 und - 1 VR 2.17 - juris Rn. 17).

12 Der Begriff der "terroristischen Gefahr" knüpft an die neuartigen Bedrohungen an, die sich nach dem 11. September 2001 herausgebildet haben. Diese sind in ihrem Aktionsradius nicht territorial begrenzt und gefährden die Sicherheitsinteressen auch anderer Staaten. Im Aufenthaltsgesetz findet sich zwar keine Definition, was unter Terrorismus zu verstehen ist, die aufenthaltsrechtlichen Vorschriften zur Bekämpfung des Terrorismus setzen aber einen der Rechtsanwendung fähigen Begriff des Terrorismus voraus. Auch wenn bisher die Versuche, auf völkerrechtlicher Ebene eine allgemein anerkannte vertragliche Definition des Terrorismus zu entwickeln, nicht in vollem Umfang erfolgreich gewesen sind, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts doch im Grundsatz geklärt, unter welchen Voraussetzungen die - völkerrechtlich geächtete - Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln anzunehmen ist. Wesentliche Kriterien können insbesondere aus der Definition terroristischer Straftaten in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus vom 9. Dezember 1999 (BGBl. 2003 II S. 1923), aus der Definition terroristischer Straftaten auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft im Beschluss des Rates Nr. 2002/475/JI vom 13. Juni 2002 (ABl. L 164 S. 3) sowie dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates Nr. 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Dezember 2001 (ABl. L 344 S. 93) gewonnen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <129 f.>). Trotz einer gewissen definitorischen Unschärfe des Terrorismusbegriffs liegt nach der Rechtsprechung des Senats eine völkerrechtlich geächtete Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln jedenfalls dann vor, wenn politische Ziele unter Einsatz gemeingefährlicher Waffen oder durch Angriffe auf das Leben Unbeteiligter verfolgt werden (BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - 1 C 13.10 - BVerwGE 141, 100 Rn. 19 m.w.N.). Entsprechendes gilt bei der Verfolgung ideologischer Ziele. Eine terroristische Gefahr kann nicht nur von Organisationen, sondern auch von Einzelpersonen ausgehen, die nicht als Mitglieder oder Unterstützer in eine terroristische Organisation eingebunden sind oder in einer entsprechenden Beziehung zu einer solchen stehen. Erfasst sind grundsätzlich auch Zwischenstufen lose verkoppelter Netzwerke, (virtueller oder realer) Kommunikationszusammenhänge oder "Szeneeinbindungen", die auf die Realitätswahrnehmung einwirken und die Bereitschaft im Einzelfall zu wecken oder zu fördern geeignet sind (BVerwG, Beschlüsse vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 16 und - 1 VR 2.17 - juris Rn. 18).

13 Das Erfordernis einer "besonderen" Gefahr bei der ersten Alternative bezieht sich allein auf das Gewicht und die Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter sowie das Gewicht der befürchteten Tathandlungen des Betroffenen, nicht auf die zeitliche Eintrittswahrscheinlichkeit. In diesem Sinne muss die besondere Gefahr für die innere Sicherheit aufgrund der gleichen Eingriffsvoraussetzungen eine mit der terroristischen Gefahr vergleichbare Gefahrendimension erreichen. Dafür spricht auch die Regelung in § 11 Abs. 5 AufenthG, die die Abschiebungsanordnung in eine Reihe mit Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellt. Geht es um die Verhinderung schwerster Straftaten, durch die im "politischen/ideologischen Kampf" die Bevölkerung in Deutschland verunsichert und/oder staatliche Organe der Bundesrepublik Deutschland zu bestimmten Handlungen genötigt werden sollen, ist regelmäßig von einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und jedenfalls von einer terroristischen Gefahr auszugehen. Da es um die Verhinderung derartiger Straftaten geht, ist nicht erforderlich, dass mit deren Vorbereitung oder Ausführung in einer Weise begonnen wurde, die einen Straftatbestand erfüllt und etwa bereits zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen geführt hat (BVerwG, Beschlüsse vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 17 und - 1 VR 2.17 - juris Rn. 19).

14 Die für § 58a AufenthG erforderliche besondere Gefahrenlage muss sich aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ergeben. Aus Sinn und Zweck der Regelung ergibt sich, dass die Bedrohungssituation unmittelbar vom Ausländer ausgehen muss, in dessen Freiheitsrechte sie eingreift. Ungeachtet ihrer tatbestandlichen Verselbstständigung ähnelt die Abschiebungsanordnung in ihren Wirkungen einer für sofort vollziehbar erklärten Ausweisung nebst Abschiebungsandrohung. Zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung ist sie aber mit Verkürzungen im Verfahren und beim Rechtsschutz verbunden. Insbesondere ist die Abschiebungsanordnung kraft Gesetzes sofort vollziehbar (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 AufenthG). Da es keiner Abschiebungsandrohung bedarf (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 AufenthG), erübrigt sich auch die Bestimmung einer Frist zur freiwilligen Ausreise. Zuständig sind nicht die Ausländerbehörden, sondern grundsätzlich die obersten Landesbehörden (§ 58a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG). Die Zuständigkeit für den Erlass einer Abschiebungsanordnung begründet nach § 58a Abs. 3 Satz 3 AufenthG zugleich eine eigene Zuständigkeit für die Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG ohne Bindung an hierzu getroffene Feststellungen aus anderen Verfahren. Die gerichtliche Kontrolle einer Abschiebungsanordnung und ihrer Vollziehung unterliegt in erster und letzter Instanz dem Bundesverwaltungsgericht (§ 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO), ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes muss innerhalb einer Frist von sieben Tagen gestellt werden (§ 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Die mit dieser Ausgestaltung des Verfahrens verbundenen Abweichungen gegenüber einer Ausweisung lassen sich nur mit einer direkt vom Ausländer ausgehenden terroristischen und/oder dem gleichzustellenden Bedrohungssituation für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigen (BVerwG, Beschlüsse vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 18 und - 1 VR 2.17 - juris Rn. 20).

15 Die vom Ausländer ausgehende Bedrohung muss aber nicht bereits die Schwelle einer konkreten Gefahr im Sinne des polizeilichen Gefahrenabwehrrechts überschreiten, bei der bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des geschützten Rechtsguts zu erwarten ist. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut der Vorschrift, die zur Abwehr einer besonderen Gefahr lediglich eine auf Tatsachen gestützte Prognose verlangt. Auch Sinn und Zweck der Regelung sprechen angesichts des hohen Schutzguts und der vom Terrorismus ausgehenden neuartigen Bedrohungen für einen abgesenkten Gefahrenmaßstab, weil seit den Anschlägen von 11. September 2001 damit zu rechnen ist, dass ein Terroranschlag mit hohem Personenschaden ohne großen Vorbereitungsaufwand und mit Hilfe allgemein verfügbarer Mittel jederzeit und überall verwirklicht werden kann. Eine Abschiebungsanordnung ist daher schon dann möglich, wenn aufgrund konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte ein beachtliches Risiko dafür besteht, dass sich eine terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik in der Person des Ausländers jederzeit aktualisieren kann, sofern nicht eingeschritten wird (BVerwG, Beschlüsse vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 19 und - 1 VR 2.17 - juris Rn. 21).

16 Diese Auslegung steht trotz der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Einklang mit dem Grundgesetz. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht von vornherein für jede Art der Aufgabenwahrnehmung auf die Schaffung von Eingriffstatbeständen beschränkt, die dem tradierten sicherheitsrechtlichen Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren entsprechen. Vielmehr kann er die Grenzen für bestimmte Bereiche der Gefahrenabwehr mit dem Ziel schon der Straftatenverhinderung auch weiter ziehen, indem er die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs reduziert. Dann bedarf es aber zumindest einer hinreichend konkretisierten Gefahr in dem Sinne, dass tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr bestehen. Hierfür reichen allgemeine Erfahrungssätze nicht aus, vielmehr müssen bestimmte Tatsachen im Einzelfall die Prognose eines Geschehens tragen, das zu einer zurechenbaren Verletzung gewichtiger Schutzgüter führt. Eine hinreichend konkretisierte Gefahr in diesem Sinne kann schon bestehen, wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt, aber bereits bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen. In Bezug auf terroristische Straftaten, die oft von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, kann dies schon dann der Fall sein, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird. Angesichts der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist eine Verlagerung der Eingriffsschwelle in das Vorfeldstadium dagegen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, wenn nur relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Gefahren bestehen, etwa allein die Erkenntnis, dass sich eine Person zu einem fundamentalistischen Religionsverständnis hingezogen fühlt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. Mai 2017 - 1 VR 4.17 - juris Rn. 20 unter Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09 u.a. - BVerfGE 141, 220 Rn. 112 f.). Allerdings kann in Fällen, in denen sich eine Person in hohem Maße mit einer militanten, gewaltbereiten Auslegung des Islam identifiziert, den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung dieser radikal-islamischen Auffassung für gerechtfertigt und die Teilnahme am sogenannten "Jihad" als verpflichtend ansieht, von einer hinreichend konkreten Gefahr auszugehen sein, dass diese Person terroristische Straftaten begeht.

17 Für diese "Gefahrenprognose" bedarf es - wie bei jeder Prognose - zunächst einer hinreichend zuverlässigen Tatsachengrundlage. Der Hinweis auf eine auf Tatsachen gestützte Prognose dient der Klarstellung, dass ein bloßer (Gefahren-)Verdacht oder Vermutungen bzw. Spekulationen nicht ausreichen. Zugleich definiert dieser Hinweis einen eigenen Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Abweichend von dem sonst im Gefahrenabwehrrecht geltenden Prognosemaßstab der hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit mit seinem nach Art und Ausmaß des zu erwartenden Schadens differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab muss für ein Einschreiten nach § 58a AufenthG eine bestimmte Entwicklung nicht wahrscheinlicher sein als eine andere. Vielmehr genügt angesichts der besonderen Gefahrenlage, der § 58a AufenthG durch die tatbestandliche Verselbstständigung begegnen soll, dass sich aus den festgestellten Tatsachen ein beachtliches Risiko dafür ergibt, dass die von einem Ausländer ausgehende Bedrohungssituation sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik umschlagen kann (BVerwG, Beschlüsse vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 20 und - 1 VR 2.17 - juris Rn. 22).

18 Dieses beachtliche Eintrittsrisiko kann sich auch aus Umständen ergeben, denen (noch) keine strafrechtliche Relevanz zukommt, etwa wenn ein Ausländer fest entschlossen ist, in Deutschland einen mit niedrigem Vorbereitungsaufwand möglichen schweren Anschlag zu verüben, auch wenn er noch nicht mit konkreten Vorbereitungs- oder Ausführungshandlungen begonnen hat und die näheren Tatumstände nach Ort, Zeitpunkt, Tatmittel und Angriffsziel noch nicht feststehen. Eine hinreichende Bedrohungssituation kann sich aber auch aus anderen Umständen ergeben. In jedem Fall bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Ausländers, seines bisherigen Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren oder geäußerten inneren Einstellung, seiner Verbindungen zu anderen Personen und Gruppierungen, von denen eine terroristische Gefahr und/oder eine Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik ausgeht sowie sonstiger Umstände, die geeignet sind, den Ausländer in seinem gefahrträchtigen Denken oder Handeln zu belassen oder zu bekräftigen. Dabei kann sich - abhängig von den Umständen des Einzelfalls - in der Gesamtschau ein beachtliches Risiko, das ohne ein Einschreiten jederzeit in eine konkrete Gefahr umschlagen kann, auch schon daraus ergeben, dass sich ein im Grundsatz gewaltbereiter und auf Identitätssuche befindlicher Ausländer in besonderem Maße mit dem radikal-extremistischen Islamismus in seinen verschiedenen Ausprägungen bis hin zum ausschließlich auf Gewalt setzenden jihadistischen Islamismus identifiziert, über enge Kontakte zu gleichgesinnten, möglicherweise bereits anschlagsbereiten Personen verfügt und sich mit diesen in "religiösen" Fragen regelmäßig austauscht (BVerwG, Beschlüsse vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 21 und - 1 VR 2.17 - juris Rn. 23).

19 Der obersten Landesbehörde steht bei der für eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erforderlichen Gefahrenprognose aber keine Einschätzungsprärogative zu. Als Teil der Exekutive ist sie beim Erlass einer Abschiebungsanordnung - wie jede andere staatliche Stelle - an Recht und Gesetz, insbesondere an die Grundrechte, gebunden (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG) und unterliegt ihr Handeln nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG der vollen gerichtlichen Kontrolle. Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen für einen der gerichtlichen Überprüfung entzogenen behördlichen Beurteilungsspielraum. Auch wenn die im Rahmen des § 58a AufenthG erforderliche Prognose besondere Kenntnisse und Erfahrungswissen erfordert, ist sie nicht derart außergewöhnlich und von einem bestimmten Fachwissen abhängig, über das nur oberste (Landes-)Behörden verfügen. Vergleichbare Aufklärungsschwierigkeiten treten auch in anderen Zusammenhängen auf. Der hohe Rang der geschützten Rechtsgüter und die Eilbedürftigkeit der Entscheidung erfordern ebenfalls keine Einschätzungsprärogative der Behörde (BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 22; BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - juris Rn. 42).

20 bb) In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass vom Antragsteller derzeit aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ein beachtliches Risiko im Sinne des § 58a AufenthG ausgeht, auch wenn den Sicherheitsbehörden kein konkreter Plan des Antragstellers zur Ausführung einer terroristischen Gewalttat bekannt geworden ist. Es besteht ein zeitlich und sachlich beachtliches Risiko, dass er einen terroristischen Anschlag begeht oder sich an einem solchen beteiligt, bei dem Unbeteiligte ums Leben kämen.

21 Für die Beurteilung des Senats sind vor allem folgende Umstände maßgeblich, die sich aus der nicht mit Blattzahlen versehenen Ausländerakte des Antragstellers (AA), der ebenfalls nicht mit Blattzahlen versehenen Akte des Ministeriums für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen (MI), den beigezogenen Strafakten sowie dem Vorbringen des Antragstellers und des Antragsgegners im vorliegenden Verfahren ergeben:

22 (1) Nach den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden hat sich der Antragsteller seit 2013 zunehmend islamistisch radikalisiert. Er hat sich seit 2013 intensiv an der Koranverteilungsaktion der mittlerweile verbotenen Vereinigung "Die wahre Religion" in der B. Innenstadt beteiligt. Diese wurde im Oktober 2016 durch das Bundesministerium des Innern verboten und aufgelöst, weil sie eine Ideologie vertreten hat, die die verfassungsmäßige Ordnung ersatzlos verdrängte, den bewaffneten Jihad befürwortete und ein bundesweit einzigartiges Rekrutierungs- und Sammelbecken für jihadistische Islamisten sowie für Personen darstellte, die aus jihadistisch-islamistischer Motivation nach Syrien bzw. in den Irak ausreisen wollten. Bereits im August 2015 ist der Antragsteller von der Gruppe, mit der er die Koran-Verteilaktionen durchgeführt hatte, ausgeschlossen worden. Als Grund wurden Handgreiflichkeiten gegenüber (augenscheinlich jesidischstämmigen) Kritikern dieser Aktion angegeben. Auch hat sich der Antragsteller bei Mitgliedern der Koranverteilungsgruppe nach dem "IS" und der AI-Nusra Front erkundigt. Man hat ihm aber davon abgeraten, nach Syrien zu gehen und sich dort einer Gruppe anzuschließen.

23 Nach Angaben seines Vaters gegenüber der Polizei hat sich der Antragsteller im zeitlichen Zusammenhang mit dem Ablegen des Abiturs im April 2014 zunehmend religiösen Themen zugewandt, das vorher professionell betriebene Fußballspielen aufgegeben, das geplante Informatikstudium nicht begonnen und sich mit islamistischen Predigern wie V. Od. und S. Y. beschäftigt. Er hat die arabische Moschee in P. in der S.straße besucht, wo es Besucher gab, die erkennbar salafistisch ausgerichtet waren. Er begann, arabisch zu lernen. Der Antragsteller heiratete dann am 28. November 2015 nach islamischem Ritus. An der Hochzeitsfeier nahmen vier Personen teil, die wegen ihrer salafistischen Einstellung und Einwirkung auf den Antragsteller von dessen Vater für gefährlich gehalten wurden. Als ein Wortführer ist dort D. J. aufgetreten, der nach Erkenntnissen des Landesverfassungsschutzes NRW seit vielen Jahren in der salafistisch-jihadistischen Szene aktiv ist. Es besteht der Verdacht, dass J. junge Männer anwirbt, indoktriniert und sie von einer Ausreise nach Syrien/Irak überzeugt, um dort für den sog. "Islamischen Staat (IS)" tätig zu werden. In der Vergangenheit sind bereits mehrere männliche Personen erfolgreich angeworben worden. Zumindest in einem Fall habe sich ein angeworbener junger Mann in den Irak begeben und dort ein Selbstmordattentat verübt, bei dem zahlreiche Menschen getötet oder verletzt wurden.

24 Der Antragsteller entzog sich nach der Hochzeit zunehmend dem Einfluss seiner eher westlich orientierten Eltern, die ihn nicht mehr erreichen konnten. Der Vater wandte sich wenige Tage nach der Hochzeit wegen seiner Sorgen an die Polizei in B. Im Herbst des Jahres 2016 wurde dem Antragsteller aufgrund seiner fundamentalen religiösen Einstellung von Seiten seines Ausbildungsbetriebes (Stadtwerke B.) gekündigt. Sein Vater berichtete dann weiter, dass aus dem Zimmer des Antragstellers in der elterlichen Wohnung fortlaufend religiöse Kampfgesänge (Naschids) zu hören waren und dass der Antragsteller seinen Vater als Ungläubigen (Kuffar) bezeichnete. Zudem ist der Antragsteller mehrfach nach H. zum Deutschsprachigen Islamkreis e.V. gereist, in welchem D. Z., ein bekannter islamischer Hassprediger, predigte. Gegenüber seiner Mutter ist der Antragsteller auch handgreiflich geworden, was einen Polizeieinsatz zur Folge hatte. Die Verletzungen der Mutter unterhalb des linken Auges sind kriminalpolizeilich dokumentiert (BA 12, Strafanzeige vom 18. Dezember 2016 Bl. 11). Einen Baseballschläger habe er in der Hand gehalten, jedoch nicht eingesetzt. Ende Januar 2017 hat er sich im Bereich A. mit dem nigerianischen Staatsangehörigen F. H. getroffen, der als islamistischer Gefährder eingestuft war und wenige Monate später aufgrund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG, die mittlerweile rechtskräftig ist, abgeschoben wurde.

25 Am 4. November 2016 wurde sein Sohn L. geboren. Der Antragsteller hat im Rahmen des Besuchs seiner Ehefrau auf der Entbindungsstation des Klinikums D. am 6. November 2016 gegenüber einer Jesidin gestisch das Durchschneiden ihrer Kehle angedeutet. Aus den polizeilichen Ermittlungen ergibt sich, dass Frau V. R., eine türkische Jesidin, gegenüber mehreren Zeuginnen angegeben hat, dass der Kläger ihr gegenüber auf dem Flur der Entbindungsstation die Kopfabschneide-Geste gemacht hat. Zuvor war es zu Auseinandersetzungen zwischen der jesidischen Familie R. und dem Kläger gekommen, weil Familie R. Angst vor dem Kläger hatte, den sie aufgrund seines Äußeren dem "IS" zurechnete und als "Daisch" bezeichnete. Wie die Zeuginnen K. R. (entbindende Schwiegertochter) und U. Ol. (Patientin im gleichen Krankenzimmer) bekundeten, berichtete ihnen Frau V. R. davon, dass der Kläger ihr gegenüber dreimal die Kopfabschneide-Geste gemacht habe, indem er sich mit einem Finger quer über die Kehle strich. Die Zeugin K. R., die Schwiegertochter der V. R., hat nach ihrer Aussage das schnalzende Geräusch gehört, das der Kläger bei seiner Geste verwendete (Schnalzlaut mit der Zunge). Allerdings hat der Kläger vor der Tür des Krankenzimmers gestanden, so dass die frisch entbundene K. R. aus dem Krankenzimmer heraus die Geste nicht hat sehen, sondern nur das Geräusch hat vernehmen können. Die Zeugin K. R. bekundete aber, dass Frau V. R. nach dem Vorfall am ganzen Körper gezittert habe, richtig rot im Gesicht geworden sei und geweint habe. Ihre Tochter D. R. erschien wegen des Vorfalls in den späten Abendstunden des 6. November 2016 auf der Polizeiwache D. und schilderte den Sachverhalt. Der diensthabende Polizeibeamte suchte noch am Abend die Familie auf und verstand den Vorfall als konkrete Morddrohung (Zeichen für Enthauptung). Die Familie hatte allerdings große Angst und wollte deshalb keine Strafanzeige erstatten. Dies ist auch deshalb gut nachvollziehbar, weil Jesiden in Syrien und im Irak in großem Umfang Opfer von Misshandlungen durch den "IS" geworden sind.

26 Die Zeugenvernehmung der Frau V. R. am 8. November 2016 musste wegen dieser Angst abgebrochen werden. Nach dem polizeilichen Protokoll wiederholte Frau V. R. mehrfach mit ihrer Hand die Geste des Kopfabschneidens und gab zur Kenntnis, dass sie seit diesem Vorfall große Angst habe. Die Tochter D. R. gab an, dass ihre Mutter seit zwei Tagen kaum geschlafen habe. Außerdem habe ihre Mutter seit dem Vorfall aus Angst nicht mehr die Wohnung verlassen. Frau V. R. äußerte die Sorge, dass der Tatverdächtige oder andere Angehörige der Terrororganisation "Islamischer Staat" sie oder Mitglieder der Familie identifizieren und töten könnte. Trotz längerer Erörterung sei diese Angst der Geschädigten nicht zu nehmen gewesen. Daher wurde das Strafverfahren wegen Bedrohung im Ergebnis eingestellt.

27 Der Kläger bestätigte im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung am 27. Februar 2017 (BA 9 und 16 Bl. 50 - 55), dass es eine verbale Auseinandersetzung mit den jesidischen Frauen der Familie R. auf der Entbindungsstation gegeben und Frau V. R. behauptet habe, er habe sie bedroht. Er habe sich zwar auf dem Flur befunden, Frau V. R. habe auf ihn eingeredet, er glaube nicht, überhaupt ein Wort geantwortet zu haben. Auf die Frage, ob er sich gegenüber Frau R. dreimal mit dem Finger quer über die Kehle gestrichen habe, antworte der Kläger zweimal ausweichend, dazu habe er sich schon geäußert.

28 Der Senat geht bei der Würdigung der Aussagen davon aus, dass Frau V. R. am 6. November 2016 tatsächlich von dem Kläger mit der dreimaligen Geste des Kopfabschneidens bedroht worden ist. Nur so sind ihre spontanen Vorwürfe zu erklären, die sie den Zeuginnen im Krankenzimmer schilderte. Ohne den Vorfall lassen sich auch ihre ausgeprägten Angstzustände mit körperlichen Folgeerscheinungen nicht erklären, denen sie seit dem Vorfall und noch Tage danach ausgesetzt war. Auch der Umstand, dass sich die Tochter noch am späten Abend des Tages auf die Polizeistation begeben hatte, um den Vorfall zu Protokoll zu erklären, lässt sich nur so erklären. Das Verhalten ist für den Kläger auch nicht wesensfremd, war er doch schon im August 2015 von der Gruppe, mit der er die Koran-Verteilaktionen durchgeführt hatte, wegen Handgreiflichkeiten gegenüber (augenscheinlich jesidischstämmigen) Kritikern dieser Aktion ausgeschlossen worden.

29 Für die Einschätzung der vom Antragsteller ausgehenden Gefahr ist weiterhin sein Ausreiseversuch nach Ägypten im März 2017 von Bedeutung. Im November 2016 meldete sich der Vater des Antragstellers bei der B. Kriminalinspektion Polizeilicher Staatsschutz (KIST) und gab an, dass der Antragsteller gegenüber seiner nach islamischem Ritus angetrauten Ehefrau geäußert habe, nach Ägypten reisen zu wollen, um dort in einer Moschee in Kairo den Islam zu studieren. Hierzu habe er Kontakt zu einem Imam namens P. Do. Dg. aufnehmen wollen.

30 Der Antragsteller hat Ende November 2016, unter Mitnahme aller persönlichen Gegenstände einschließlich seines Reisepasses, sein Elternhaus verlassen. Im Februar 2017 beantragte er einen Kinderausweis für seinen Sohn L. und gab an, eine Reise nach Ägypten zu planen. In diesem Zusammenhang wurde ein ägyptischer Visumseintrag in seinem türkischen Pass festgestellt. Im Rahmen einer Gefährderansprache durch den Staatsschutz des PP B. stritt der Antragsteller Ausreiseabsichten in ein Kriegsgebiet zum Anschluss an den "Jihad" vehement ab. Vielmehr wolle er mit seiner Frau und seinem Sohn nach Kairo reisen, um dort den Islam zu studieren. Vorher wolle er, ebenfalls in Ägypten, die arabische Sprache intensiv lernen, um eine Grundlage für das Studium zu schaffen. In der Folgezeit kam es zur Trennung des Antragstellers von seiner Frau, die seitdem das alleinige Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn L. ausübt.

31 Am 21. März 2017 reiste der Antragsteller von F. nach Kairo mit Zwischenstopp in Athen. Auf Befragen gab er an, dort für die Dauer von etwa einem Monat Freunde besuchen zu wollen. Er hatte ein Gepäckstück aufgegeben. Am Morgen des 22. März 2017 wurde er in Kairo beim Einreiseversuch aufgrund seines Erscheinungsbildes kontrolliert, worauf ihm die Einreise nach Ägypten verweigert wurde. Befragt durch den ägyptischen Staatssicherheitsdienst NSS gab er an, Urlaub in Kairo machen und bei einem Freund namens P. De. Dü. wohnen zu wollen. Nach Erkenntnissen der ägyptischen Behörden steht Herr De. Dü. mit relevanten Personen aus dem terroristischen Milieu in Ägypten in Kontakt. Mittlerweile lebt Herr De. Dü. wieder in Deutschland (Göttingen, BA 8 Bl. 479), hatte aber in der Zeit vom 1. September 2014 bis zum 1. Juni 2016 in Kairo studiert (BA 8 Bl. 480).

32 Nachdem dem Antragsteller die Einreise nach Ägypten nicht gestattet worden war, flog er nach Deutschland zurück. Bei der am Flughafen Frankfurt am Main durchgeführten Untersuchung seines Gepäcks wurden rund 6 000 € Bargeld, militärisch anmutende Tarnbekleidung, diverse Kontoauszüge, Western-Union Überweisungen, Gegenstände, die eine Sympathie zum sogenannten "Islamischen Staat" vermuten lassen sowie die Geburtsurkunde des Antragstellers gefunden. Zu den mitgeführten Gegenständen gehörte eine Kopfbedeckung mit einer Symbolik des "Islamischen Staates". Bei der Sichtung seines Mobiltelefons durch Polizeikräfte wurden zahlreiche Propagandavideos des "Islamischen Staates", Bilder von Koranverteilungen in London sowie Bilder mehrerer unbekannter Personen mit salafistischem Erscheinungsbild entdeckt. In der Folgezeit bis zur Inhaftierung des Antragstellers wurden weitere Videodateien auf seinem Mobiltelefon ausgewertet. Sie zeigen nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen u.a. Kriegshandlungen, mutmaßlich des "IS", die in verherrlichender Weise zusammengeschnitten wurden. Darunter befinden sich auffallend oft Szenen mit Selbstmordattentätern, die im Film als Helden dargestellt werden und die für den sogenannten "IS" ihr Leben opfern. In diversen Filmen werden brutalste Hinrichtungen gezeigt, Enthauptungen, Erschießungen, Verbrennen von lebenden Menschen sowie regelrechte "Schlachtungen" von Menschen, denen die Kehle aufgeschnitten wird, um sie anschließend an den Füßen hängend ausbluten zu lassen. Bei einigen Hinrichtungsszenen waren erkennbar Kinder bei dem Geschehen zugegen.

33 Gegenüber Beamten des PP B. (u.a. KHK V.) hat der Antragsteller im Zusammenhang mit der Durchsuchung seines Gepäcks am Flughafen unter anderem folgende Äußerungen gemacht (BA 6 Bl. 76 ff.):
"Der Islam steht über allem, über meiner Familie und sogar meinen Eltern."
„Ich möchte als richtiger Muslim sterben und dafür werde ich alles tun."
"Glaubt ihr, dass ihr uns auf unserem Weg aufhalten könnt mit dem, was ihr hier macht? Wir werden immer mehr."
"Was sich nicht nach dem Islam richtet, gilt nicht für mich."

34 Auf die Frage, ob er hinter der Al-Nusra-Front und dem sogenannten "Islamischen Staat" stehe, hat er gegenüber dem Polizeibeamten V. geantwortet "eintausendprozentig ja" (BA 6 Bl. 77). Bei seiner richterlichen Anhörung am 29. März 2017 stritt der Antragsteller diese Äußerung allerdings ab (BA 6 Bl. 106). Auf die Frage, ob er beabsichtigt habe, wieder nach Deutschland zurückzukehren, hat er geantwortet „eintausendprozentig nein“ (BA 6 Bl. 77). Im weiteren Verlauf des Gesprächs äußerte er immer wieder Hass gegenüber Kurden. Es gäbe zu viele in Deutschland und die würden den Islam bekämpfen.

35 Während der Rückfahrt nach Nordrhein-Westfalen mit dem Zug hat der Antragsteller am Bahnhof K.-D. gegenüber den Beamten weiterhin erklärt, dass der Westen den muslimischen Ländern mit Waffen die Demokratie aufzwingen wolle und sich damit gegen den Islam stelle. Das würden sich die Muslime nicht gefallen lassen. Man müsse also verstehen, dass ein Muslim etwas machen müsse, wenn er sieht, dass in Syrien Kinder durch Bomben getötet würden. Man müsse doch verstehen, wenn auch die Muslime mal etwas in Amerika oder Deutschland machten.

36 Aus den gegenüber den Polizeibeamten nach Rückkehr aus Ägypten getätigten Äußerungen des Antragstellers ergibt sich seine uneingeschränkte Identifikation mit dem "IS" und dem gewaltsamen "Jihad" im Nahen Osten sowie mit dessen Anschlägen in Europa. Der Senat hat keinen Anlass, an den detailreichen Angaben des KHK V. in dessen Vermerk vom 28. März 2017 (BA 6 Bl. 76 ff.) zu zweifeln. Die Glaubwürdigkeit der Angaben "der Polizeibeamten der KIST des PP B.", die der Bevollmächtigte in seinem Schriftsatz vom 18. September 2017 - korrigiert im Schriftsatz vom 19. September 2017 - in Zweifel zieht, wird nicht dadurch erschüttert, dass KHK V. Äußerungen des Antragstellers wiedergibt, die sich nachteilig für ihn auswirken. Die in den Äußerungen zum Ausdruck kommende Identifikation des Antragstellers mit dem "IS" ergibt sich für den Senat zudem aus den auf seinem Mobiltelefon sichergestellten Propagandavideos, den in der elterlichen Wohnung gehörten religiösen Kampfgesängen und weiteren bereits aufgeführten Tatsachen sowie aus den bei seinem Ausreiseversuch mitgeführten Kleidungsstücken, u.a. aus der Kopfbedeckung mit einer Symbolik des "Islamischen Staates". Aus den Chat-Protokollen ergibt sich jedenfalls nichts Gegenteiliges. Das Bestreiten des Antragstellers wertet der Senat demgegenüber als bloße Schutzbehauptung, um strafrechtlichen und ausländerrechtlichen Maßnahmen zu entgehen.

37 Offen ist hingegen für den Senat nach derzeitigem Erkenntnisstand, ob der Antragsteller ausschließlich nach Ägypten oder von dort auch weiter ins syrisch-irakische Kriegsgebiet reisen wollte. Zwar können die Art der mitgeführten Kleidung und einige Äußerungen des Antragstellers dahin ausgelegt werden, dass eine Weiterreise ins Kriegsgebiet beabsichtigt war. So soll er bei seiner Vernehmung in F. im Anschluss an die zollrechtliche Untersuchung gesagt haben, er sei nach Ägypten ausgereist, weil Freunde von ihm aus D. in die Türkei ausgereist seien und dort zurückgewiesen worden waren. Er habe sich daher für eine Ausreise nach Ägypten entschieden (BA 6 Bl. 77 f.). Bei seiner richterlichen Anhörung am 29. März 2017 gab der Antragsteller aber an, diese Äußerung sei aus dem Zusammenhang gerissen (BA 6 Bl. 106). Andererseits sah er auch Ägypten unter der Militärregierung nicht als gottgefälligen Staat an (BA 6 Bl. 74). Der Haftbefehl des Amtsgerichts Dortmund vom 28. März 2017 wird unter anderem darauf gestützt, es sei davon auszugehen, dass der Antragsteller von Ägypten aus den Weg über die Sinai-Halbinsel in das Krisengebiet habe nehmen wollen, um eine Zurückweisung in der Türkei zu vermeiden (BA 6 Bl. 100). Bei seiner richterlichen Vernehmung am 31. März 2017 stritt der Antragsteller aber ab, eine Weiterreise in das Kampfgebiet geplant zu haben (BA 6 Bl. 161). Für eine Ausreise allein nach Ägypten sprechen die vom Mobiltelefon des Antragstellers ausgelesenen Telefonate und Chats. Diese sprechen eher dafür, dass er tatsächlich in Kairo die arabische Sprache und islamische Theologie studieren wollte, wie dies sein "Mentor" P. De. Dü. getan hatte, der in der Zeit vom 1. September 2014 bis zum 1. Juni 2016 in Kairo studiert hatte und dann wieder nach Deutschland zurückgekehrt war. Entsprechend hatte sich der Antragsteller auch gegenüber seinem Vater und der Mutter seines Sohnes geäußert.

38 (2) Angesichts der vorstehend festgestellten Tatsachen, die sich auf Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden und Zeugenaussagen in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren stützen, hält es der Senat hier für hinreichend wahrscheinlich, dass der Antragsteller seinen über einen langen Zeitraum gebildeten und bekundeten Überzeugungen auch Taten folgen lässt und einen - ohne großen Vorbereitungsaufwand möglichen - Terroranschlag in Deutschland begeht. Die von ihm ausgehende Bedrohungssituation kann sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umschlagen.

39 Die Gesamtschau der den Antragsteller betreffenden Erkenntnisse ergibt, dass es sich bei ihm um eine Person handelt, die der radikal-islamistischen Szene salafistischer Ausrichtung angehört, sich uneingeschränkt mit dem "IS" identifiziert und sich für dessen Ziele einsetzt. Er kleidet sich in einer Weise, die ihn für außenstehende Dritte, wie die jesidische Familie R., als "IS"-Anhänger (Daesch) ausweist, besitzt eine Kopfbedeckung mit "IS"-Symbolik, hörte in seinem Zimmer in der elterlichen Wohnung fortlaufend religiöse Kampfgesänge (Naschids) und erklärte gegenüber den Polizeibeamten am F. Flughafen, er identifiziere sich "eintausendprozentig" mit dem "IS". Er hat sich von seinem säkularen Umfeld vollständig isoliert, bezeichnet seinen Vater als Ungläubigen (Kuffar), ist gegenüber seiner Mutter handgreiflich geworden, gab seinen zuvor professionell betriebenen Sport auf, nahm nach dem Abitur kein Studium auf, musste die Lehre bei den Stadtwerken wegen seines islamistischen Erscheinungsbildes abbrechen. Stattdessen bewegt er sich in radikal-islamistischen Kreisen und pflegt Kontakt zu terroristischen Gefährdern wie dem nigerianischen Staatsangehörigen F. H. sowie D. J., der nach Erkenntnissen des Landesverfassungsschutzes NRW seit vielen Jahren in der salafistisch-jihadistischen Szene aktiv sein soll und verdächtigt wird, junge Männer anzuwerben, zu indoktrinieren und sie von einer Ausreise nach Syrien/Irak zu überzeugen, um dort für den "Islamischen Staat (IS)" tätig zu werden. Er hatte sich intensiv an der Koranverteilungsaktion der mittlerweile verbotenen Vereinigung "Die wahre Religion" in der B. Innenstadt beteiligt, die im Oktober 2016 verboten wurde, u.a. weil sie den bewaffneten "Jihad" befürwortete und ein bundesweit einzigartiges Rekrutierungs- und Sammelbecken für jihadistische Islamisten sowie für Personen darstellte, die aus jihadistisch-islamistischer Motivation nach Syrien bzw. in den Irak ausreisen wollten.

40 In der Gesamtschau ist hier nicht lediglich vom Vorliegen einer verfestigten, innerlich unbedingt verpflichtenden extremen ideologischen Überzeugung bei dem Antragsteller auszugehen, sondern von einer in relevantem Umfang erhöhten Bereitschaft, seine uneingeschränkte Identifikation mit dem "IS" durch gewaltsame oder terroristische Methoden in die Tat umzusetzen. Der "IS" erwartet von jedem seiner Anhänger die Mitwirkung am "Jihad", eine Trennung in steuernde "Paten" und ausführende Attentäter gibt es beim "IS" nicht. Zudem äußerte der Antragsteller gegenüber der Polizei sein Verständnis dafür, dass ein Muslim in Europa oder Amerika "etwas machen müsse", wenn er sehe, dass in Syrien Kinder durch Bomben getötet würden. Der Antragsteller hat ferner der Jesidin V. R. mit eindeutiger Zeichensprache die Enthauptung angedroht, eine Tötung wie sie auf "IS"-Videos in brutaler Weise dargestellt wird, von denen der Antragsteller zahlreiche auf seinem Mobilfunkgerät verfügbar gehalten hat. Dass er vor Gewaltakten nicht zurückschreckt, hat er durch die begangene Körperverletzung gegenüber seiner eigenen Mutter gezeigt.

41 Das Risiko eines terroristischen Anschlags durch den Antragsteller ist auch nicht durch dessen Bindung an seine ihm nach islamischem Ritus angetraute Lebensgefährtin, seinen knapp einjährigen Sohn L. oder sonstige Umstände verringert. Seine Lebensgefährtin hat sich von ihm getrennt und übt das alleinige Sorgerecht für den Sohn aus. Zudem ist nicht erkennbar und wird auch nicht behauptet, dass die Lebensgefährtin einen mäßigenden Einfluss auf ihn hat. Ein mäßigender Einfluss von den (nicht radikalisierten) Mitgliedern der Familie des Antragstellers ist ebenfalls nicht zu erwarten, da er sich von diesen bewusst distanziert hat.

42 cc) Selbst wenn man unterstellt, dass die Abschiebungsanordnung eine dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98) unterfallende Rückkehrentscheidung darstellt, ist sie mit den sich hieraus ergebenden unionsrechtlichen Vorgaben zu vereinbaren.

43 Insbesondere musste dem Antragsteller keine Frist zur freiwilligen Ausreise eingeräumt werden, da von ihm eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und die nationale Sicherheit ausgeht (Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG). Der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung steht bei unterstellter Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115/EG auch nicht entgegen, dass der Antragsgegner unter Ziffer 4. des angegriffenen Bescheids ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet hat (vgl. hierzu die Ausführungen des Senats im Verweisungsbeschluss vom 22. August 2017 - 1 A 10.17 ). Die Regelung in § 11 Abs. 1, 2 und 5 AufenthG, wonach bei jeder Abschiebung kraft Gesetzes ein Einreise- und Aufenthaltsverbot eintritt, das von der Ausländerbehörde beim Vollzug einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG nicht befristet werden darf, solange die oberste Landesbehörde nicht im Einzelfall eine Ausnahme zulässt, stünde dann zwar nicht im Einklang mit Art. 11 Abs. 2 Richtlinie 2008/115/EG. Denn danach bedarf ein mit einer Rückkehrentscheidung einhergehendes Einreiseverbot immer einer Einzelfallentscheidung zu seiner Dauer. Diese unionsrechtliche Vorgabe hätte im Falle ihrer Anwendbarkeit zur Folge, dass bei einer Abschiebungsanordnung allein durch eine Abschiebung ohne eine solche Einzelfallentscheidung kein Einreise- und Aufenthaltsverbot entstehen würde. Auch eine fehlerhafte behördliche Entscheidung zur Dauer des Einreiseverbots würde indes nicht zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung führen, da es sich hierbei um eine eigenständige und selbstständig anfechtbare Entscheidung zu den Rechtsfolgen einer vollzogenen Abschiebungsanordnung handelt. Die hiermit verbundene Frage des nationalen und des Unionsrechts können hier mithin offenbleiben.

44 dd) Die Abschiebungsanordnung ist auch nicht ermessensfehlerhaft und genügt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner dem öffentlichen Interesse an der Abwehr der vom Antragsteller ausgehenden terroristischen Gefahr ein höheres Gewicht beimisst als dessen Interesse am Verbleib in Deutschland. Der Schutz der Allgemeinheit vor Terroranschlägen gehört zu den wichtigsten öffentlichen Aufgaben und kann auch sehr weitreichende Eingriffe in die Rechte Einzelner rechtfertigen (BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 1973 - 1 BvR 23/73, 1 BvR 155/73 - BVerfGE 35, 382 <402 f.>; Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09 u.a. - BVerfGE 141, 220 Rn. 96, 132).

45 Der Antragsgegner hat bei seiner Entscheidung gewürdigt, dass der Antragsteller seit seiner Geburt in Deutschland lebt, im Besitz einer Niederlassungserlaubnis und assoziationsberechtigt nach dem Abkommen EWG-Türkei ist, indem er sich auf Art. 7 ARB 1/80 berufen kann. Damit kann der Aufenthalt des Antragstellers nur unter den Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 AufenthG beendet werden, d.h. sein persönliches Verhalten muss gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Aufenthaltsbeendigung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 [ECLI:​EU:​C:​2011:​809], Ziebell - NVwZ 2012, 422 Rn. 80 ff.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor, da der vom Antragsteller ausgehenden Gefahr eines jederzeit möglichen terroristischen Anschlags nicht auf andere Weise gleich wirksam begegnet werden kann wie durch die Beendigung des Aufenthalts. Das nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu erfüllende Erfordernis einer gegenwärtigen "konkreten Gefährdung" der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/98 - Rn. 84) bedeutet, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht auf vergangenes strafbares Verhalten gestützt werden dürfen, sondern gegenwärtig noch eine konkrete Bedrohung für hochrangige Rechtsgüter ausgehen muss. Eine "konkrete Gefahr" im Sinne des deutschen Polizeirechts wird damit nicht gefordert, vielmehr reicht eine terroristische Gefahr im Sinne von § 58a Abs. 1 AufenthG aus, die gegenwärtig ist und sich jederzeit realisieren kann.

46 Bei der Ermessensentscheidung hat der Antragsgegner auch gewürdigt, dass der Antragsteller in Deutschland zur Schule gegangen ist und die deutsche Sprache beherrscht. Außerdem leben seine Eltern und sein Sohn L. in Deutschland, der Sohn allerdings getrennt von ihm bei der das alleinige Sorgerecht ausübenden Mutter. Zudem gelang dem Antragsteller allenfalls eine partielle Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse, da er auf Grund seiner ideologischen Einstellung die hier gültige Gesellschaftsordnung und die staatlichen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland ablehnt und mit Hilfe der von ihm vertretenen islamistischen Weltanschauung zu überwinden trachtet. Seine sozialen Kontakte beschränken sich auf Personen, die ebenfalls Teil der radikal-islamistischen Szene sind; mit dem Teil seiner Familie, der seine radikal-islamistischen Einstellung ablehnt, hat der Antragsteller gebrochen. Auch ist dem Antragsteller eine Integration in die Lebensverhältnisse seines Herkunftslandes zumutbar, zumal er über grundlegende türkische Sprachkenntnisse verfügt.

47 2. Dem Vollzug der Abschiebungsanordnung stehen auch keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote entgegen. Das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG hindert den Erlass einer Abschiebungsanordnung nicht, es führt aber dazu, dass der Betroffene nicht in diesen Staat abgeschoben werden darf (§ 58a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 59 Abs. 2 und 3 AufenthG in entsprechender Anwendung). Aus diesem Grund hat die zuständige Behörde beim Erlass einer Abschiebungsanordnung in eigener Verantwortung zu prüfen, ob der beabsichtigten Abschiebung ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG entgegensteht. Dies umfasst sowohl die Frage, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz als Flüchtling (§ 60 Abs. 1 AufenthG) oder als subsidiär Schutzberechtigter (§ 60 Abs. 2 AufenthG) vorliegen, als auch die Prüfung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.

48 Für eine Verfolgung des Antragstellers wegen dessen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG liegen keine Anhaltspunkte vor. Eine mögliche Bestrafung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder terroristischer Betätigung stellt keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG dar. Der Antragsteller selbst trägt eine solche Gefahr im Übrigen auch selbst nicht vor.

49 Der Antragsteller hält es nicht für ausgeschlossen, dass ihm in der Türkei die Haft droht. Die türkischen Sicherheitsbehörden und die türkische Justiz gingen nicht nur gegen vermeintliche PKK- und Gülen-Anhänger vor, vielmehr würden möglicherweise auch vermeintliche Anhänger oder Sympathisanten des "IS" verfolgt. Da der Inhalt der Abschiebungsanordnung den Antragsteller in die Nähe des "IS" rücke, müsse er befürchten, im Zuge der Abschiebung in türkische Haft zu kommen. Die dortigen Haftbedingungen würden im Hinblick auf die aktuelle politische Lage in der Türkei nicht den menschenrechtlichen Mindestanforderungen entsprechen. Der Kläger verweist in diesem Zusammenhang auf einen Beschluss des OLG Celle vom 2. Juni 2017 (2 AR (Ausl) 44/17), der deshalb entsprechende Zusicherungen für die Rechtmäßigkeit einer Auslieferung verlange.

50 Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen werden Anhänger des sogenannten "Islamischen Staats" in der Türkei strafrechtlich verfolgt. Aus der Antwort des Auswärtigen Amtes auf Fragen des Senats ergibt sich, dass sich im Februar 2017 nach Angaben des türkischen Justizministeriums insgesamt 498 ausländische "IS"-Anhänger in türkischen Haftanstalten befunden haben sollen, davon 470 in Untersuchungshaft und 28 im Strafvollzug. Zahlen zu türkischen Staatsangehörigen liegen dem Auswärtigen Amt nicht vor. Es verfügt auch nicht über offizielle Angaben zu den angewandten Strafvorschriften und zur Strafhöhe. Nach Pressemeldungen zu Einzelfällen seien Artikel·309 tStGB und Artikel 314 tStGB angewandt worden. Amnesty International hat auf die Fragen des Senats mitgeteilt, sie verfügten über keine eigenen Erkenntnisse darüber, in welchem Ausmaß, mit welcher Konsequenz und ab welchem Grad der Unterstützungsaktivität "IS"-Anhänger in der Türkei verfolgt würden. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes geht der Senat allerdings davon aus, dass eine Strafverfolgung des Antragstellers auch wegen seiner Aktivitäten außerhalb der Türkei möglich erscheint.

51 a) Was die Konsequenzen einer Inhaftierung anbetrifft, liegt keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür vor, dass dem Antragsteller in der Haft oder im Polizeigewahrsam eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung droht. Wie das Auswärtige Amt mitgeteilt hat, sind Verstöße gegen Art. 3 EMRK im Rahmen der Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren gegen "IS"-Anhänger nicht bekannt geworden. Auch sind dem Auswärtigen Amt keine Hinweise auf eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung außerhalb von Ermittlungs- oder Strafverfahren spezifisch gegenüber "IS"-Anhängern bekannt. Vielmehr gilt seine Erkenntnis aus dem Lagebericht vom 19. Februar 2017 (S. 29) fort, die lautet:

52 "Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden ist. Zu demselben Ergebnis kommen andere EU-Staaten und die USA."

53 Zwar gebe es Hinweise auf Einzelfälle, in denen - im Rahmen des Vorgehens gegen mutmaßliche terroristische Täter zur Gefahrenabwehr oder bei Ermittlungshandlungen - Verstöße gegen Art. 3 EMRK von Betroffenen oder ihren Rechtsanwälten behauptet worden seien. Allerdings verfügt auch Amnesty International zur Frage, ob "IS"-Anhänger Opfer von Folter wurden, über keine Informationen. Berücksichtigt man, dass Amnesty International über Informationen über die Betroffenheit anderer Personenkreise von Folter in der Türkei verfügt - besonders häufig betroffen sind danach Personen, die der Unterstützung der PKK bezichtigt werden, sowie Personen, die der Beteiligung am Putschversuch im letzten Jahr beschuldigt werden - liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung zum Nachteil des Antragstellers vor.

54 Diese Beurteilung gilt auch unter Berücksichtigung der von Amnesty International hervorgehobenen Tatsache, dass Berichte über Folter in Polizeigewahrsam seit der Aufkündigung des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Juli 2015 und insbesondere seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 drastisch zugenommen haben. Es erscheint unwahrscheinlich, dass Folter gegenüber vermeintlichen "IS"-Anhängern nicht bekannt geworden sein sollte. Dieser Beurteilung steht die Tatsache nicht entgegen, dass sich die Einstellung der türkischen Regierung gegenüber dem "IS" zum Negativen verändert hat, seit "IS"-Mitglieder im Sommer 2014 Geiseln im türkischen Konsulat in Mosul genommen, die Türkei ihre Enklave Süleyman Shah in Syrien im Februar 2015 räumen musste und der türkische Außenminister die Durchreise von fremden "IS"-Kämpfern durch die Türkei im Januar 2015 als "greatest threat" für sein Land bezeichnete.

55 Fehlt es an der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung zum Nachteil des Antragstellers, kommt es für die Entscheidung des Senats nicht darauf an, ob und inwieweit Schutzmaßnahmen gegen Folter unter dem nach wie vor geltenden Ausnahmezustand systematisch abgebaut wurden. Daher ist auch nicht entscheidungserheblich, in welchem Umfang türkischen Behörden Informationen über ausländische Aktivitäten vermeintlicher "IS"-Anhänger bekannt sind.

56 b) Allerdings ergibt sich aus Beschlüssen von Oberlandesgerichten in Auslieferungssachen, u.a. aus dem vom Bevollmächtigten des Antragstellers zitierten Beschluss des OLG Celle vom 2. Juni 2016, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Haftbedingungen in der Türkei nach dem Putschversuch im Juli 2016 aufgrund der massenhaften Inhaftierungen den in Art. 3 EMRK verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen widersprechen (OLG Celle, Beschluss vom 2. Juni 2016 - 2 AR (Ausl) 44/17 - StraFo 2017, 292 = juris Rn. 10; OLG München, Beschluss vom 16. August 2016, 1 AR 252/16 - NStZ-RR 2016, 323 <324>; KG Berlin, Beschluss vom 17. Januar 2017 - (4) 151 AuslA 11/16 (10/17) - StraFo 2017, 70). Im Hinblick auf Art. 3 EMRK müssen die Hafträume nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestimmte Bedingungen aufweisen, insbesondere müssen die vorhandenen Tageslichtverhältnisse und die vorhandenen Sanitärzellen ausreichend sein. Auch das Niveau der Beleuchtung, der Heizung, der Lüftung und der medizinischen Versorgung sowie der Ernährung der Häftlinge ist insoweit von Bedeutung. Dem Häftling muss in der Regel eine Fläche von 3 m² in einem Gemeinschaftshaftraum ohne Berücksichtigung des Mobiliars zur Verfügung stehen (vgl. BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 18. August 2017 - 2 BvR 424/17 - juris Rn. 37 m.w.N). Die zitierten mit Auslieferungssachen befassten Gerichte sehen die Gefahr, dass Betroffene im Falle ihrer Auslieferung wegen der Überbelegung der Haftzellen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein könnten, was ein Zulässigkeitshindernis nach § 73 Satz 1 IRG begründet. Dieses Zulässigkeitshindernis kann nach der zitierten Rechtsprechung jedoch dadurch ausgeräumt werden, dass die türkischen Behörden eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung in Bezug auf die Haftbedingungen abgeben, unter denen der Betroffene nach erfolgter Auslieferung inhaftiert sein wird. Diese Rechtsprechung lässt sich auf das Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 AufenthG übertragen, weshalb der Senat die Abschiebung nur mit der Maßgabe zulässt, dass die türkischen Behörden zusichern, dass die räumliche Unterbringung und die sonstige Gestaltung der Haftbedingungen im Fall einer Inhaftierung des Antragstellers wegen seines Verhaltens vor der Abschiebung den europäischen Mindeststandards entsprechen. Darüber hinaus ist von den türkischen Behörden zuzusichern, dass Besuche durch diplomatische oder konsularische Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Antragsteller zur Kontrolle seiner Haftbedingungen während der Dauer einer möglichen Inhaftierung möglich sind (entsprechend OLG Celle, Beschluss vom 2. Juni 2016 - 2 AR (Ausl) 44/17 - StraFo 2017, 292 = juris Rn. 11 f.; OLG München, Beschluss vom 16. August 2016, 1 AR 252/16 - NStZ-RR 2016, 323 <324>; KG Berlin, Beschluss vom 17. Januar 2017 - (4) 151 AuslA 11/16 (10/17) - StraFo 2017, 70 = juris Rn. 8 ff.).

57 Im Fall des Antragstellers erscheint eine Inhaftierung bei Rückführung in die Türkei deshalb beachtlich wahrscheinlich, weil ihm vorgeworfen wird, in Deutschland eine Straftat nach § 89a StGB (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) begangen zu haben. Sollte sich in der am 19. September 2017 beginnenden Hauptverhandlung der Tatvorwurf nicht bestätigen, ist auch das Risiko einer Inhaftierung in der Türkei einer Neubewertung zu unterziehen.

58 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Da die Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Entscheidung in der Hauptsache praktisch vorwegnimmt, war der Streitwert auf die Höhe des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts anzuheben.

Beschluss vom 19.09.2017 -
BVerwG 1 VR 8.17ECLI:DE:BVerwG:2017:190917B1VR8.17.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 19.09.2017 - 1 VR 8.17 - [ECLI:DE:BVerwG:2017:190917B1VR8.17.0]

Beschluss

BVerwG 1 VR 8.17

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. September 2017
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph
beschlossen:

  1. Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung des Antragsgegners vom 1. August 2017 anzuordnen, wird mit der Maßgabe abgelehnt, dass zusätzlich zu der Verbalnote des Tunesischen Außenministeriums vom 11. Juli 2017 eine tunesische Regierungsstelle zusichert, dass im Falle der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe die Möglichkeit einer Überprüfung der Strafe mit der Aussicht auf Umwandlung oder Herabsetzung der Haftdauer gewährt wird.
  2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Antragsverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Der Antragsteller, ein 1980 geborener tunesischer Staatsangehöriger, begehrt vorläufigen Rechtsschutz im Hinblick auf die Anordnung seiner Abschiebung nach Tunesien.

2 Er reiste erstmals 2003 zu Studienzwecken in das Bundesgebiet ein. Bevor er 2008 ohne Abschluss exmatrikuliert wurde, heiratete er 2005 eine deutsche Staatsangehörige. Die Ehe wurde 2009 geschieden, nachdem die Ehefrau des Antragstellers ihn mehrfach wegen häuslicher Gewalt angezeigt hatte. Im Mai 2008 schlug er seine Ehefrau, zog sie an den Haaren und würgte sie. In seiner Beschuldigtenvernehmung gab der Antragsteller an, dass seine Frau fremdgegangen sei. Da sie dafür in Deutschland nicht bestraft würde, hätte er sie bestrafen müssen. Das Amtsgericht Frankfurt am Main verurteilte ihn wegen dieser Tat im Jahr 2009 zu einer Geldstrafe. 2010 erhielt der Antragsteller eine Niederlassungserlaubnis. Im April 2013 wurde er von Amts wegen nach unbekannt abgemeldet. Im Februar 2015 wurde der Antragsteller beim illegalen Grenzübertritt in Griechenland angetroffen und im Juli 2015 unter dem Namen K. Nk. als angeblicher syrischer Flüchtling in Ungarn registriert. Kurz darauf, am 13. August 2015, reiste der Antragsteller unter dem Namen K. Vd. als Flüchtling von Frankreich kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein. Im August 2015 äußerte er bei der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung in G. ein Asylbegehren, kam jedoch der Aufforderung nicht nach, sich zur formellen Antragstellung in die Erstaufnahmeeinrichtung nach C. zu begeben. Am 15. August 2016 wurde er mit auf den Namen K. Fk. ausgestellten Dokumenten in F. aufgrund eines Auslieferungsersuchens der tunesischen Strafverfolgungsbehörde festgenommen. Die Auslieferungshaft wurde am 24. August 2016 angeordnet. Dem Antragsteller wurde vorgeworfen, in Tunesien an der Planung und Umsetzung von terroristischen Anschlägen beteiligt gewesen zu sein (Beteiligung an dem Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis am 18. März 2015 sowie einem Angriff auf die tunesische Stadt Ben Guerdane). Am 4. November 2016 wurde der Antragsteller aus der Auslieferungshaft entlassen, da die tunesischen Behörden nicht fristgerecht die vollständigen und dem deutsch-tunesischen Auslieferungsvertrag entsprechenden Unterlagen übersandt hatten. Erst im April 2017 erfolgte eine weitere Konkretisierung des Auslieferungsersuchens der Tunesischen Republik. Es wurde u.a. dargelegt, dass sich der Antragsteller dem IS-Terrornetzwerk in Syrien angeschlossen habe. Nach zwischenzeitlichen Ermittlungen der deutschen Sicherheitsbehörden wurde der Antragsteller am 1. Februar 2017 im Rahmen einer Antiterrorrazzia u.a. wegen Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland in Untersuchungshaft genommen (Haftbefehl des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 26. Januar 2017). Mit Bescheid vom 9. März 2017 wies die Stadt F. den Antragsteller - gestützt auf § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1 Ziff. 2 AufenthG - aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm die Abschiebung nach Tunesien an. Einen hiergegen gerichteten Eilantrag lehnte das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 5. April 2017 ab; die hiergegen gerichtete Beschwerde wurde als unzulässig verworfen. Zeitgleich mit dem Eilrechtsschutzantrag gegen die Ausweisungsverfügung stellte der Antragsteller, als er sich bereits zur Abschiebung am Flughafen befand, über seine Prozessbevollmächtigte einen Asylantrag. Mit Bescheid vom 24. März 2017 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Den hiergegen gerichteten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz lehnte das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 5. April 2017 mit der Maßgabe ab, dass die tunesische Regierung näher benannte Zusicherungen abgibt. In einer Verbalnote vom 11. Juli 2017 versicherte das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Tunesischen Republik u.a., dass sich die tunesischen Behörden im Rahmen ihrer Verbundenheit mit den demokratischen Werten zur Wahrung der in der neuen tunesischen Verfassung festgeschriebenen Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichten, und betonte, dass Tunesien - auch wenn im tunesischen Strafgesetzbuch die Todesstrafe vorgesehen sei - ein Moratorium einhalte. Auf einen weiteren Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hin hat das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, die für die Abschiebung zuständige Ausländerbehörde auf der Basis der Verbalnote der tunesischen Regierung vom 11. Juli 2017 über das Vorliegen einer vollziehbaren Abschiebungsandrohung zu unterrichten und dadurch die Abschiebung des Antragstellers einzuleiten. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die in dem Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 5. April 2017 festgelegte Bedingung Nr. 1 (Zusicherung, dass die Todesstrafe nicht verhängt wird) durch die Verbalnote nicht erfüllt werde; Zweifel bestünden darüber hinaus, ob die Bedingung Nr. 3 (Besuchsrecht der konsularischen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland) als erfüllt angesehen werden könne.

3 Mit Verfügung vom 1. August 2017 ordnete das Hessische Ministerium des Innern und für Sport - gestützt auf § 58a AufenthG - nach vorheriger Anhörung die Abschiebung des Antragstellers nach Tunesien an. Es begründete seine Entscheidung damit, dass dem Bundesamt für Verfassungsschutz Erkenntnisse vorlägen, wonach der Antragsteller in terroristische Aktivitäten des "Islamischen Staates" (IS) involviert sei. Im Jahre 2014 habe er die Reihen des "IS" in Syrien verlassen und sich anschließend in Deutschland aufgehalten. Während seines Aufenthalts in Deutschland sei er für den "IS" als Schleuser und Anwerber tätig gewesen. Vertrauenspersonen des Hessischen Landeskriminalamtes (HLKA) hätten ausgesagt, dass der Antragsteller und Personen seines Umfeldes terroristische Anschläge in Tunesien und in Deutschland planten. Der Antragsteller sei ein Rekrutierer und/oder Organisator für den "IS", der Personen zu einem Terroranschlag bewegen könne, und habe für die Anschlagsdurchführung nur noch auf die Rückkehr von sogenannten Jihadisten aus Syrien gewartet. Ferner sei der Antragsteller aktives Mitglied des "IS" im Bereich einer Medien- und Cybereinheit und unterstütze diese durch die Aufbereitung, Herstellung und Verbreitung unterschiedlichsten Propagandamaterials. Aufgrund des Verhaltens des Antragstellers und der sich daraus ergebenden besonderen Gefährdungslage für die Bundesrepublik Deutschland überwiege bei der Ermessensentscheidung das Interesse an der Ausreise das Bleibeinteresse des Antragstellers. Aufgrund der umfassenden Zusicherungen in der Verbalnote des Außenministeriums der Republik Tunesien vom 11. Juli 2017 bestehe nicht die Gefahr einer EMRK-widrigen Behandlung des Antragstellers im Falle seiner Abschiebung, so dass das Vorliegen von Abschiebungsverboten zu verneinen sei. Die Abschiebung sei auch nicht schon deshalb unzulässig, weil dem Antragsteller in Tunesien die Todesstrafe drohe. Tunesien habe zugesichert, ein Todesstrafenmoratorium zu beachten. Nach § 8 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) dürfe eine Auslieferung wie auch eine Abschiebung erfolgen, wenn der Aufnahmestaat zusichert, dass die Todesstrafe im konkreten Fall nicht verhängt oder vollstreckt werde.

4 Der Bundesgerichtshof hob mit Beschluss vom 17. August 2017 den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 24. Januar 2017 auf. Das Amtsgericht Frankfurt am Main ordnete mit Beschluss vom 18. August 2017 Sicherungshaft bis einschließlich 23. Oktober 2017 an.

5 Am 5. August 2017 hat der Antragsteller beim Bundesverwaltungsgericht Klage gegen die Abschiebungsanordnung erhoben und zugleich einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt. Er macht geltend, dass er zu keinem Zeitpunkt Anschläge im In- und Ausland geplant habe und auch nicht als Schleuser und Anwerber für den "IS" tätig gewesen sei. Die angefochtene Verfügung beruhe auf einer unzutreffenden Tatsachengrundlage. Soweit sich der Antragsgegner auf die Aussage eines Zeugen namens Gc. berufe, sei darauf hinzuweisen, dass er - der Antragsteller - diese Person nicht kenne und auch nie versucht habe, sich über diese Zugang zur ...bank zu verschaffen. Auch der Zeuge habe angegeben, ihn nicht zu kennen. Er habe auch nicht in einem Propagandavideo des "IS" mitgewirkt, wie in der angefochtenen Verfügung angenommen werde. Der Antragsgegner lasse außer Acht, dass der in Auftrag gegebene Untersuchungsbericht zur Gesichtsmorphologie vom 16. Juni 2017 zu dem Ergebnis komme, dass es sich bei den männlichen Personen auf den betreffenden Aufnahmen nur "wahrscheinlich" um ein- und dieselbe Person handele, und daher auch eine andere Person, die dem Antragsteller ähnlich sehe, in Betracht komme. Auch das Stimmenvergleichsgutachten vom 6. Juli 2017 nehme eine nur "überwiegend bis hohe Wahrscheinlichkeit" an, dass es sich bei der Stimme auf dem Video um die Stimme des Antragstellers handele. Soweit der Antragsgegner auf das auf seinem Smartphone festgestellte Bildmaterial Bezug nehme, sei unzutreffend, dass es sich überhaupt um Propagandamaterial handele. Allein das Vorhandensein von sogenannten Apps (u.a. Telegram, WhatsApp, Facebook, Twitter, VPN-Clients, Security App) belege nicht, dass er es darauf abgesehen habe, sich im Internet anonym zu bewegen. Es sei auch unzutreffend, dass er Kontakte zur sogenannten "Sauerlandgruppe" und zu Personen, die nach Syrien oder in den Irak ausreisen wollten, gehabt habe. Zudem sei ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK gegeben. Aus Art. 1 und 5 des Zusatzprotokolls Nr. 13 zur EMRK ergebe sich, dass seine Abschiebung nach Tunesien nur zulässig sei, wenn sichergestellt sei, dass ihm in Tunesien nicht die Todesstrafe drohe. Gegenwärtig würden gegen ihn in Tunesien strafrechtliche Vorwürfe erhoben, die nach dem tunesischen Terrorismus- und Geldwäschebekämpfungsgesetz die Todesstrafe rechtfertigten. Es stelle keinen ausreichenden Schutz dar, dass seit 1991 in Tunesien die Todesstrafe nicht mehr vollstreckt werde. Denn Art. 1 Satz 2 des Protokolls Nr. 13 zur EMRK sehe vor, dass die Todesstrafe nicht nur nicht vollstreckt, sondern auch nicht verhängt werden dürfe. Ferner drohe ihm die konkrete Gefahr, der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Schließlich sei auch das Recht auf Durchführung eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens (Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 6 EMRK) verletzt. Denn der Generalstaatsanwalt von F. habe bei einer Pressekonferenz im Juli 2017 erklärt, dass - unabhängig von dem Begehren Tunesiens - die Staatsanwaltschaft alles tun werde, dass er - der Antragsteller - in Haft bleibe und ihm die zur Last gelegten Taten nachgewiesen werden können. Zudem habe die Haftrichterin in ihrem Beschluss vom 18. August 2017 trotz diesbezüglich fehlender Prüfungskompetenz entschieden, dass keine Abschiebungsverbote vorlägen.

6 Der Antragsgegner verteidigt die angegriffene Entscheidung. Der Senat hat eine Liste von Erkenntnismitteln über die abschiebungsrelevante Lage in Tunesien erstellt und den Beteiligten zur Kenntnis gegeben.

II

7 Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung des Antragsgegners vom 1. August 2017 anzuordnen, ist zulässig (§ 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO), auch ist das Bundesverwaltungsgericht als Gericht der Hauptsache zuständig (§ 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO). Der Antrag ist aber unbegründet. Bei der gebotenen Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers, bis zum Abschluss des Klageverfahrens in Deutschland zu bleiben, und dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung, überwiegt das öffentliche Interesse. An der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Abschiebungsanordnung bestehen keine ernstlichen Zweifel (1.). Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote, die einer Abschiebung des Antragstellers nach Tunesien entgegenstehen könnten, liegen bei Beachtung der sich aus dem Tenor ergebenden Maßgabe nicht vor (2.).

8 1. Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 58a Abs. 1 AufenthG. Danach kann die oberste Landesbehörde gegen einen Ausländer aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen. Diese Regelung ist formell und materiell verfassungsgemäß (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - juris und vom 26. Juli 2017 - 2 BvR 1606/17 - juris).

9 Die Abschiebungsanordnung ist bei der hier gebotenen umfassenden Prüfung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 13) nicht zu beanstanden.

10 a) Die Verfügung ist formell rechtmäßig, insbesondere ist der Antragsteller vor Erlass der Verfügung hinreichend angehört worden. Ausweislich der Behördenakten (Bl. 913 ff.) ist der Antragsteller vor Erlass der Abschiebungsanordnung mit Schreiben des Antragsgegners vom 27. Juli 2017, der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers am 28. Juli 2017 zugegangen, angehört worden. Der Antragsteller rügt insoweit, dass die in dem Schreiben gesetzte Äußerungsfrist bis zum 31. Juli 2017 unangemessen kurz gewesen sei, zumal die Frist ein Wochenende umfasst habe und seiner Prozessbevollmächtigten keine vollumfängliche Akteneinsicht gewährt worden sei. Auf einen von seiner Prozessbevollmächtigten gestellten Fristverlängerungsantrag um zehn Tage sei die Stellungnahmefrist lediglich bis zum 1. August 2017 (6.00 Uhr morgens) verlängert worden. Dies habe der Anhörungspflicht nicht genügt, da seine Prozessbevollmächtigte aufgrund eines anderweitigen Gerichtstermins keine Gelegenheit gehabt habe, mit ihm die Angelegenheit zu erörtern.

11 § 58a AufenthG schreibt eine Anhörung weder ausdrücklich vor noch verbietet er eine solche, so dass § 28 HessVwVfG anzuwenden ist. Nach dieser Regelung ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (Abs. 1). Nach § 28 Abs. 2 HessVwVfG kann von der Anhörung abgesehen werden, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalles nicht geboten ist, insbesondere wenn Maßnahmen in der Verwaltungsvollstreckung getroffen werden sollen (Nr. 5) oder wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint (Nr. 1). Aufgrund der Inhaftierung des Antragstellers war eine Anhörung vorliegend ohne Gefährdung der mit der Abschiebungsanordnung verfolgten Zwecke möglich und ist mit dem Schreiben des Antragsgegners vom 27. Juli 2017 auch in hinreichender Weise erfolgt. Die Äußerungsfrist von nur wenigen Tagen ist vor dem Hintergrund der in Fällen des § 58a AufenthG vom Gesetzgeber gewollten Beschleunigung nicht als unangemessen kurz anzusehen. Entgegen der Auffassung des Antragstellers war auch die Gewährung einer vollumfänglichen Akteneinsicht vor Erlass der Abschiebungsanordnung nicht geboten. Die Anhörungspflicht bezieht sich auf die "für die Entscheidung erheblichen Tatsachen" (§ 28 Abs. 1 HessVwVfG), zu denen auch die Ermittlungsergebnisse zählen (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 28 Rn. 29). Die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen und Ermittlungsergebnisse sind dem Antragsteller indes mit Schreiben vom 27. Juli 2017 mitgeteilt worden. Eine Überprüfungsmöglichkeit der von der Behörde der Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachen anhand der vollständigen Originalakten ist nicht notwendiger Bestandteil des Anhörungsrechts vor Erlass einer Abschiebungsanordnung, sondern kann dem weiteren Rechtsschutzverfahren vorbehalten bleiben.

12 b) Die Verfügung ist auch materiellrechtlich nicht zu beanstanden. Die Abschiebungsanordnung ist gegenüber der Ausweisung nach den §§ 53 ff. AufenthG eine selbstständige ausländerrechtliche Maßnahme der Gefahrenabwehr. Sie zielt auf die Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und/oder einer terroristischen Gefahr.

13 aa) Der Begriff der "Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland" ist - wie die wortgleiche Formulierung in § 54 Abs. 1 Nr. 2 und § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - nach der Rechtsprechung des Senats enger zu verstehen als der Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne des allgemeinen Polizeirechts. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umfasst die innere und äußere Sicherheit und schützt nach innen den Bestand und die Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Das schließt den Schutz vor Einwirkungen durch Gewalt und Drohungen mit Gewalt auf die Wahrnehmung staatlicher Funktionen ein (BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <120> = juris Rn. 17). In diesem Sinne richten sich auch Gewaltanschläge gegen Unbeteiligte zum Zwecke der Verbreitung allgemeiner Unsicherheit gegen die innere Sicherheit des Staates (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 17).

14 Der Begriff der "terroristischen Gefahr" knüpft an die neuartigen Bedrohungen an, die sich nach dem 11. September 2001 herausgebildet haben. Diese sind in ihrem Aktionsradius nicht territorial begrenzt und gefährden die Sicherheitsinteressen auch anderer Staaten. Im Aufenthaltsgesetz findet sich zwar keine Definition, was unter Terrorismus zu verstehen ist, die aufenthaltsrechtlichen Vorschriften zur Bekämpfung des Terrorismus setzen aber einen der Rechtsanwendung fähigen Begriff des Terrorismus voraus. Auch wenn bisher die Versuche, auf völkerrechtlicher Ebene eine allgemein anerkannte vertragliche Definition des Terrorismus zu entwickeln, nicht in vollem Umfang erfolgreich gewesen sind, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts doch im Grundsatz geklärt, unter welchen Voraussetzungen die - völkerrechtlich geächtete - Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln anzunehmen ist. Wesentliche Kriterien können insbesondere aus der Definition terroristischer Straftaten in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus vom 9. Dezember 1999 (BGBl. 2003 II S. 1923), aus der Definition terroristischer Straftaten auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft im Beschluss des Rates Nr. 2002/475/JI vom 13. Juni 2002 (ABl. L 164 S. 3) sowie dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates Nr. 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Dezember 2001 (ABl. L 344 S. 93) gewonnen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <129 f.>). Trotz einer gewissen definitorischen Unschärfe des Terrorismusbegriffs liegt nach der Rechtsprechung des Senats eine völkerrechtlich geächtete Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln jedenfalls dann vor, wenn politische Ziele unter Einsatz gemeingefährlicher Waffen oder durch Angriffe auf das Leben Unbeteiligter verfolgt werden (BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - 1 C 13.10 - BVerwGE 141, 100 Rn. 19 m.w.N.). Entsprechendes gilt bei der Verfolgung ideologischer Ziele. Eine terroristische Gefahr kann nicht nur von Organisationen, sondern auch von Einzelpersonen ausgehen, die nicht als Mitglieder oder Unterstützer in eine terroristische Organisation eingebunden sind oder in einer entsprechenden Beziehung zu einer solchen stehen. Erfasst sind grundsätzlich auch Zwischenstufen lose verkoppelter Netzwerke, (virtueller oder realer) Kommunikationszusammenhänge oder "Szeneeinbindungen", die auf die Realitätswahrnehmung einwirken und die Bereitschaft im Einzelfall zu wecken oder zu fördern geeignet sind.

15 Das Erfordernis einer "besonderen" Gefahr bei der ersten Alternative bezieht sich allein auf das Gewicht und die Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter sowie das Gewicht der befürchteten Tathandlungen des Betroffenen, nicht auf die zeitliche Eintrittswahrscheinlichkeit (Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand: Juli 2017, § 58a AufenthG Rn. 11; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 58a AufenthG Rn. 27; Hailbronner, AuslR, Stand: Mai 2017, § 58a AufenthG Rn. 7; a.A. Erbslöh, NVwZ 2007, 155 <160>, wonach eine Abschiebungsanordnung nur in Fällen außergewöhnlich hoher Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts, mit dem in naher Zukunft zu rechnen ist, in Betracht kommt). In diesem Sinne muss die besondere Gefahr für die innere Sicherheit aufgrund der gleichen Eingriffsvoraussetzungen eine mit der terroristischen Gefahr vergleichbare Gefahrendimension erreichen (Hailbronner, AuslR, Stand: Mai 2017, § 58a AufenthG Rn. 7). Dafür spricht auch die Regelung in § 11 Abs. 5 AufenthG, die die Abschiebungsanordnung in eine Reihe mit Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellt (s.a. Eckertz-Höfer, in: Barwig u.a. <Hrsg.>, Perspektivwechsel im Ausländerrecht?, 1. Aufl. 2007, S. 105 <117>). Geht es um die Verhinderung schwerster Straftaten, durch die im "politischen/ideologischen Kampf" die Bevölkerung in Deutschland verunsichert und/oder staatliche Organe der Bundesrepublik Deutschland zu bestimmten Handlungen genötigt werden sollen, ist regelmäßig von einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und jedenfalls von einer terroristischen Gefahr auszugehen. Da es um die Verhinderung derartiger Straftaten geht, ist nicht erforderlich, dass mit deren Vorbereitung oder Ausführung in einer Weise begonnen wurde, die einen Straftatbestand erfüllt und etwa bereits zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen geführt hat.

16 Die für § 58a AufenthG erforderliche besondere Gefahrenlage muss sich aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ergeben. Aus Sinn und Zweck der Regelung ergibt sich, dass die Bedrohungssituation unmittelbar vom Ausländer ausgehen muss, in dessen Freiheitsrechte sie eingreift. Ungeachtet ihrer tatbestandlichen Verselbstständigung ähnelt die Abschiebungsanordnung in ihren Wirkungen einer für sofort vollziehbar erklärten Ausweisung nebst Abschiebungsandrohung. Zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung ist sie aber mit Verkürzungen im Verfahren und beim Rechtsschutz verbunden. Insbesondere ist die Abschiebungsanordnung kraft Gesetzes sofort vollziehbar (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 AufenthG). Da es keiner Abschiebungsandrohung bedarf (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 AufenthG), erübrigt sich auch die Bestimmung einer Frist zur freiwilligen Ausreise. Zuständig sind nicht die Ausländerbehörden, sondern grundsätzlich die obersten Landesbehörden (§ 58a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG). Die Zuständigkeit für den Erlass einer Abschiebungsanordnung begründet nach § 58a Abs. 3 Satz 3 AufenthG zugleich eine eigene Zuständigkeit für die Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG ohne Bindung an hierzu getroffene Feststellungen aus anderen Verfahren. Die gerichtliche Kontrolle einer Abschiebungsanordnung und ihrer Vollziehung unterliegt in erster und letzter Instanz dem Bundesverwaltungsgericht (§ 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO), ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes muss innerhalb einer Frist von sieben Tagen gestellt werden (§ 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Die mit dieser Ausgestaltung des Verfahrens verbundenen Abweichungen gegenüber einer Ausweisung lassen sich nur mit einer direkt vom Ausländer ausgehenden terroristischen und/oder dem gleichzustellenden Bedrohungssituation für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigen (BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 18).

17 Die vom Ausländer ausgehende Bedrohung muss aber nicht bereits die Schwelle einer konkreten Gefahr im Sinne des polizeilichen Gefahrenabwehrrechts überschreiten (Hailbronner, AuslR, Stand: Mai 2017, § 58a AufenthG Rn. 14 f.; a.A. Bauer, in: Bergmann/Dienelt, 11. Aufl. 2016, AuslR, § 58a AufenthG Rn. 28; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand: Juli 2017, § 58a AufenthG Rn. 18), bei der bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des geschützten Rechtsguts zu erwarten ist. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut der Vorschrift, die zur Abwehr einer besonderen Gefahr lediglich eine auf Tatsachen gestützte Prognose verlangt. Auch Sinn und Zweck der Regelung sprechen angesichts des hohen Schutzguts und der vom Terrorismus ausgehenden neuartigen Bedrohungen für einen abgesenkten Gefahrenmaßstab, weil seit den Anschlägen vom 11. September 2001 damit zu rechnen ist, dass ein Terroranschlag mit hohem Personenschaden ohne großen Vorbereitungsaufwand und mit Hilfe allgemein verfügbarer Mittel jederzeit und überall verwirklicht werden kann. Eine Abschiebungsanordnung ist daher schon dann möglich, wenn aufgrund konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte ein beachtliches Risiko dafür besteht, dass sich eine terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland in der Person des Ausländers jederzeit aktualisieren kann, sofern nicht eingeschritten wird (BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 19).

18 Diese Auslegung steht trotz der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Einklang mit dem Grundgesetz. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht von vornherein für jede Art der Aufgabenwahrnehmung auf die Schaffung von Eingriffstatbeständen beschränkt, die dem tradierten sicherheitsrechtlichen Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren entsprechen. Vielmehr kann er die Grenzen für bestimmte Bereiche der Gefahrenabwehr mit dem Ziel schon der Straftatenverhinderung auch weiter ziehen, indem er die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs reduziert. Dann bedarf es aber zumindest einer hinreichend konkretisierten Gefahr in dem Sinne, dass tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr bestehen. Hierfür reichen allgemeine Erfahrungssätze nicht aus, vielmehr müssen bestimmte Tatsachen im Einzelfall die Prognose eines Geschehens tragen, das zu einer zurechenbaren Verletzung gewichtiger Schutzgüter führt. Eine hinreichend konkretisierte Gefahr in diesem Sinne kann schon bestehen, wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt, aber bereits bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen. In Bezug auf terroristische Straftaten, die oft von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, kann dies schon dann der Fall sein, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird. Angesichts der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist eine Verlagerung der Eingriffsschwelle in das Vorfeldstadium dagegen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, wenn nur relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Gefahren bestehen, etwa allein die Erkenntnis, dass sich eine Person zu einem fundamentalistischen Religionsverständnis hingezogen fühlt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. Mai 2017 - 1 VR 4.17 - juris Rn. 20, unter Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09 u.a. - BVerfGE 141, 220 Rn. 112 f.). Allerdings ist in Fällen, in denen sich eine Person in hohem Maße mit einer militanten, gewaltbereiten Auslegung des Islam identifiziert, den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung dieser radikal-islamischen Auffassung für gerechtfertigt ansieht, von einer hinreichend konkreten Gefahr auszugehen, dass diese Person terroristische Straftaten begeht.

19 Für diese "Gefahrenprognose" bedarf es - wie bei jeder Prognose - zunächst einer hinreichend zuverlässigen Tatsachengrundlage. Der Hinweis auf eine auf Tatsachen gestützte Prognose dient der Klarstellung, dass ein bloßer (Gefahren-)Verdacht oder Vermutungen bzw. Spekulationen nicht ausreichen (Hailbronner, AuslR, Stand: Mai 2017, § 58a AufenthG Rn. 15; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand: Juli 2017, § 58a AufenthG Rn. 8; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 58a AufenthG Rn. 31). Zugleich definiert dieser Hinweis einen eigenen Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Abweichend von dem sonst im Gefahrenabwehrrecht geltenden Prognosemaßstab der hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit mit seinem nach Art und Ausmaß des zu erwartenden Schadens differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab muss für ein Einschreiten nach § 58a AufenthG eine bestimmte Entwicklung nicht wahrscheinlicher sein als eine andere. Vielmehr genügt angesichts der besonderen Gefahrenlage, der § 58a AufenthG durch die tatbestandliche Verselbstständigung begegnen soll, dass sich aus den festgestellten Tatsachen ein beachtliches Risiko dafür ergibt, dass die von einem Ausländer ausgehende Bedrohungssituation sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik umschlagen kann.

20 Dieses beachtliche Eintrittsrisiko kann sich auch aus Umständen ergeben, denen (noch) keine strafrechtliche Relevanz zukommt, etwa wenn ein Ausländer fest entschlossen ist, in Deutschland einen mit niedrigem Vorbereitungsaufwand möglichen schweren Anschlag zu verüben, auch wenn er noch nicht mit konkreten Vorbereitungs- oder Ausführungshandlungen begonnen hat und die näheren Tatumstände nach Ort, Zeitpunkt, Tatmittel und Angriffsziel noch nicht feststehen. Eine hinreichende Bedrohungssituation kann sich aber auch aus anderen Umständen ergeben. In jedem Fall bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Ausländers, seines bisherigen Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren oder geäußerten inneren Einstellung, seiner Verbindungen zu anderen Personen und Gruppierungen, von denen eine terroristische Gefahr und/oder eine Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht sowie sonstiger Umstände, die geeignet sind, den Ausländer in seinem gefahrträchtigen Denken oder Handeln zu belassen oder zu bekräftigen. Dabei kann sich - abhängig von den Umständen des Einzelfalls - in der Gesamtschau ein beachtliches Risiko, das ohne ein Einschreiten jederzeit in eine konkrete Gefahr umschlagen kann, auch schon daraus ergeben, dass sich ein im Grundsatz gewaltbereiter und auf Identitätssuche befindlicher Ausländer in besonderem Maße mit dem radikal-extremistischen Islamismus in seinen verschiedenen Ausprägungen bis hin zum ausschließlich auf Gewalt setzenden jihadistischen Islamismus identifiziert, über enge Kontakte zu gleichgesinnten, möglicherweise bereits anschlagsbereiten Personen verfügt und sich mit diesen in "religiösen" Fragen regelmäßig austauscht.

21 Der obersten Landesbehörde steht bei der für eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erforderlichen Gefahrenprognose aber keine Einschätzungsprärogative oder ein Beurteilungsspielraum zu. Als Teil der Exekutive ist sie beim Erlass einer Abschiebungsanordnung - wie jede andere staatliche Stelle - an Recht und Gesetz, insbesondere an die Grundrechte, gebunden (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG); ihr Handeln unterliegt nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG der vollen gerichtlichen Kontrolle (Hailbronner, AuslR, Stand: Mai 2017, § 58a AufenthG Rn. 17; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand: Juli 2017, § 58a AufenthG Rn. 12; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 58a AufenthG Rn. 37 ff.). Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen für einen der gerichtlichen Überprüfung entzogenen behördlichen Beurteilungsspielraum. Auch wenn die im Rahmen des § 58a AufenthG erforderliche Prognose besondere Kenntnisse und Erfahrungswissen erfordert, ist sie nicht derart außergewöhnlich und von einem bestimmten Fachwissen abhängig, über das nur oberste (Landes-)Behörden verfügen. Vergleichbare Aufklärungsschwierigkeiten treten auch in anderen Zusammenhängen auf. Der hohe Rang der geschützten Rechtsgüter und die Eilbedürftigkeit der Entscheidung erfordern ebenfalls keine Einschätzungsprärogative der Behörde (BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 22; BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - juris Rn. 42).

22 bb) In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass von dem Antragsteller derzeit aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ein beachtliches Risiko im Sinne des § 58a AufenthG ausgeht.

23 Angesichts der von den Sicherheitsbehörden gesammelten, umfangreichen Erkenntnisse hält es der Senat für hinreichend wahrscheinlich, dass der Antragsteller einen Terroranschlag in Deutschland begeht. Im Rahmen einer Auswertung von Propaganda-Material des "IS" wurde durch das Bundeskriminalamt (BKA) ein Video mit dem Titel "Öffentliche Videovorführung der Verbrennung eines jordanischen Piloten durch den Islamischen Staat in der Provinz Q." aufgefunden. Der Senat geht davon aus, dass es sich bei der Person, die sich in dem Video propagandistisch zugunsten des "IS" äußert, um den Antragsteller handelt. Das Video wurde am 8. Februar 2015 auf einem Twitter-Kanal verlinkt. Nach den Erkenntnissen des BKA (Bl. 568 BA) wurde es bereits am 7. Februar 2015 unter "archive.org" erstmalig hochgeladen. Auf dem Video ist eine Personengruppe zu sehen, die sich auf einem Fernseher die Verbrennung eines jordanischen Piloten ansieht. Hierzu werden einzelne Personen interviewt, u.a. eine Person, bei der es sich nach der Überzeugung des Senats um den Antragsteller handelt. Die Person äußert sich auf Hocharabisch wie folgt (Bl. 580 BA): "Von einem x-beliebigen Ort die Häuser der Muslime und den islamischen Staat anzugreifen ... Er hätte primär Juden und Christen bombardieren müssen, die die Ehre der Muslime verletzt haben. Sie haben Muslime getötet und vertrieben und haben dies und jenes getan ... aber subhanallah (Gott ist überall erhaben)". Im Hintergrund ist ein Schild zu sehen, auf dem die Logos diverser "IS"-Propagandastellen abgebildet sind. Der islamwissenschaftlichen Stellungnahme vom 22. Juli 2017 zufolge ist davon auszugehen, dass das Video in einem vom "IS" kontrollierten Gebiet entstanden ist. Da im Video ab Minute 4:54 der Text "Medienstelle der Provinz Q." eingeblendet wird und darüber hinaus die befragten Personen im Video (mit Ausnahme des Sprechers, der hocharabisch spricht) laut Angaben des Dolmetschers (Bl. 585 ff. BA) mit einem irakischen Dialekt sprechen, geht der Senat davon aus, dass die Video-Datei in der Provinz Q. (Nordirak) aufgenommen wurde, die seit Sommer 2014 fast vollständig unter der Herrschaft des "IS" stand. Nach der islamwissenschaftlichen Stellungnahme handelt es sich eindeutig um ein Propagandavideo des "IS". Im Zuge eines gesichtsmorphologischen Lichtbildvergleichs wurde vom Kriminalwissenschaftlichen und -technischen Institut des HLKA ein Untersuchungsbericht vom 16. Juni 2017 erstellt, wonach es als "wahrscheinlich" anzusehen ist, dass es sich bei der auf dem Video zu sehenden Person um den Antragsteller handelt (Bl. 609, 616 BA). Ein Stimmenvergleichsgutachten vom 6. Juli 2017 (Bl. 641, 653 f. BA) gelangte zu dem Ergebnis, es bestehe "eine überwiegende bis hohe Wahrscheinlichkeit", dass der Sprecher auf dem Video mit dem Vergleichssprecher (= Antragsteller) identisch ist. Die Reisebewegungen des Antragstellers, soweit diese bekannt sind, sprechen ebenfalls für die Annahme, dass der Antragsteller an dem "IS"-Propagandavideo mitgewirkt hat. Denn als Aufnahmedatum ist spätestens der 7. Februar 2015 festzustellen. Da der Antragsteller am 10. Februar 2015 durch griechische Behörden in R. festgestellt wurde (Bl. 569 BA), ist eine Reise aus der irakischen Provinz Q. in das türkisch-griechische Grenzgebiet nahe R. gut möglich gewesen. Der Antragsteller bestreitet zwar pauschal, dass er an dem Video mitgewirkt habe. Er widerlegt die Darlegung des Antragsgegners indes nicht mit näheren Angaben zu seinem Aufenthaltsort während des Zeitpunkts der Aufnahme des Videos.

24 Auch die Auswertung des Mobiltelefons des Antragstellers rechtfertigt den Schluss, dass sich der Antragsteller in erheblichem Maße mit dem "IS" identifiziert und dessen Gewaltbereitschaft auch selbst verinnerlicht hat. Es wurde eine Vielzahl von Bilddateien und Nachrichtentexten des "IS" festgestellt (Bl. 504 ff., 520 ff., 754 BA), die auf offiziellen Medienportalen des "IS" ("Aamaq", "Islamicstate Wilayat Tigries", "Islamicstate Wilayat Khurasan") veröffentlicht werden. (Der "IS" bekannte sich in der Vergangenheit über derartige Medienportale zu Terroranschlägen auf der ganzen Welt.) Weiterhin wurden zahlreiche Bilddateien sichergestellt, die im Zusammenhang mit der Ermordung von Gefangenen des "IS" stehen bzw. die unmittelbare Ermordung in aller Grausamkeit darstellen. Es werden extreme Gewaltdarstellungen präsentiert, die Detailaufnahmen gerade explodierender Schädel durch Projektileinschlag sowie die Nahaufnahme eines offenen Schädels mit hervorgequollenen Augen zeigen (Bl. 510 ff., 520 f. BA). Weiterhin wurden auf dem Mobiltelefon des Antragstellers Bildcollagen sichergestellt, auf denen Attentäter des "IS" als Märtyrer verherrlicht werden. Hierunter fallen Einzel- und Gruppenbilder von zum Teil bewaffneten Personen, die sich durch das Posieren mit bzw. vor der "IS"-Flagge offen zum "IS" bekennen. In einem Fall wird ein Kleinkind mit "IS"-Stirnband gezeigt. Bei der Auswertung wurde festgestellt, dass Einzelbilder aus diesen Collagen ebenfalls auf dem Telefon gespeichert waren und dass die Collagen mittels dieser Einzelbilder hergestellt worden waren. Die Collagen waren zum Teil mit dem kreisförmigen Logo des "IS" mit arabischer Schrift ("Wir sind die Unterstützer des Islamischen Staats" oder "Begleiter der Kalifat Märtyrer") versehen. Auch sind zahlreiche Bilddateien aufgefunden worden, die mit Hilfe von Bildbearbeitungsprogrammen zusammengeschnitten wurden, mit Bildeffekten versehen waren und die im Zusammenhang mit der Gestaltung von Internetseiten stehen. Diese Bilder waren beschriftet und enthielten Informationen zu Downloadlinks und/oder Logos und Namen von Medienportalen des "IS". Ein festgestelltes Bild illustriert die Sektionen des "IS" ("Ghost Caliphate Section", "Sons Caliphate Army", "Caliphate Cyber Army", "Kalachnikv E-security team"), bei denen es sich um Einheiten des "IS" handelt, die sich auf dessen Aktivitäten im Bereich der Informationstechnologie spezialisiert haben (Bl. 508 BA). Es wurden ferner diverse Logos von Medienstellen des "IS" gefunden, u.a. "Dabiq", "Die heimliche Unterstützung der Ansar", "Baqia", die üblicherweise zur Gestaltung von Internetseiten verwendet werden und oftmals der Kennzeichnung von Texten und Veröffentlichungen in jihadistischen Kommunikationskanälen dienen. Es wurde somit eine Vielzahl (über 900) Bilddateien mit einem direkten "IS"-Bezug festgestellt.

25 Die große Anzahl an "IS"-Veröffentlichungen im Speicher des Mobiltelefons des Antragstellers und die festgestellten Logos und Internetbanner, die zum Gestalten von jihadistischen Internetseiten verwendet werden, lässt darauf schließen, dass der Antragsteller nicht nur Konsument dieser Nachrichten ist, sondern diese aus Gründen der Verbreitung und Weiterleitung auf diverse jihadistische Medienportale und -kanäle bereithielt. Zudem wurden bei der Auswertung des Mobiltelefons des Antragstellers Telegram-Chatprotokolle gesichert (Bl. 527 ff. BA), die überwiegend nicht die Kommunikation zwischen zwei Personen abbilden, sondern sich zumeist an mehrere Personen oder einen bestimmten Empfängerkreis richten (Bl. 542 BA). Hierbei wurde ermittelt, dass der Antragsteller mittels Telegram-Chat "Grundsätze des Islamischen Staats" an vier Personen übersandte und mit den Worten "Das ist unser Weg, das ist unser Glaube" kommentierte (vgl. Vermerk des HLKA vom 24. August 2017, Gerichtsakte 1 A 8.17 , Bl. 423 ff.). Der Text lautet auszugsweise: "Die Kampagne zum Kampf gegen die Abtrünnigen, Recht und Tatsachen: Wiederveröffentlichung von Tatsachen Historie zur Entstehung der 'Khilafa' heute. Die Grundordnung und Prinzipien des Islamischen Staates: [...] 19 Der Islamische Staat spricht von 'Kufr' (Unglaube) in der Aktion eines Zauberers sowie die Notwendigkeit ihn zu töten und ihm keine Reue abzunehmen sobald man ihm habhaft wird ...". In einer diesbezüglichen islamwissenschaftlichen Stellungnahme vom 26. Juni 2017 wird ausgeführt, dass der Telegram-Eintrag die ideologischen Grundlagen des "IS" wiedergibt. So werde bekräftigt, dass Demokratie abgelehnt werde und alle (muslimischen) Staaten, welche für unislamische Systeme kämpfen als Ungläubige bzw. vom Islam abgefallen betrachtet werden. Die Worte des Antragstellers "Das ist unser Weg" (im Sinne von Credo/Dogma) sei als dessen Bekräftigung zu verstehen, dass er sich den geposteten "IS"-Doktrinen verpflichtet fühlt (Bl. 559 BA).

26 Auch der Umstand, dass der Antragsteller den "IS" in Form der Weiterverbreitung von "IS"-Propagandamaterial aktiv unterstützt, belegt seine hohe Identifizierung mit dem "IS" und dessen militanter, gewaltbereiter Auslegung des Islam. Zudem wurden in dem Mobiltelefon des Antragstellers verschiedene Telegram-Chatverläufe aufgefunden, die Aufrufe zu gewalttätigen Aktionen gegen sogenannte Ungläubige enthalten: "... wir kommen in Kürze zurück um die Affen und Schweine Enkel zu zertreten ... und die sündigen Al Suloulyeen und Aufständigen, die unsere Ehre verschmutzen" (Chatverlauf 4, Bl. 530 BA) und "Ausgabe der Al Walaa und Al Baraa Agentur: der gestrige Selbstmordanschlag in einem Restaurant im deutschen Anspach wurde durch einen Kämpfer des Islamischen Staates, auf Anordnung des Sheiks Al Adnani ausgeführt, der auf die Verbündeten der Kreuzzügler, die den Islamischen Staat bekämpfen zielte." (Chatverlauf 5, Bl. 530 BA; Al Adnani war ranghohes Gründungsmitglied des "IS". Er galt als Chef des "IS"-Geheimdienstes, Sprecher und Leiter der Propaganda. Bis zu seinem Tod im August 2016 galt er als Anwärter auf die Nachfolge des Anführers des "IS" al-Baghdadi.), ferner: "Im Namen des barmherzigen Gottes: Wir veröffentlichen ein paar Pläne über das gesegnete Attentat in Belgien. Vergesst eure Beteiligung bzw. Unterstützung gegen die Ungläubigen nicht" (Chatverlauf 21, Bl. 538 BA), "Mit Erlaubnis Gottes wird die nächste Aktion stärker sein als sonst" (Chatverlauf 22, Bl. 538 BA).

27 Auf dem Mobiltelefon des Antragstellers wurden u.a. eine Vielzahl von Anonymisierungs-Applikationen (Apps) festgestellt, die weit über das normale Maß hinausgehen und die es ermöglichen, sich anonym im Internet zu bewegen und Datenströme zu codieren bzw. zu anonymisieren. Es handelt sich um Programme wie VPN-Clients, IMEI-Changer, Security-Apps zum Fernlöschen des Gerätespeichers und Programme, um öffentliche WLAN-Netzwerke zu finden und von diesen aus anonymisierte Dateien zu versenden (Bl. 319, 525 ff. BA). Außerdem wurde ein IMEI-Changer festgestellt, der es ermöglicht, die IMEI eines Mobiltelefons zu ändern. Die Vielzahl dieser Art Apps lässt darauf schließen, dass es dem Antragsteller darum ging, sich mit maximaler Anonymität im Internet zu bewegen und seine Aktivitäten für den "IS" zu verschleiern.

28 Das von den Sicherheitsbehörden festgestellte und mit großem Aufwand betriebene, ausgeprägt konspirative Verhalten des Antragstellers ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Antragsteller zielgerichtet seine radikal-islamische Betätigung für den "IS" verschleiern wollte. Nach den Ermittlungen der Sicherheitsbehörden verhielten sich der Antragsteller und seine Kontaktpersonen deutlich professioneller und konspirativer als der Großteil der der islamistischen Szene angehörenden Personen. Innerhalb der radikal-islamischen Gruppe, der der Antragsteller angehört, wurden die Identitäten und Personalpapiere getauscht. Soweit der Antragsteller vorträgt, dass der sich bei seiner Festnahme am 15. August 2016 nicht mit den Papieren des K. Fk. ausgewiesen habe, sondern dessen Führerschein lediglich mit sich geführt habe, weil er in dessen Auftrag den Briefkasten geleert und den Führerschein dort gefunden habe, ist dies nicht glaubwürdig. Abgesehen davon, dass bereits nicht dargelegt wurde, wie und warum der Führerschein in den Briefkasten gelangt sein soll, haben die Ermittlungsbehörden festgestellt, dass der Antragsteller auch bei seiner Festnahme im Februar 2017 die Dokumente des K. Fk. mit sich führte. Darüber hinaus ergaben Kontrollen, dass der Pass des Antragstellers von anderen Personen genutzt wurde, um sich auszuweisen (vgl. Vermerk des HLKA vom 24. August 2017, Gerichtsakte 1 A 8.17 , Bl. 423, 426). Auch verfügte der Antragsteller nicht über einen festen Wohnsitz und wechselte die Übernachtungsmöglichkeiten sowie die von ihm genutzten Kraftfahrzeuge und Mobiltelefone (vgl. Bl. 197, 812, 821 BA). Während der Observierung versuchte er die eingesetzten Polizeikräfte abzuschütteln. Der Antragsteller war sich offenbar der polizeilichen Observation bewusst und äußerte in einem Telefonat im November 2016, dass man bei ihm keine Beweise finden konnte und er "sauber" sei (Bl. 358 BA). Auch wurde in dem Gespräch darauf verwiesen, dass man sich besser über den Messengerdienst WhatsApp unterhalten solle (Bl. 359 BA). Der Antragsteller war nach eigenen Angaben nie erwerbstätig, sicherte seinen Lebensunterhalt aber auch nicht mit Hilfe von Sozialleistungen. Telekommunikation betrieb er über mehrere Mobiltelefone, zum Teil mit unterschiedlichen SIM-Karten, die auf andere Personen registriert waren (Bl. 41 f. BA). Dabei benutzte er eine Vielzahl von Verschlüsselungs- und Anonymisierungsprogrammen, um sowohl den Inhalt der Gespräche als auch seinen Standort zu verschleiern.

29 Insbesondere nach seiner Entlassung aus der Auslieferungshaft am 4. November 2016 unterhielt der Antragsteller umfangreiche Kontakte zu einer Vielzahl von Personen, die der islamistischen Szene zuzurechnen sind (vgl. Bl. 188 ff. BA). Hierbei wurde festgestellt, dass Mitglieder der islamistischen Gruppe von dem Antragsteller Weisungen entgegennahmen (Bl. 662 BA). So hat zum Beispiel D. Db. auf die telefonische Weisung des Antragstellers einen Internetanschluss in seiner Wohnung einrichten lassen (Bl. 367 f. BA). Nach den Feststellungen des Hessischen Landeskriminalamts (HLKA) unterstützt sich dieser Personenkreis gegenseitig in Form wechselnder Nutzung von Identitäten, Fahrzeugen und Übernachtungsmöglichkeiten (Bl. 189 BA). Auch bereits vor seiner Ausreise aus Deutschland unterhielt der Antragsteller Kontakte zu Personen aus der islamistischen Szene, u.a. auch zu Personen, gegen die wegen staatsschutzgefährdender Aktivitäten strafrechtliche Ermittlungsverfahren durchgeführt wurden. So gehörte er einer Fußballgruppe an, die durch D. Wr. geleitet wurde (Bl. 331 ff. BA), der im Verdacht stand, die Teilnehmer mit islamistischem Gedankengut zu indoktrinieren. Ein anderer Teilnehmer dieser Gruppe, W. Wh., reiste im Mai 2013 nach Syrien bzw. in den Irak aus und schloss sich dem "IS" an. Nach den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden kam er dort bei einem Selbstmordattentat im Auftrag des "IS" ums Leben (Bl. 333 BA). Auch wurde im Rahmen der Auswertung des Mobiltelefons des Antragstellers nach seiner Festnahme am 15. August 2016 eine türkische Rufnummer festgestellt, die nach den Feststellungen des HLKA (Bl. 304 f. BA) Schleusern zuzurechnen ist, die Personen, welche sich dem "IS" anschließen wollen, über die Türkei nach Syrien ins Kampfgebiet bringen. Eine weitere enge Kontaktperson des Antragstellers ist W. Gm. Anlässlich einer Verkehrskontrolle im August 2011 gab W. Gm. an, nach der Scharia zu leben und zuvor eine Veranstaltung von S. Yr. in F. besucht zu haben (Bl. 336 BA). Von einer weiteren engen Kontaktperson des Antragstellers, N. Cj., ist bekannt, dass dieser wiederum zu D. Ur. Kontakt hatte (Bl. 339 BA) (, der im Zusammenhang mit der zwischenzeitlich verbotenen Vereinigung DawaFFM steht). Nach seiner Haftentlassung am 4. November 2016 übernachtete der Antragsteller bei P. Nr. Nach polizeilichen Erkenntnissen (Bl. 364 f. BA) erwarb dieser am 14. Dezember 2016 eine Slush-Eis-Maschine sowie verschiedene Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs (u.a. Haarblondierungsmittel, Poolreiniger, Schimmel- und Nagellackentferner), die für die Herstellung von Sprengstoff z.B. TATP Verwendung finden können (TATP fand man auch bei dem getöteten Imam H. Vd., der der geistige Anstifter der Attentäter von Barcelona war. Der Sprengstoff wurde in der Vergangenheit vom "IS" häufig verwendet; die sogenannten Jihadisten nennen ihn "Mutter des Satans", vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. August 2017 S. 3). Nach den polizeilichen Erkenntnissen besuchte der Antragsteller nach seiner Haftentlassung häufig die ...-Moschee in F. Am 10. Dezember 2016 verließ er die Moschee gemeinsam mit L. Pd., der über umfangreiche Kontakte in die salafistische Szene des Rhein-Main-Gebiets verfügt und gegen den wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gemäß § 89a StGB ermittelt worden war (Bl. 361 f. BA).

30 Dass der Antragsteller in terroristische Aktivitäten des "IS" involviert ist, wird ferner durch die Erkenntnisse des Bundesamts für Verfassungsschutz bestätigt, wonach der Antragsteller im Jahr 2014 die Reihen des "IS" in Syrien in Richtung Deutschland verließ und hier für den "IS" als Schleuser und Rekrutierer tätig war (Behördenzeugnis des Bundesamts für Verfassungsschutz vom 22. August 2016, Bl. 392 BA). In dem Behördenzeugnis des Bundesamts für Verfassungsschutz werden ferner acht Personen (überwiegend tunesischer Herkunft) als Kontaktpersonen des Antragstellers benannt. Nach der Festnahme des Antragstellers am 15. August 2016 und sich anschließenden Ermittlungen der Sicherheitsbehörden wurde festgestellt, dass die Kontaktpersonen des Antragstellers überwiegend mit den in dem Behördenzeugnis genannten Kontaktpersonen übereinstimmen. Die Erkenntnisse des Bundesamts für Verfassungsschutz werden wiederum durch Aussagen von Vertrauenspersonen der Polizei bestätigt, wonach der Antragsteller und seine Kontaktpersonen Anschläge in Tunesien planen. Der Antragsteller hätte Kontakt zu Personen in Tunesien, die dem "IS" angehörten. Auch in Deutschland plane der Antragsteller einen Anschlag. Hierfür solle der Antragsteller auf die Rückkehr von sogenannten Jihadisten aus Syrien, die sich an dem Anschlag beteiligen sollen, gewartet haben. Ein genaues Anschlagsziel sei ihr - der Vertrauensperson - nicht bekannt; es sei aber auffällig oft über Themen im Zusammenhang mit einem Weihnachtsmarkt gesprochen worden (Vernehmung der Vertrauensperson vom 10. Oktober 2016, Bl. 394 f. BA). Die Vertrauensperson der Polizei hat ferner angegeben, ihr sei bekannt, dass der Antragsteller schon lange Islamist sei und er dem "IS" schon Personen in Tunesien verraten habe, als diese Urlaub in ihrer Heimat machten. Er halte den Antragsteller für gefährlich, weshalb er seine Identität nicht preisgeben könne. Der Antragsteller kenne auch Herrn Nl. gut (P. Nl. wurde im Mai 2017 durch das Landgericht Frankfurt am Main zu drei Jahren Haft wegen Beteiligung am sogenannten Dschihad verurteilt).

31 Die Aussagen der Vertrauenspersonen wiederum werden bestätigt durch die Bekundungen des K. Fk. Dieser hat am 1. Februar 2017 (Bl. 486 f. BA) in einer Beschuldigtenvernehmung angegeben, dass er in der ...-Moschee in F. von anderen Personen erfahren habe, dass der Antragsteller "in Machenschaften des 'IS' in Tunesien verwickelt sei". Er wisse auch von dem Antragsteller persönlich, dass er Beziehungen zum "IS" habe. Er habe gehört, dass auch der Imam der ...-Moschee die angebliche Mitgliedschaft des Antragstellers im "IS" nicht gutgeheißen habe. Der Zeuge Nd. gab in seiner Vernehmung vom 31. Januar 2017 (Bl. 497 f. BA) an, dass der Antragsteller mehrfach bei ihm übernachtet habe und ihm aufgefallen sei, dass er sich sehr "komisch" verhalten und auf der Straße immer wieder nach hinten geschaut habe. Am letzten Tag, als der Antragsteller bei ihm übernachtet habe, habe dieser ihn aufgefordert, noch eine Runde mit dem Auto um den Block zu fahren, bevor er seine Wohnung betrete. Auch im Übrigen hätten sich der Antragsteller und seine Kontaktleute sehr konspirativ verhalten. Eine Person namens N. habe ihm geraten, sich von der Gruppe des Antragstellers fernzuhalten, da sie "ihm nur Probleme und Kopfschmerzen" bereiten würde. Wenn es wahr sei, was man über den Antragsteller erzähle, dann sei er für ihn ein Tier; er schäme sich, ihn kennengelernt zu haben. Auch wenn dieser Zeuge nicht direkt die Beziehung des Antragstellers zum "IS" bestätigt hat, so ergeben sich nach seiner Aussage doch Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller unmittelbar in Aktivitäten des "IS" verwickelt ist.

32 Die Erkenntnisse des Bundesamts für Verfassungsschutz, wonach der Antragsteller in Deutschland für den "IS" als Schleuser und Rekrutierer tätig war (Bl. 392 BA), werden durch weitere Ermittlungen der Sicherheitsbehörden untermauert. Im Zuge von Durchsuchungsmaßnahmen wurde bei einer Kontaktperson des Antragstellers, W. Gm., ein Laptop aufgefunden, der von mehreren Personen genutzt wurde. Bei den registrierten Skype-Accounts auf diesem Laptop namens "X" und "Y" wurde festgestellt, dass diese dem Antragsteller zuzuordnen sind (Bl. 684 ff., 720 BA). Die Auswertung der gespeicherten Chatprotokolle (Bl. 684 ff., 704, 709, 712, 714 ff. BA) belegt, dass der Antragsteller maßgeblich an der Planung und Organisation illegaler Einschleusungen von Personen aus dem nichteuropäischen Ausland in die Europäische Union und einer damit verbundenen Beschaffung und Erstellung gefälschter Dokumente beteiligt war. Mit einem namentlich nicht bekannten Gesprächspartner ("Z") erörterte er 2016 u.a., wie Iraker oder Syrer auf dem Landweg (über die Ukraine, Ungarn und Serbien) in die Europäische Union eingeschleust werden können. Der Gesprächspartner des Antragstellers gab zu erkennen, dass er gefälschte Personaldokumente (z.B. französische, italienische, auch biometrische Ausweise) besorgen könne (Bl. 709 BA). Auch die auf dem Laptop festgestellten eingescannten Reisepässe und Ausweisdokumente belegen diese Schleusertätigkeit.

33 Bei der Observierung des Antragstellers und der Telekommunikationsüberwachung wurde festgestellt, dass der Antragsteller über umfangreiche Kontakte in die islamistische Szene verfügt. Nach den Ermittlungen des BKA (Bl. 858, 865 BA) wurden unter den bei dem Antragsteller gefundenen Rufnummern auch diejenige des Q. Kd. festgestellt, zu dem die belgischen Behörden im August 2016 mitgeteilt hatten, dass er wegen Verdachts der Beteiligung an den Anschlägen in Paris festgenommen worden sei. Auch der als Drahtzieher der Paris-Attentate bekannte Z. Vx. konnte als Kontaktperson des Antragstellers festgestellt werden. Ferner hatte der Antragsteller Kontakt zu Personen, die nach Syrien bzw. in den Irak ausgereist sind und sich dem "IS" angeschlossen haben (Bl. 866 BA). Dies belegt auch die Aussage der polizeilichen Vertrauensperson vom 13. Oktober 2016 (Bl. 397 BA), wonach der Antragsteller P. Nl. gut kannte, der 2017 wegen Beteiligung am sogenannten Jihad verurteilt wurde. Soweit der Antragsteller behauptet, P. Nl. nicht zu kennen, ist dies vor dem Hintergrund der vom Antragsteller nicht substantiiert bestrittenen Szeneeinbindung und der nachgewiesenen Verbindung zu Personen, die nach Syrien und in den Irak reisten, um an sogenannten jihadistischen Kampfhandlungen teilzunehmen oder dort Selbstmordanschläge zu begehen, als Schutzbehauptung anzusehen. Soweit der Antragsteller hinsichtlich W. Wh., der bei einem Selbstmordattentat im Auftrag des "IS" ums Leben kam, rügt, dass der Antragsgegner nicht dargelegt habe, in welcher Beziehung dieser zum Antragsteller stehe, ergibt sich aus den Ermittlungen der Sicherheitsbehörden, dass W. Wh. und der Antragsteller einer Fußballgruppe angehörten, die von Angehörigen der islamistischen Szene besucht wurde.

34 Aufgrund der Erkenntnisse der Verfassungsschutz- und Sicherheitsbehörden und der von den tunesischen Behörden mitgeteilten Erkenntnisse hält es der Senat für hinreichend wahrscheinlich, dass der Antragsteller einen Terroranschlag in Deutschland begeht. Die von ihm ausgehende Bedrohungssituation kann sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umschlagen.

35 Nach den vorliegenden Erkenntnissen hat der Antragsteller in den Reihen des "IS" gekämpft. Personen, die in den Gebieten des "IS" Kampferfahrung erworben haben, weisen einerseits ein hohes Gefährdungspotenzial auf, da sie Erfahrung im Umgang mit Waffen sowie Spreng- und Brandvorrichtungen, eine (para)militärische Ausbildung erlangt haben und sich weiter radikalisiert haben können. Andererseits erhöht die Kampferfahrung im sogenannten Jihadgebiet das Ansehen in der islamistischen Szene, wodurch nach Rückkehr in die Europäische Union eine zielgerichtete Indoktrinierung und Rekrutierung weiterer Personen stattfinden kann (vgl. HLKA, Bericht vom 20. Januar 2017, Bl. 858, 866 f. BA). Auch die durch das BKA mittels des wissenschaftlichen Risikobewertungsinstruments RADAR ITE vorgenommene Analyse ergab für den Antragsteller "ein hohes Risiko für die Durchführung eines Anschlags" (Bl. 867 BA). Es besteht die konkrete Gefahr, dass der Antragsteller über die Unterstützung der Ziele des "IS" und die Tätigkeit als Rekrutierer und Schleuser hinaus selbst terroristische Handlungen begehen könnte.

36 Zudem bestreitet der Antragsteller nicht, Angehöriger des "IS" zu sein, mit dessen Märtyrer-Ideologie zu sympathisieren und den "IS" zu unterstützen. Vielmehr trägt er lediglich vor, dass der Nachweis hierfür nicht erbracht sei. Hiervon ist indes aufgrund der vorliegenden, umfangreichen Erkenntnisse auszugehen. Nach den Angaben der tunesischen Behörden und den von diesen vorgelegten Erkenntnissen hat sich der Antragsteller in Syrien dem "IS"-Terrornetzwerk angeschlossen und plant die Ausübung von Anschlägen in Tunesien. Dies wird durch die Erkenntnisse der Verfassungsschutz- und Sicherheitsbehörden bestätigt, wonach der Antragsteller in terroristische Aktivitäten des "IS" involviert ist und Anschläge sowohl in Tunesien als auch in Deutschland plant sowie als Rekrutierer und Organisator für den "IS" tätig ist. Ferner ergibt sich auch aus Zeugenaussagen, dass der Antragsteller eine bedeutsame Funktion bei der Terrormiliz "IS" innehat. Dass sich der Antragsteller mit den Zielen des "IS" in hohem Maße identifiziert, für dessen Ziele einsetzt und diese für sich verpflichtend ansieht sowie eine militante, gewaltbereite Auslegung des Islam und den sogenannten Jihad befürwortet, ergibt sich insbesondere daraus, dass der Antragsteller im Besitz eines Textes mit dem Titel "Die Grundordnung und Prinzipien des Islamischen Staates" war, der einer islamwissenschaftlichen Stellungnahme zufolge die ideologischen Grundlagen des "IS" dokumentiert. Dadurch, dass der Antragsteller diese mit den Worten "Das ist unser Weg, das ist unser Glaube" bestätigte, brachte er zum Ausdruck, dass er sich den "IS"-Doktrinen verpflichtet fühlt und sie für sich als Dogma anerkennt. Die hohe Identifikation mit der menschenverachtenden Ideologie des "IS" kommt ferner auch darin zum Ausdruck, dass er diese "Grundsätze des Islamischen Staates" an weitere Personen postete und hierdurch versuchte, weitere Personen zu radikalisieren bzw. diese in ihrer radikal-islamischen Einstellung zu verfestigen. Anzeichen für die Gewaltbereitschaft des Antragstellers sind auch die bei ihm sichergestellten Bilddateien mit grausamen und menschenverachtenden Tötungsszenen. Zudem wurde eine Vielzahl von Bilddateien mit direktem "IS"-Bezug festgestellt.

37 Aus dem sichergestellten Bildmaterial ergeben sich darüber hinaus Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller Bildcollagen zur Anfertigung von "IS"-Propagandamaterial verwendete, dieses weiterverbreitete und somit in die medialen Aktivitäten des "IS" einbezogen war. Darauf deutet auch die Sicherstellung eines Bildes hin, das die Einheiten des "IS" illustriert, die sich auf die Aktivitäten des "IS" im Bereich der Informationstechnologie spezialisiert haben. Auch wurden Logos von Medienstellen des "IS" aufgefunden, die zur Gestaltung von jihadistischen Internetseiten verwendet werden. Die Annahme, dass der Antragsteller in "IS"-Aktivitäten verstrickt ist, wird ferner durch das ausgeprägt konspirative, mit quasi-professionellem Aufwand betriebene Verhalten des Antragstellers bestätigt. Die Vielzahl der festgestellten Verschlüsselungs- und Anonymisierungsprogramme belegt, dass der Antragsteller bei seinen Internetaktivitäten eine größtmögliche Verschleierung und Anonymisierung angestrebt hat. Das ferner bei den Observierungsmaßnahmen festgestellte konspirative Verhalten des Antragstellers und der Umstand, dass er mehrfach seine Identitäten, Wohnungen, Kraftfahrzeuge und Rufnummern wechselte, ist ebenfalls ein starkes Indiz für die Verstrickung des Antragstellers in "IS"-Aktivitäten. Außerdem unterhielt der Antragsteller ausschließlich Kontakte zu Personen, die der islamistischen Szene zuzurechnen sind, wobei seine Kontakte bis zu Drahtziehern der Terroranschläge von Paris sowie Personen reichen, die nach Syrien und Irak ausreisten, um an sogenannten jihadistischen Kampfhandlungen teilzunehmen oder Selbstmordanschläge zu begehen. Die Gefährlichkeit des Antragstellers und seiner Kontaktpersonen ergibt sich ferner auch daraus, dass die Kontaktpersonen bereits Gegenstände erworben hatten, die beim Bombenbau Verwendung finden können (Slush-Eis-Maschine). Nach den Erkenntnissen des Bundesamts für Verfassungsschutz war der Antragsteller in Deutschland darüber hinaus als Schleuser und Rekrutierer für den "IS" tätig. Dies wird untermauert durch eine auf dem Mobiltelefon des Antragstellers sichergestellte türkische Rufnummer, die Schleusern zuzurechnen ist, die Personen über die Türkei nach Syrien ins Kampfgebiet bringen. Zudem ergab die Auswertung von Chatprotokollen, die bei einer Kontaktperson des Antragstellers namens W. Gm. aufgefunden wurden und dem Antragsteller zugeordnet werden konnten, dass der Antragsteller maßgeblich an der Planung und Organisation illegaler Einschleusung von Personen aus dem nichteuropäischen Ausland (auch aus Syrien und Irak) in die Europäische Union beteiligt war.

38 Die Gesamtschau der den Antragsteller betreffenden Erkenntnisse, seiner Persönlichkeit, seines Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren Einstellung und der Verbindung zu anderen radikal-islamischen Personen ergibt, dass der Antragsteller zur Durchsetzung seiner radikal-islamischen, der "IS"-Ideologie verhafteten Einstellung bereit ist, seiner islamistischen Überzeugung durch gewaltsame oder terroristische Methoden Ausdruck zu verleihen. Dass er grundsätzlich eine persönlichkeitsbedingte Gewaltbereitschaft zur Durchsetzung seiner Wertvorstellungen hat, wird auch dadurch belegt, dass er seine Ehefrau misshandelte und aufgrund seiner radikal-islamischen Einstellung annahm, hierzu auch berechtigt zu sein.

39 cc) Selbst wenn man unterstellt, dass die Abschiebungsanordnung eine dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98) unterfallende Rückkehrentscheidung darstellt, ist sie mit den sich hieraus dann ergebenden unionsrechtlichen Vorgaben zu vereinbaren.

40 Insbesondere musste dem Antragsteller keine Frist zur freiwilligen Ausreise eingeräumt werden, da von ihm eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und die nationale Sicherheit ausgeht (Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG). Der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung steht bei unterstellter Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115/EG auch nicht entgegen, dass der Antragsgegner unter Ziffer II. des angegriffenen Bescheids ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet hat (vgl. hierzu die Ausführungen des Senats im Verweisungsbeschluss vom 22. August 2017 - 1 A 10.17 -). Die Regelungen in § 11 Abs. 1, 2 und 5 AufenthG, wonach bei jeder Abschiebung kraft Gesetzes ein Einreise- und Aufenthaltsverbot eintritt, das von der Ausländerbehörde beim Vollzug einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG nicht befristet werden darf, solange die oberste Landesbehörde nicht im Einzelfall eine Ausnahme zulässt, stünde dann zwar nicht im Einklang mit Art. 11 Abs. 2 Richtlinie 2008/115/EG. Denn danach bedarf ein mit einer Rückkehrentscheidung einhergehendes Einreiseverbot immer einer Einzelfallentscheidung zu seiner Dauer. Diese unionsrechtliche Vorgabe hätte im Falle ihrer Anwendbarkeit zur Folge, dass bei einer Abschiebungsanordnung allein durch eine Abschiebung ohne eine solche Einzelfallentscheidung kein Einreise- und Aufenthaltsverbot entstehen würde. Auch eine fehlerhafte behördliche Entscheidung zur Dauer des Einreiseverbots würde indes nicht zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung führen, da es sich hierbei um eine eigenständige und selbstständig anfechtbare Entscheidung zu den Rechtsfolgen einer vollzogenen Abschiebungsanordnung handelt. Die hiermit verbundenen Fragen des nationalen Rechts und des Unionsrechts können hier mithin offenbleiben.

41 dd) Die Abschiebungsanordnung ist auch nicht ermessensfehlerhaft und genügt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner dem öffentlichen Interesse an der Abwehr der vom Antragsteller ausgehenden terroristischen Gefahr ein höheres Gewicht beimisst als dessen Interesse am Verbleib in Deutschland. Der Schutz der Allgemeinheit vor Terroranschlägen gehört zu den wichtigsten öffentlichen Aufgaben und kann auch sehr weitreichende Eingriffe in die Rechte Einzelner rechtfertigen (BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 1973 - 1 BvR 23/73, 1 BvR 155/73 - BVerfGE 35, 382 <402 f.>; Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09 u.a. - BVerfGE 141, 220 Rn. 96, 132).

42 Der Antragsgegner hat bei seiner Entscheidung gewürdigt, dass der Antragsteller, da seine Niederlassungserlaubnis gemäß § 51 Abs. 1 Ziff. 7 AufenthG durch seine Ausreise erloschen war, nicht über ein verfestigtes Aufenthaltsrecht in Deutschland verfügt und auch keiner ordnungsgemäßen Beschäftigung nachgeht. Der Antragsteller verfügt ferner nicht über familiäre Bindungen zu hier lebenden Personen; die Ehe mit einer deutschen Staatangehörigen wurde bereits im Jahr 2009 geschieden. Außerdem hat der Antragsteller zwischenzeitlich eine tunesische Staatsangehörige geheiratet. Er hat keinen festen Wohnsitz und keinerlei Bindungen zur deutschen Gesellschaft. Seine sozialen Kontakte in Deutschland beschränken sich auf Personen, die ebenfalls Teil der radikal-islamischen Szene sind. Ferner ist dem Antragsteller eine Integration in die Lebensverhältnisse seines Heimatlandes zumutbar, in dem er bis zu seinem 22. Lebensjahr gelebt hat, zumal er arabisch spricht und seine Ehefrau in Tunesien lebt.

43 2. Dem Vollzug der Abschiebungsanordnung stehen auch keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote entgegen, sofern die sich aus dem Tenor ergebende Zusicherung erteilt wird. Das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG steht dem Erlass einer Abschiebungsanordnung nicht entgegen. Es führt aber dazu, dass der Betroffene nicht in diesen Staat abgeschoben werden darf (§ 58a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 59 Abs. 2 und 3 AufenthG in entsprechender Anwendung). Aus diesem Grund hat die zuständige Behörde beim Erlass einer Abschiebungsanordnung in eigener Verantwortung zu prüfen, ob der beabsichtigten Abschiebung ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG entgegensteht. Dies umfasst sowohl die Frage, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz als Flüchtling (§ 60 Abs. 1 AufenthG) oder als subsidiär Schutzberechtigter (§ 60 Abs. 2 AufenthG) vorliegen, als auch die Prüfung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.

44 a) § 60 Abs. 1 AufenthG steht dem Vollzug der Abschiebungsanordnung ebenso wenig entgegen wie der vom Antragsteller nach Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung vom 9. März 2017 gestellte Asylantrag. Die Aufenthaltsgestattung eines Ausländers, der um Asyl nachsucht, erlischt gemäß § 67 Abs. 1 Nr. 5a AsylG mit der Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG. Ferner kann nach § 60 Abs. 9 AufenthG ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes abgeschoben werden. Nach § 60 Abs. 8 AufenthG findet - in Umsetzung der Ausnahme vom Refoulement-Verbot des Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention und im Einklang mit Art. 21 Abs. 2 Buchst. a der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU - § 60 Abs. 1 AufenthG u.a. keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist. Hiervon ist auszugehen, wenn es - wie hier - hinreichend wahrscheinlich ist, dass von dem Ausländer eine terroristische Gefahr ausgeht.

45 b) Eine vom Antragsteller angesprochene Gefahr der Todesstrafe steht der Abschiebung hier nicht entgegen. Zwar kann die Gefahr einer Verhängung der Todesstrafe nicht ausgeschlossen werden. Die Gefahr einer Todesstrafe ist dann zu beachten, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung konkrete und ernsthafte Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Betroffene individuell von der Todesstrafe bedroht wird (BVerwG, Urteil vom 1. Dezember 1987 - 1 C 29.85 - BVerwGE 78, 285 <295>). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017 (S. 12, 17) ist mit dem am 7. August 2015 in Kraft getretenen Antiterrorgesetz die Todesstrafe für terroristische Straftaten in Tunesien eingeführt worden. Seit Jahresbeginn 2015 wurden gegen mehrere Dutzend Terroristen rechtskräftige Urteile, darunter auch Todesurteile verhängt. Das tunesische Antiterrorgesetz sieht indes nicht für alle Straftaten, die einen Bezug zum Terrorismus aufweisen, die Todesstrafe vor, sondern nur in besonders schweren Fällen. Dies ist vor allem bei vorsätzlichen Tötungsdelikten der Fall sowie bei anderen terroristischen Straftaten, wenn dadurch der Tod eines Menschen verursacht worden ist (vgl. u.a. Art. 14 Abs. 2 tunesisches Antiterrorgesetz, vgl. Bl. 248 BA).

46 Die tunesischen Strafverfolgungsbehörden haben das Auslieferungs- bzw. Festnahmeersuchen darauf gestützt, nach dem Antragsteller werde wegen einer Vielzahl von im Einzelnen aufgelisteten Delikten gefahndet, darunter auch Tötungsdelikte, gemeingefährliche Delikte, Gewaltdelikte, illegaler Bombenbau, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Planung von Terrorakten. Die internationale Fahndung zur Festnahme enthielt eine "Sachverhaltsfeststellung", der sich sinngemäß der Vorwurf entnehmen lässt, dass der Antragsteller in mehrere in Tunesien begangene Terrorakte verwickelt gewesen sein soll, darunter dem Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis, bei dem 24 Menschen getötet wurden (Bl. 204 BA). Die am 26. Mai 2016 erhobene Anklage (Bl. 225 BA) richtet sich gegen den Antragsteller und 82 weitere Personen und zählt die gegen diese erhobenen Vorwürfe lediglich wie oben dargestellt ohne personenspezifische Zuordnung auf. Zu dem Auslieferungsersuchen wurde ergänzend angegeben, der Antragsteller solle die Tunesische Republik in Richtung Syrien verlassen und sich 2013 dem "ISIS"-Terrornetz angeschlossen haben (Bl. 221 BA). Über eine Chat-App habe er Sympathisanten des Terrornetzwerks "IS" angeworben bzw. potentielle terroristische "ISIS"-Anhänger aus der Tunesischen Republik nach Syrien geschleust. In einem Schreiben vom 23. August 2016 wird lediglich mitgeteilt, gegen den Antragsteller lägen vier Haftbefehle vor, darunter zwei wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (Bl. 272 BA). Der Vorwurf der Beteiligung an dem Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis wurde möglicherweise zwischenzeitlich fallengelassen; davon geht jedenfalls auch der Antragsteller aus (Schriftsatz vom 5. August 2017 S. 11). Auch die zuletzt ergänzten Auslieferungsunterlagen von März/April 2017 bleiben wenig konkret; dort ist von einer "Beteiligung an terroristischen Straftaten" die Rede. Einem verdeckten Ermittler sei (wohl im Jahr 2016) offenbart worden, dass sich der Antragsteller seit zwei Jahren an den syrisch-türkischen Grenzen befinde und mit Hilfe seines Neffen zehn potentielle "IS"-Anhänger über die Grenzen schleusen wolle. Neue Erkenntnisse ergeben sich insoweit möglicherweise aus Gesprächen, die Vertreter der Hessischen Generalstaatsanwaltschaft Anfang September 2017 in Tunis geführt haben und von denen im Schriftsatz des Antragsgegners vom 19. September 2017 berichtet wird. Den Inhalt des Schriftsatzes hat der Senat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allerdings nicht verwertet, da der Antragsteller noch keine Gelegenheit hatte, hierzu Stellung zu beziehen. Zudem steht die Bestätigung der Gesprächsergebnisse durch die tunesischen Gesprächspartner noch aus.

47 Vor diesem Hintergrund geht der Senat - auch im Hinblick auf die nicht eindeutigen Verlautbarungen der tunesischen Behörden, die zweifelhafte Qualität der beigefügten Übersetzungen tunesischer Dokumente und den Umstand, dass bislang nur wenige Erfahrungen mit der Anwendung des tunesischen Antiterrorgesetzes vorliegen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017 S. 12) - derzeit zugunsten des Antragstellers davon aus, dass die Verhängung der Höchststrafe durch tunesische Gerichte vorliegend zumindest in Betracht kommt.

48 Allerdings wird die Todesstrafe in Tunesien de facto nicht vollstreckt. Die letzte Vollstreckung fand im Jahr 1991 statt (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017 S. 17; Amnesty International Report 2016/2017 S. 4). In dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren betreffend die mit der Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers verbundene Abschiebungsandrohung (VG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 5. April 2017 - 6 L 2695/17.F.A. und vom 26. Juli 2017 - 6 L 6363/17.F.A.) hat das tunesische Außenministerium in einer Verbalnote vom 11. Juli 2017 ebenfalls betont, dass Tunesien ein Moratorium einhält, auch wenn im tunesischen Strafgesetzbuch die Todesstrafe vorgesehen ist.

49 Entgegen der Auffassung des Antragstellers begründet jedoch allein der Umstand, dass gegen den Antragsteller im Zuge eines möglichen Strafverfahrens die Todesstrafe verhängt werden kann, hier kein Abschiebungsverbot. Ein solches ergibt sich nicht aus § 60 Abs. 2 AufenthG. Danach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Abs. 1 AsylG bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 AsylG liegt ein Abschiebungsverbot vor, wenn die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe droht. Dem Antragsteller droht aufgrund des in Tunesien seit Jahren bestehenden Moratoriums nicht die Vollstreckung der Todesstrafe. Der Antragsteller erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des unionsrechtlichen subsidiären Schutzes, auf den § 60 Abs. 2 AufenthG durch Inbezugnahme von § 4 Abs. 1 AsylG verweist. Er ist hiervon vielmehr wegen der von ihm ausgehenden terroristischen Gefahr nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG ausgeschlossen. Das nationale Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG kann daher durch § 60 Abs. 3 AufenthG ohne Verletzung des Unionsrechts begrenzt und präzisiert werden. § 60 Abs. 3 AufenthG bestimmt aber einschränkend und insoweit als lex specialis, dass bei der Entscheidung über den Abschiebungsschutz im Falle der Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung finden. Die Vorschriften über die Auslieferung finden sich im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 27. Juli 1994 (BGBl. I S. 1537), zuletzt geändert durch Art. 11 Abs. 21 des Gesetzes vom 18. Juli 2017 (BGBl. I S. 2745). Nach § 8 IRG ist die Auslieferung dann, wenn die Tat nach dem Recht des ersuchenden Staates mit der Todesstrafe bedroht ist, nur zulässig, wenn der ersuchende Staat zusichert, dass die Todesstrafe nicht verhängt oder nicht vollstreckt wird. Auch nach gefestigter Rechtsprechung genügt die Zusicherung, dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wird (vgl. OLG München, Beschluss vom 7. Dezember 2012 - OLG Ausl 14 Ausl A 1156/12 (274/12) u.a. - StV 2013, 313 = juris Rn. 18; OLG Dresden, Beschluss vom 14. Januar 2011 - OLG Ausl 179/10 - juris Rn. 21 ff.; Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Band 1, Stand: Juni 2017, § 60 AufenthG Rn. 11; vgl. auch Art. 11 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 <BGBl. 1964 II S. 1371>).

50 Der etwaigen Gefahr einer möglichen Vollstreckung der Todesstrafe gegen den Antragsteller kann daher mit einer geeigneten diplomatischen Zusicherung begegnet werden, da die Gefahr einer gegen Art. 2 EMRK verstoßenden Behandlung durch eine derartige Zusicherung beseitigt werden kann (vgl. EGMR, Urteile vom 2. März 2010 - Nr. 61498/08, Al-Saadoon and Mufdhi/U.K. - Rn. 143 und vom 24. Juli 2014 - Nr. 28761/11, Al-Nashiri/Polen - NVwZ 2015, 955 Rn. 587 f.). Eine solche Zusicherung hat das Tunesische Außenministerium mit Verbalnote vom 11. Juli 2017 abgegeben. Nimmt man hinzu, dass in Tunesien nach 1991 kein Todesurteil mehr vollstreckt worden ist (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017, S. 17), hält der Senat die Gefahr der Vollstreckung der Todesstrafe gegen den Antragsteller für ausgeschlossen.

51 Vor diesem Hintergrund begründet die Gefahr einer Verhängung der Todesstrafe vorliegend auch kein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach dem Wortlaut der EMRK (Art. 2 Abs. 1 Satz 2) ist die Vollstreckung eines Todesurteils nicht verboten, sofern sie "ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist". In der Vergangenheit hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) daher wiederholt entschieden, dass Art. 2 und 3 EMRK die Todesstrafe nicht allgemein verbieten. Es könne aber sein, dass Umstände im Zusammenhang mit der Todesstrafe (z.B. die Art und Weise der Verhängung oder Vollstreckung, die persönlichen Umstände der verurteilten Personen, die Haftbedingungen oder die Disproportionalität zur Schwere der Tat) den Schutzbereich des Art. 3 EMRK berühren (EGMR, Urteil vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering/U.K. - EuGRZ 1989, 314 Rn. 103 f.). Im Urteil Öcalan gegen Türkei (Urteil vom 12. Mai 2005 - Nr. 46221/99 - EuGRZ 2005, 463 Rn. 165, 169, 175) hat der Gerichtshof angenommen, dass jedenfalls die Verhängung der Todesstrafe nach einem unfairen Verfahren konventionswidrig ist. Nach Inkrafttreten der Artikel 1 der Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur EMRK, die die Abschaffung der Todesstrafe regeln (Satz 1) und bestimmen, dass niemand zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden darf (Satz 2), hat der Gerichtshof in Fortentwicklung seiner Rechtsprechung entschieden, dass Art. 2 EMRK die Auslieferung oder Ausweisung einer Person in einen anderen Staat verbietet, wenn er dort der ernsthaften Gefahr ("real risk") ausgesetzt ist, durch die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe sein Leben zu verlieren (EGMR, Urteile vom 19. November 2009 - Nr. 41015/04, Kaboulov/Ukraine - Rn. 99 ff.; vom 2. März 2010 - Nr. 61498/08, Al-Saadoon and Mufdhi/U.K. - Rn. 115 ff., 123, 144 und vom 24. Juli 2014 - Nr. 28761/11, Al-Nashiri/Polen - NVwZ 2015, 955 Rn. 576 ff.). Mit der Unterzeichnung des Protokolls Nr. 13 zur EMRK hätten die Mitgliedstaaten des Europarats anerkannt, dass die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe grundlegende Menschenrechte negiert. In der Präambel zu Protokoll Nr. 13 zur EMRK brächten sie die Überzeugung zum Ausdruck, dass in einer demokratischen Gesellschaft das Recht jedes Menschen auf Leben einen Grundwert darstellt und die Abschaffung der Todesstrafe für den Schutz dieses Rechts und für die volle Anerkennung der allen Menschen innewohnenden Würde von wesentlicher Bedeutung ist (vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juli 2014 - Nr. 28761/11, Al-Nashiri/Polen - NVwZ 2015, 955 Rn. 577). Der Gerichtshof sieht jedoch nicht bereits in der (isolierten) Verhängung der Todesstrafe einen Verstoß gegen Art. 2 EMRK, sondern stellt darauf ab, ob die ernsthafte Gefahr einer Tötung aufgrund einer Todesstrafe ("real risk of execution") besteht (vgl. EGMR, Urteile vom 19. November 2009 - Nr. 41015/04, Kaboulov/Ukraine Rn. 103 und vom 2. März 2010 - Nr. 61498/08, Al-Saadoon and Mufdhi/U.K. - Rn. 137, 144; vgl. auch: Grabenwarter/Pabel, EMRK, 6. Aufl. 2016, § 20 Rn. 12). In diesem Sinne ist nach Auffassung des Senats auch Art. 19 Abs. 2 Grundrechte-Charta (ernsthaftes Risiko der Todesstrafe) zu verstehen, so dass sich aus dieser Vorschrift - ihre Anwendbarkeit unterstellt - kein weitergehender Abschiebungsschutz ergibt.

52 Im Hinblick auf die eingetretene Fortentwicklung des Völker- und Unionsrechts ist von einer unmenschlichen Behandlung oder Bestrafung dann auszugehen, wenn die ernsthafte Gefahr eines Vollzugs der Todesstrafe droht. Es besteht jedenfalls kein Bedürfnis, Abschiebungsschutz zu gewähren, wenn durch geeignete zwischenstaatliche Vereinbarungen oder Zusicherungen die Vollstreckung der Todesstrafe ausgeschlossen worden ist.

53 c) Nachdem die Gefahr einer Verhängung der Todesstrafe bisher nicht ausgeschlossen werden konnte und diese vor dem Hintergrund des Moratoriums faktisch oder aufgrund der Umwandlung anlässlich von Amnestien (vgl. dazu Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017, S. 17) eine lebenslange Freiheitsstrafe bedeuten kann, ferner nach bisherigem Erkenntnisstand auch die Verurteilung des Antragstellers zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe in Betracht kommt, ist indes auch von der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer lebenslangen Freiheitsstrafe auszugehen. Eine solche ist nur dann mit Art. 3 EMRK zu vereinbaren, wenn eine Möglichkeit der Überprüfung der Strafe mit der Aussicht auf Umwandlung oder Herabsetzung der Haftdauer gegeben ist (vgl. EGMR, Urteil vom 4. September 2014 - Nr. 140/10, Trabelsi/Belgien - Rn. 112 f. und vom 17. Januar 2017 - Nr. 57592/08, Hutchinson/U.K. - Rn. 42). Der Senat hat die Abschiebung daher von der Bedingung abhängig gemacht, dass eine entsprechende Zusicherung erteilt wird. Bevor auf der Grundlage einer solchen Zusicherung die Abschiebung erfolgt, ist dem Antragsteller Gelegenheit zu geben, hierzu Stellung zu nehmen und gegebenenfalls um Rechtsschutz nachzusuchen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - juris Rn. 50).

54 d) Die vom Antragsteller geltend gemachte Gefahr der Folter oder einer anderen gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung oder Bestrafung im Falle der Abschiebung des Antragstellers (Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG) droht ihm nach den im vorliegenden Verfahren verfügbaren Erkenntnissen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

55 Tunesien befindet sich in einem allgemeinen demokratischen Transitionsprozess, der in vielen Bereichen, unter anderem auch im Justizbereich, noch nicht abgeschlossen ist. Mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung durch die verfassungsgebende Versammlung am 26. Januar 2014 gelang Tunesien ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer demokratischen Staatsordnung. Sie beinhaltet u.a. die Garantie universeller Menschenrechte und die Garantie der Unabhängigkeit der Justiz. Art. 23 der tunesischen Verfassung garantiert den Schutz der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit, verbietet seelische und körperliche Folter und schließt eine Verjährung des Verbrechens der Folter aus. Art. 128 der tunesischen Verfassung sieht die Gründung einer unabhängigen Instanz für Menschenrechte ("Menschenrechtskommission") mit beratender Funktion vor (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017 S. 5, 16). Mit der Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe am 29. Juli 2011 hat sich Tunesien zur Einrichtung eines nationalen Präventionsmechanismus (NPM) verpflichtet. Mit Gesetz vom 23. Oktober 2013 wurde eine innerstaatliche Rechtsgrundlage zur Bildung einer unabhängigen Instanz für Folterprävention (INPT) geschaffen, zu deren Aufgabe die Durchführung unangemeldeter Besuche in allen Orten des Freiheitsentzugs gehört sowie die Beratung von Exekutive und Legislative bei der Verbesserung des rechtlichen Rahmens und der Rechtswirklichkeit. Im Sommer 2016 ist eine überarbeitete Version der Strafprozessordnung in Kraft getreten, wonach der Polizeigewahrsam maximal vier Tage betragen darf. Darüber hinaus wurde das Recht des Verdächtigen auf einen Rechtsbeistand (auch schon während des Polizeigewahrsams) kodifiziert. Generell wird die neue Strafprozessordnung von Nichtregierungsorganisationen als großer Fortschritt beurteilt, wobei aber auch hier Umsetzungsdefizite bestehen, die den Verantwortlichen in Tunesien bewusst sind. Ausnahmen gelten jedoch für Beschuldigte, die unter das Antiterrorgesetz vom 7. August 2015 fallen. Sie dürfen bis zu 15 Tage in polizeiliche Untersuchungshaft genommen werden; der Zugang eines Anwalts kann dabei für 48 Stunden nach Ingewahrsamnahme auf Anordnung des Untersuchungsrichters oder eines Staatsanwalts verweigert werden (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017 S. 12 f.). Bislang liegen nur wenige konkrete Erfahrungen zu der Anwendung des Antiterrorgesetzes vor. Die neu eingeführte Untersuchungsinstanz in Terrorangelegenheiten hat ihre Arbeit jedoch inzwischen aufgenommen und bemüht sich um eine umfassende Aufarbeitung (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017 S. 12). Den Reformwillen stellt die tunesische Regierung auch dadurch unter Beweis, dass das tunesische Justizministerium mit zahlreichen nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen Vereinbarungen getroffen hat, die ihnen Besuche in Haftanstalten etc. ermöglichen. Seit 2005 besteht überdies eine Vereinbarung zwischen der Regierung und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), die es dem IKRK ermöglicht, die Haftanstalten zu besuchen und der Regierung periodisch zu berichten. Ausweislich der Verbalnote des Tunesischen Außenministeriums vom 11. Juli 2017 hat Tunesien im Falle des Antragstellers zum Ausdruck gebracht, dass auch dem Internationalen Roten Kreuz, dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, der tunesischen Menschenrechtsliga sowie der Nationalen Instanz für die Verhütung von Folter uneingeschränkter Zugang zum Antragsteller gewährt wird.

56 Amtliche Informationen oder Statistiken, die belastbare Aussagen über Menschenrechtsverletzungen (insbesondere gegenüber Terrorverdächtigen) zulassen, liegen nicht vor. Die tunesische Regierung räumt aber mit wiederholten Bekenntnissen zur Folterprävention und zum Kampf gegen die Straflosigkeit von Amtspersonen, die sich entsprechender Vergehen schuldig gemacht haben, indirekt Verfehlungen ein und verspricht eine juristische Aufarbeitung solcher Vorwürfe (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017 S. 16). Tunesische und internationale Medien sowie spezialisierte Nichtregierungsorganisationen, wie beispielsweise die "Organisation contre la Torture en Tunisie" (OCTT), berichten über Einzelfälle von rechtswidrigen Verletzungen der körperlichen oder seelischen Unversehrtheit von Personen bis ins Jahr 2016 hinein (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017 S. 16 f.). Amnesty International berichtet davon, dass einige der nach dem Anschlag auf das Bardo-Museum und dem Angriff auf die Stadt Ben Guerdane festgenommenen Verdächtigen nach eigenen Angaben gefoltert worden seien (Amnesty International Report 2016/2017 S. 2).

57 Etwaigen Gefahren kann indes auch insoweit mit einer diplomatischen Zusicherung begegnet werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 43; BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - juris Rn. 48 f.). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht in solchen Zusicherungen unter bestimmten Voraussetzungen ein geeignetes Instrument zur Ausräumung der Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung selbst bei Staaten, in denen - anders als in Tunesien - systematisch gefoltert und misshandelt wird (EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012 - Nr. 8139/09, Othman/U.K. - NVwZ 2013, 487 Rn. 188 f.).

58 Zwar trägt der Antragsteller in seinem Schriftsatz vom 20. August 2017 unter Berufung auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteile vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi/Italien - NVwZ 2008, 1330 und vom 24. Februar 2009 - Nr. 246/07, Ben Khemais/Italien -) vor, aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich, dass im Falle der Abschiebung nach Tunesien Zusicherungen keinen wirksamen Schutz vor der ernsthaften Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung bieten. Dies steht indes der Annahme, dass Zusicherungen durch tunesische Behörden hier eine ausreichende Garantie für den Schutz des Antragstellers vor EMRK-widrigen Behandlungen geben, nicht entgegen. Denn die vom Antragsteller genannten Urteile des Gerichtshofs sind noch auf der Grundlage der politischen Verhältnisse in Tunesien unter dem Regime des autokratisch regierenden Präsidenten Ben Ali ergangen. Gleiches gilt, soweit der Antragsteller geltend macht, der UN-Antifolter-Ausschuss habe in einer am 27. Juni 2013 veröffentlichten Entscheidung ausgeführt, dass diplomatische Zusicherungen kein geeignetes Mittel seien, um im Falle einer Auslieferung wirksam vor Folter in Tunesien zu schützen. Seit der Revolution im Jahr 2011 hat - wie oben dargelegt - in Tunesien indes ein umfangreicher Demokratisierungsprozess begonnen, der in vielen Bereichen bereits weit vorangeschritten ist. In der Verbalnote des tunesischen Außenministeriums vom 11. Juli 2017 wird außerdem bekräftigt, dass sich die tunesischen Behörden den demokratischen Werten und den in der neuen tunesischen Verfassung festgeschriebenen Menschenrechten und Grundfreiheiten verpflichtet fühlen. Der Gerichtshof hat in den Urteilen betreffend die Abschiebung nach Tunesien (vgl. Urteile vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi/Italien - NVwZ 2008, 1330; vom 24. Februar 2009 - Nr. 246/07, Ben Khemais/Italien - Rn. 60 und vom 5. April 2011 - Nr. 25716/09, Toumi/Italien - NVwZ 2012, 1159 Rn. 54) eine Zurückhaltung der tunesischen Behörden bei der Zusammenarbeit mit unabhängigen internationalen Menschenrechtsorganisationen bemängelt und infolgedessen eine ausreichende Überprüfbarkeit der gegebenen Zusicherungen verneint. Zudem sei auch in den genannten Fällen der Zugang zum Beschwerdeführer durch Rechtsanwälte eingeschränkt gewesen. Demgegenüber wurde dem Antragsteller bereits mit Verbalnote des Tunesischen Außenministeriums vom 11. Juli 2017 zugesichert, dass er sich während der Zeit der Inhaftierung sowie während der Anhörung durch Rechtsanwälte unterstützen lassen kann und dass Anwälte freien Zugang haben. Zudem wird in der Verbalnote das Besuchsrecht durch das Internationale Rote Kreuz, den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, die tunesische Menschenrechtsliga und die Nationale Instanz für die Verhütung von Folter zugesichert.

59 e) Soweit der Antragsteller schließlich geltend macht, dass sein (aus dem Rechtsstaatsgebot in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK herzuleitendes) Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden sei, greift dieser Einwand nicht durch. Der Antragsteller rügt zum einen, dass die Amtsrichterin in ihrem Beschluss vom 18. August 2017 trotz diesbezüglich fehlender Prüfungskompetenz entschieden habe, dass keine Abschiebungsverbote vorlägen. Diese beanstandete Verfahrensweise kann bereits deswegen nicht zur Fehlerhaftigkeit des vorliegenden Verfahrens führen, weil sie - die Verfahrensfehlerhaftigkeit unterstellt - nicht das vorliegende Verfahren betrifft. Zum anderen beanstandet der Antragsteller, dass der Generalstaatsanwalt von F. anlässlich einer Pressekonferenz im Juli 2017 erklärt habe, dass die Staatsanwaltschaft alles tun werde, dass der Antragsteller in Haft bleibe und ihm die zur Last gelegten Taten nachgewiesen werden können. Auch insoweit bezieht sich der gerügte Verfahrensfehler nicht auf das streitgegenständliche Verfahren. Im Übrigen sind Verfahren aus dem Kernbereich des öffentlichen Rechts, zu dem das Ausländerrecht gehört (z.B. Entscheidungen über Ausweisung und Abschiebung, wie sie hier im Streit stehen), keine "Streitigkeit in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche" im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK (vgl. EGMR, Urteile vom 5. Oktober 2000 - Nr. 39652/98, Maaouia/Frankreich - Rn. 36 bis 38; vom 12. Juli 2001 - Nr. 44759/98, Ferrazzini/Italien - Rn. 28 und vom 10. Januar 2012 - Nr. 22251/07, G.R./Niederlande - Rn. 48; vgl. auch Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 6 Rn. 13, 22).

60 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, 3 und § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Da die Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Entscheidung in der Hauptsache praktisch vorwegnimmt, war der Streitwert auf die Höhe des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts anzuheben.

Beschluss vom 25.10.2017 -
BVerwG 1 VR 10.17ECLI:DE:BVerwG:2017:251017B1VR10.17.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 25.10.2017 - 1 VR 10.17 - [ECLI:DE:BVerwG:2017:251017B1VR10.17.0]

Beschluss

BVerwG 1 VR 10.17

  • Bundesverwaltungsgericht - 19.09.2017 - AZ: BVerwG 1 VR 8.17

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 25. Oktober 2017
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph und
Dr. Wittkopp
beschlossen:

  1. Die Anhörungsrüge des Antragstellers gegen den Beschluss vom 19. September 2017 wird zurückgewiesen.
  2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

1 Über die Anhörungsrüge nach § 152a VwGO ist in der dem Geschäftsverteilungsplan entsprechenden Besetzung zu entscheiden, nicht notwendigerweise in der genauen Besetzung, in welcher der Senat die angegriffene Entscheidung (bei der ein an sich zur zuständigen Besetzung gehörendes Senatsmitglied wegen einer Dienstreise verhindert war) erlassen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. November 2007 - 8 C 17.07 - juris Rn. 1). Der in dem Verfahren 1 A 8.17 u.a. gegen den VRiBVerwG Prof. Dr. B. und die Ri'inBVerwG Dr. R. gerichtete Befangenheitsantrag ist weder ausdrücklich noch sinngemäß auch im vorliegenden Verfahren gestellt worden; es bedarf daher nicht der Entscheidung, ob ein solches Gesuch vor der Entscheidung über die Begründetheit der Anhörungsrüge überhaupt statthaft wäre (dazu VGH Mannheim, Beschluss vom 8. Juni 2016 - 1 S 783/16 - NVwZ-RR 2016, 934; s.a. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2012 - 4 StR 469/11 - juris).

2 Die Anhörungsrüge hat keinen Erfolg. Der Rügebegründung ist keine Verletzung des Rechts des Antragstellers auf rechtliches Gehör durch den angegriffenen Beschluss zu entnehmen.

3 Die Verfahrensgarantie des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO, deren Verletzung nach § 152a VwGO gerügt werden kann, verpflichtet das Gericht, das Vorbringen jedes Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gericht wird dadurch jedoch nicht verpflichtet, dem Vorbringen der Beteiligten zu folgen. Es muss in seiner Entscheidung auch nicht ausdrücklich und im Einzelnen sämtliche von den Beteiligten im Lauf des Verfahrens vorgetragenen Tatsachen und Rechtsansichten erörtern. Vielmehr sind in der Entscheidung nur diejenigen Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Das Gericht kann sich auf die Darstellung und Würdigung derjenigen rechtlichen Gesichtspunkte beschränken, auf die es nach seinem Rechtsstandpunkt entscheidungserheblich ankommt. Daher kann aus dem Umstand, dass das Gericht nicht auf sämtliche Begründungselemente des Beteiligtenvorbringens eingegangen ist, nur dann geschlossen werden, es habe diesen Aspekt nicht berücksichtigt, wenn er nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts eine Frage von zentraler Bedeutung betrifft (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <145 f.>; BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <209 f.> und Beschlüsse vom 21. Juni 2007 - 2 B 28.07 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 3 Rn. 6 und vom 1. März 2017 - 6 B 23.17 - juris Rn. 2).

4 1. Gemessen an diesen Maßstäben lässt sich dem Vorbringen des Antragstellers nicht entnehmen, dass der Senat sein Vorbringen übergangen hätte. Er hat es vielmehr berücksichtigt, aber nicht für durchgreifend erachtet.

5 a) Der Antragsteller rügt zunächst, der Senat sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass seine Ehe geschieden worden sei, weil seine Ehefrau ihn mehrfach wegen häuslicher Gewalt angezeigt hatte. Zutreffend sei vielmehr, dass die Ehe einvernehmlich geschieden worden sei, weil die Ehegatten nicht miteinander ausgekommen seien und die Ehefrau ein Kind von einem anderen Mann erwartet habe. Der Antragsteller macht insoweit bereits nicht geltend, dass der Senat entscheidungserhebliches Vorbringen im Beschwerdeverfahren nicht berücksichtigt hat, sondern beanstandet die Tatsachenwürdigung durch den Senat, was einen Gehörsverstoß nicht zu begründen vermag. Unabhängig hiervon hat der Senat lediglich festgestellt, dass die Ehe im Jahr 2009 geschieden worden sei, nachdem die Ehefrau des Antragstellers diesen mehrfach wegen häuslicher Gewalt angezeigt hatte, und damit nicht auf eine Kausalität zwischen häuslicher Gewalt und Ehescheidung abgestellt, sondern lediglich den zeitlichen Ablauf dargestellt.

6 Der Antragsteller macht in diesem Zusammenhang weiterhin geltend, es könne nicht nachvollzogen werden, wie der Senat zu der Annahme gelangen konnte, dass bei dem Antragsteller bereits im Jahre 2008 eine radikal-islamische Einstellung vorgelegen habe. Er nimmt in diesem Zusammenhang auf folgende Textpassagen im angefochtenen Beschluss Bezug (Rn. 38):
"Dass er (der Antragsteller) grundsätzlich eine persönlichkeitsbedingte Gewaltbereitschaft zur Durchsetzung seiner Wertvorstellungen hat, wird auch dadurch belegt, dass er seine Ehefrau misshandelte und aufgrund seiner radikal-islamischen Einstellung annahm, hierzu auch berechtigt zu sein."

7 Der Einschätzung des Senats lag zugrunde, dass der Antragsteller wegen Gewalttätigkeit gegenüber seiner Ehefrau im Jahr 2009 zu einer Geldstrafe wegen Körperverletzung verurteilt worden war (Bl. 162 ff. Behördenakte). In einer Beschuldigtenvernehmung vom November 2007 (Bl. 175 Behördenakte) gab der Antragsteller an, dass seine Frau ihn betrogen habe und er sie in Deutschland deswegen nicht anzeigen könne. Er könne also nur durch Gewalt "zu seinem Recht kommen"; dies hat der Senat im Kontext der persönlichen Gewaltbereitschaft des Antragstellers gewürdigt. Bei der im Rahmen der gemäß § 58a AufenthG vorzunehmenden Gesamtschau aller vorliegenden Erkenntnisse hat der Senat, neben einer Vielzahl anderer Anhaltspunkte für die radikal-islamische Einstellung des Antragstellers, auf die Persönlichkeit des Antragstellers, wie sie sich u.a. aus seinem bisherigen Verhalten ergibt, abgestellt. Mit seiner Kritik an dieser Einschätzung wendet sich der Antragsteller gegen die Tatsachen- und Beweiswürdigung des Senats, macht jedoch nicht geltend, dass der Senat entscheidungserhebliches Vorbringen des Antragstellers übergangen habe. Das gleiche gilt, soweit der Antragsteller nunmehr mit mehreren, erst im Anhörungsrügeverfahren vorgelegten Dokumenten (A3 bis A5) die Tatsachenwürdigung des Senats zu erschüttern sucht. Es ist jedoch nicht der Zweck der Anhörungsrüge, das abgeschlossene Verfahren wieder aufzugreifen, um die verfahrensabschließende Entscheidung des Gerichts auf materielle Richtigkeit hin zu überprüfen. Erst recht ist die Anhörungsrüge nicht dazu bestimmt, das Vorbringen in dem abgeschlossenen Verfahren zu ergänzen oder gar zu erweitern.

8 b) Eine Gehörsverletzung ist auch nicht mit Blick auf die Rüge des Antragstellers einer unzureichenden Berücksichtigung seines Vorbringens zu dem Video "Öffentliche Videovorführung der Verbrennung eines jordanischen Piloten durch den Islamischen Staat in der Provinz Q." zu erkennen. Der Antragsteller hat im vorläufigen Rechtsschutzverfahren diesbezüglich vorgetragen, dass er "tausendprozentig" nicht die Person sei, die ein Interview zu der Verbrennung eines jordanischen Piloten gegeben habe. Zudem hat er sich darauf berufen, dass es nach dem gesichtsmorphologischen Lichtbildvergleich seitens des kriminalwissenschaftlichen und -technischen Instituts lediglich "wahrscheinlich" sei, dass es sich bei den auf den Aufnahmen zu sehenden Personen um ein und dieselbe Person handele, und es sich daher bei der im Video zu sehenden Person auch um eine solche handeln könne, die dem Antragsteller sehr ähnlich sehe. Auch das Stimmenvergleichsgutachten belege nicht, dass der Antragsteller diejenige Person sei, die sich in dem Video propagandistisch zugunsten des "IS" äußere, da es lediglich zu dem Ergebnis komme, dass eine Identität der Sprechenden mit überwiegend bis hoher Wahrscheinlichkeit, aber nicht mit sehr hoher oder gar mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit vorliege. Der Senat habe die beiden Gutachten und den diesbezüglichen Vortrag des Antragstellers nicht zur Kenntnis genommen. Ausweislich des angegriffenen Beschlusses (Rn. 23) hat der Senat jedoch sowohl den Untersuchungsbericht zum gesichtsmorphologischen Lichtbildvergleich einschließlich der in den Behördenakten befindlichen Lichtbilddokumentation als auch das Stimmenvergleichsgutachten vom 6. Juli 2017, auf die sich auch der Antragsteller berufen hatte, zur Kenntnis genommen und gewürdigt. Er hat die vorliegenden Gutachten, die eine Identität des Sprechers auf dem Video mit dem Antragsteller in dem einen Fall als "wahrscheinlich" und in dem anderen als sogar "überwiegend bis hoch wahrscheinlich" bezeichneten, sowie die in den Behördenakten befindliche Lichtbilddokumentation dahin gewürdigt, dass es sich bei der Person, die sich in dem Video äußert, um den Antragsteller handelt. Dabei hat der Senat zur Kenntnis genommen, dass die beiden Gutachten je für sich keine zweifelsfreie Identifizierung des Antragstellers ermöglichten. Seine Beweiswürdigung beruhte jedoch auf einer Gesamtschau aller Umstände, in die auch eingeflossen ist, dass die Reisebewegungen des Antragstellers (soweit bekannt) die Annahme des Senats untermauern, und dass der Antragsteller nicht dargelegt hatte, wo er sich zum Zeitpunkt der Aufnahme des Videos aufgehalten hat. Dies konkretisiert die vom Antragsteller als unzutreffend beanstandete Bewertung, er habe die Mitwirkung "pauschal" bestritten. Der Antragsteller wiederholt insoweit mit der Anhörungsrüge sein Vorbringen im Verfahren und hält die Tatsachenwürdigung durch das Gericht für fehlerhaft. Der Gehörsanspruch verpflichtet das Gericht aber nicht, die Beweiswürdigung des Antragstellers zugrunde zu legen.

9 c) Des Weiteren führt der Antragsteller aus, dass die Annahme des Senats, der Antragsteller habe den "IS" in Form der Weiterverbreitung von "IS"-Propagandamaterial unterstützt, was seine hohe Identifizierung mit dem "IS" und dessen militanter, gewaltbereiter Auslegung des Islam belege, falsch sei. Diese Annahme könne nicht durch die Behördenakten belegt werden. Der Antragsteller habe dies auch in seinem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz bestritten, ohne dass der Senat hierauf eingegangen sei. Auch mit diesem Vorbringen wird ein Gehörverstoß nicht aufgezeigt. Der Antragsteller übersieht insoweit, dass der Senat in Rn. 25 des Beschlusses unter Angabe von Belegen aus den Behördenakten im Einzelnen angegeben hat, auf welche Tatsachen sich seine Annahme gründe, so dass das pauschale Bestreiten des Antragstellers die Tatsachenwürdigung durch das Gericht nicht zu erschüttern vermochte. Einer weitergehenden inhaltlichen Auseinandersetzung ist ein pauschales Bestreiten - etwas anderes vermag der Senat in der unter Nr. 3 wiedergegebenen Äußerung des Antragstellers im Antrag vom 5. August 2017 nach wie vor nicht zu sehen - bereits nicht zugänglich.

10 Der Antragsteller verweist ferner darauf, dass der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 17. August 2017, den der Senat ersichtlich zur Kenntnis genommen hat (s. Rn. 4 des Beschlusses), den Haftbefehl aufgehoben und zur Begründung u.a. darauf abgestellt habe, es ergäben sich keine Verdachtsgründe dafür, dass der Antragsteller mit seinen der Propaganda dienenden Vorbereitungshandlungen Mitglieder der Vereinigung individuell in ihrer medialen Tätigkeit für den "IS" gefördert hätte, indem er etwa seine Bilddateien in Absprache mit diesen veröffentlicht oder Mitgliedern der auf die Propagandatätigkeit ausgerichteten Abteilung des "IS" zu Veröffentlichungszwecken zur Verfügung gestellt hätte. Unabhängig davon, dass insoweit bereits keine Rüge eines Gehörsverstoßes zu erkennen ist, weist der Senat in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diese im Rahmen einer strafrechtlichen Subsumtion vorgenommene Würdigung nicht für die nach der Gefahrenabwehrvorschrift des § 58a AufenthG vorzunehmende Gefahrenprognose maßstäblich ist.

11 d) Weiterhin rügt der Antragsteller, der Senat habe folgenden Vortrag nicht berücksichtigt:
"Der Antragsteller hat keine Kontakte zur Sauerlandgruppe, er kennt diese Personen nicht. Wer die Drahtzieher sind oder waren - sofern es welche gibt - weiss er auch nicht. Konkretes kann der Antragsgegner aber auch nicht liefern. Schaut man sich die Fundstellen der Staatsanwaltschaft, die ausnahmsweise auch der Verteidigung vorliegen an, so ergibt sich folgendes:
Laut Akten wurde im Jahr 2004 ein Ermittlungsverfahren gegen einen Herrn D. Wr. geführt. Gegen diesen bestand unter anderem der Verdacht, so die Polizei, dass er eine Fußballgruppe nutzt, um die Teilnehmer mit islamistischem Gedankenmaterial zu indoktrinieren. Das Ermittlungsverfahren sei am 03.08.2007 nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Zu dieser Fußballgruppe gehörte - neben vielen Teilnehmern - auch der Antragsteller V., so die Polizei. Im Übrigen laut Polizei auch Personen, die beispielsweise im Jahr 2013 - neun Jahre nach Gründung der Fußballgruppe - nach Syrien ausgereist seien.
Hierzu darf ausgeführt werden, dass zu dieser Fußballgruppe im Laufe der Jahre viele viele Personen arabischer Herkunft zugestoßen sind. 'Gruppe' ist wahrscheinlich in diesem Zusammenhang auch zuviel gesagt. Man hat gemeinsam Fußball gespielt. Der Antragsteller war ab und an auch dabei. Was diese Personen später gemacht haben, kann und muss der Antragsteller nicht wissen. Er weiss es auch nicht. Viele von diesen kennt er nicht. Da die Fußballgruppe von einer Moschee initiiert wurde, waren einfach im Laufe der Jahre viele Personen dabei. Da keine Kontakte des Antragstellers zu irgendwelchen 'Gefährdern' bestand, können die Ermittlungsbehörden auch nichts konkretes darüber sagen, d.h. ob und wenn ja, wie oft und mit wem der Antragsteller Kontakt gehabt haben soll. Er hatte sie einfach nicht."

12 Mit dieser Rüge übersieht der Antragsteller bereits, dass der Senat Kontakte des Antragstellers zur sogenannten Sauerlandgruppe gar nicht festgestellt hat. Vielmehr hat er ausgeführt (Rn. 29), dass der Antragsteller auch bereits vor seiner Ausreise aus Deutschland Kontakte zu Personen aus der islamistischen Szene unterhielt, u.a. zu Personen, gegen die wegen staatschutzgefährdender Aktivitäten strafrechtliche Ermittlungsverfahren durchgeführt wurden. So habe er einer Fußballgruppe angehört, die durch D. Wr. geleitet worden sei, der im Verdacht gestanden habe, die Teilnehmer mit islamistischem Gedankenmaterial zu indoktrinieren. Ein anderer Teilnehmer dieser Gruppe, W. Wh., sei im Mai 2013 aus Syrien bzw. in den Irak ausgereist und habe sich dem "IS" angeschlossen. Der Senat hat hier auf die Berührungspunkte des Antragstellers zu Personen aus der islamistischen Szene als (nach dem Kontext für die Kontakte vor der Ausreise untergeordneten) Baustein im Rahmen einer Gesamtwürdigung vielfältiger Indizien abgestellt, ohne dem Antragsteller die Handlungen von Kontaktpersonen zuzurechnen.

13 Unabhängig davon hat der Senat das oben wiedergegebene Vorbringen des Antragstellers zur Kenntnis genommen und erwogen, jedoch anders gewürdigt als vom Antragsteller gewünscht. Das gilt auch für seine Behauptung, W. Wh. nicht zu kennen; dieser hat der Senat mit Blick auf die gemeinsame Zugehörigkeit zu derselben Fußballgruppe keinen Glauben geschenkt. Der Antragsteller bestreitet nicht, zu dieser Fußballgruppe gehört zu haben. Er behauptet lediglich, dass es sich hierbei nicht um eine feste Gruppe gehandelt, sondern dass diese sich im Laufe der Jahre aus unterschiedlichen Personen zusammengesetzt habe. Soweit er allgemein behauptet, keine Kontakte zu "irgendwelchen Gefährdern" gehabt zu haben, hat der Senat dieses Vorbringen erwogen, es aber vor dem Hintergrund der von dem Antragsteller eingeräumten Zugehörigkeit zu dieser Gruppe als für die Indizwirkung unsubstantiiertes Bestreiten angesehen. Im Übrigen ergibt sich auch aus dem vom Antragsteller mit der Anhörungsrüge vorgelegten Vernehmungsprotokoll der ehemaligen Ehefrau des Antragstellers (Anlage A4 zum Schriftsatz vom 6. Oktober 2017), dass der Antragsteller wegen seiner Zugehörigkeit zu der Fußballgruppe bereits vor 2009 unter polizeilicher Beobachtung stand und vor einer beabsichtigten Ausreise nach Tunesien kontrolliert wurde.

14 e) Das Vorbringen des Antragstellers zur Kontaktperson N. Cj. (S. 22 Mitte des angegriffenen Beschlusses) legt nicht dar, welches entscheidungserhebliche, wesentliche Vorbringen des Antragstellers unberücksichtigt geblieben sein soll, sondern wendet sich im Ergebnis gegen die tatrichterliche Würdigung, dass eine Person, die Kontakt zu einem islamistischen Hassprediger (hier: D. Ur.) hat, ebenfalls der islamistischen Szene zuzurechnen ist.

15 f) Soweit der Antragsteller im Zusammenhang mit der Kontaktperson P. Nr. rügt, der Senat habe die Akten unvollständig ausgewertet, legt er ebenfalls keine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör dar. Das Vorbringen, Nr. habe neben einer Slush-Eis-Maschine weitere Küchenbedarfsartikel (Elektro-Herdplatte, Töpfe, Küchenmixmaschine) gekauft (Gerichtsakte Bl. 23), war für den Senat kein zentrales, entscheidungserhebliches Vorbringen, auf das gesondert einzugehen gewesen wäre. Es ändert nichts an der vorgenommenen Würdigung, dass eine Slush-Eis-Maschine ebenso wie die weiteren im Beschluss aufgeführten, von Nr. erworbenen Gegenstände (Haarblondierungsmittel, Poolreiniger, Schimmel- und Nagellackentferner) bei der Herstellung von Sprengstoff, z.B. TATP, Verwendung finden können. Dies war im vorliegenden Zusammenhang auch ohne abschließende Klärung des Verwendungszwecks oder des Berufes von Herrn Nr. in die Risikoprognose einzustellen. Auf den in der Anhörungsrüge herangezogenen Bericht des KK K. vom 23. Dezember 2016 hatte sich der Antragsteller in seiner Antragsbegründung im Übrigen nicht berufen.

16 g) Auch mit dem zu Ziffer 7 der Rügebegründung erhobenen Vorwurf, der Senat habe im Zusammenhang mit der Würdigung der Aussage der Vertrauensperson der Polizei den Sachverhalt unvollständig wiedergegeben und sich mit seinen Einwänden nicht befasst, wird ein Gehörsverstoß nicht dargelegt. Der Antragsteller wendet sich insoweit gegen die tatrichterliche Würdigung durch den Senat. Der Senat habe außer Acht gelassen, dass der von der Vertrauensperson benannte Zeuge Gc. anlässlich mehrerer polizeilicher Vernehmungen die Angabe der Vertrauensperson, dass der Antragsteller versucht habe, sich über den Getränkehändler namens Gc. Zugang zur ...bank zu verschaffen und einen Anschlag in Deutschland plane, nicht bestätigt habe. Auch habe er - der Antragsteller - vorgetragen, dass er eine Person namens Gc. nicht kenne und nicht versucht habe, sich Zugang zur ...bank zu verschaffen. Entgegen der Ansicht des Antragstellers hat der Senat, der den Kern dieses Vorbringens in Rn. 5 des Beschlusses ersichtlich zur Kenntnis genommen hat, seine Entscheidung auf diesen Teil der Aussage der polizeilichen Vertrauensperson jedoch nicht gestützt. Er hat vielmehr darauf abgestellt (Rn. 30 des angegriffenen Beschlusses), dass die polizeilichen Vertrauenspersonen bekundet haben, dass der Antragsteller Anschläge in Tunis und auch in Deutschland plane, dass auffällig oft über Themen im Zusammenhang mit einem Weihnachtsmarkt gesprochen worden sei, und dass der Antragsteller in terroristische Aktivitäten des "IS" involviert sei (Bl. 395 Behördenakte).

17 h) Soweit der Antragsteller die Ausführungen des Senats (Rn. 32 des Beschlusses) angreift, der Antragsteller sei als Schleuser und Rekrutierer für den "IS" tätig geworden, greift er die tatrichterliche Würdigung an, ohne darzulegen, inwiefern der Senat insoweit entscheidungserhebliches Vorbringen des Antragstellers übergangen hat. Das gilt auch für seine Einwände gegen die Würdigung verschiedener Chatprotokolle durch den Senat (Rn. 26 des Beschlusses), bei denen der Antragsteller die Chatprotokolle selektiv auswertet und dem Senat Protokolle auf Beiaktenseiten entgegenhält, die der Senat insoweit (s. S. 25 Zeile 1 des Beschlusses) nicht ausdrücklich benannt hat. Die Anhörungsrüge ist indes kein Rechtsbehelf zur Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses. Es handelt sich vielmehr um ein formelles Recht, dass dann greift, wenn das Gericht entscheidungserhebliches Vorbringen eines Beteiligten nicht in ausreichendem Maße zur Kenntnis genommen und sich mit ihm nicht in der gebotenen Weise auseinandergesetzt hat. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht jedoch nicht, den Tatsachenvortrag oder der Rechtsansicht eines Verfahrensbeteiligten inhaltlich zu folgen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. April 2012 - 8 B 7.12 - ZfWG 2012, 377 - juris Rn. 2). Unabhängig hiervon hat der Senat im Rahmen seiner tatrichterlichen Würdigung die Erkenntnisse des Bundesamtes für Verfassungsschutz, wonach der Antragsteller für den "IS" als Schleuser und Rekrutierer tätig war, dadurch bestätigt gesehen, dass bei der Auswertung von Skype-Accounts, die dem Antragsteller seitens der Ermittlungsbehörden zugeordnet werden konnten, festgestellt wurde, dass der Antragsteller jedenfalls an der illegalen Einschleusung von Personen beteiligt war (Rn. 32 des Beschlusses) und bei ihm auch eine Telefonnummer festgestellt wurde, die wiederum Schleusern zugeordnet werden konnte, die Personen in Kampfgebiete bringen.

18 i) Weiter ist auch der mit Ziffer 9 der Rügebegründung sinngemäß erhobene Vorwurf, der Senat habe den Vortrag des Antragstellers, dass er nicht Angehöriger des "IS" sei, nicht zur Kenntnis genommen, nicht begründet. Entgegen der Behauptung des Antragstellers lässt sich den von ihm zitierten Textpassagen aus seinem Vorbringen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ein explizites Bestreiten der Zugehörigkeit zum "IS" nicht entnehmen. Es wird lediglich die Tätigkeit als Schleuser oder Anwerber für den "IS" bestritten sowie festgestellt, dass es keine Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden und Nachweise dafür gebe, dass der Antragsteller mit dem "IS" sympathisiere und Unterstützungshandlungen für diesen erbracht habe. Auch aus dem Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 5. April 2017 (Anlage A11 des Antrages vom 5. August 2017) erschließt sich gerade nicht als Tatsache, "dass der Antragsteller sich von den Zielen des IS und der radikal-salafistischen Szene distanziert" habe (s. S. 20 der Anhörungsrüge); das Verwaltungsgericht hat lediglich festgehalten, dass der Antragsteller sämtliche Vorwürfe pauschal bestreite, dies aber nichts an der zuvor mitgeteilten gegenteiligen Bewertung ändere (Beschlussabdruck S. 8).

19 j) Ferner ist auch die Rüge, der Senat habe den Vortrag in dem Schriftsatz des Antragstellers vom 5. August 2017 (Anlage A6) nicht zur Kenntnis genommen, wonach die tunesischen Behörden den Vorwurf in Bezug auf das Bardo-Museum und die Stadt Ben Guerdane nicht mehr aufrechterhalten hätten, unbegründet. Denn der Senat hat ausweislich Rn. 2 des Beschlusses zur Kenntnis genommen, dass die tunesischen Behörden ihr Auslieferungsbegehren nachfolgen dahin konkretisierten, dass der Antragsteller sich dem "IS"-Terrornetzwerk in Syrien angeschlossen habe. Dies bringt zugleich zum Ausdruck, dass der ursprüngliche Vorwurf nicht wiederholt wurde (vgl. ferner die Ausführungen in Rn. 46 des angegriffenen Beschlusses).

20 k) Weiter beanstandet der Antragsteller die Ausführungen des angegriffenen Beschlusses (Rn. 33), wonach der Antragsteller im Besitz von Telefonnummern von Personen war, die mit den Paris-Attentaten im Zusammenhang stehen. Der Antragsteller wendet sich insoweit gegen die Würdigung des Akteninhalts durch den Senat, ohne einen Gehörsverstoß geltend zu machen.

21 l) Schließlich rügt der Antragsteller, der Senat sei auf Seite 26/27, Rn. 36 des angegriffenen Beschlusses fälschlich davon ausgegangen, dass sich der Antragsteller nach den Angaben der tunesischen Behörden und den von diesen vorgelegten Erkenntnissen in Syrien dem "IS"-Terrornetzwerk angeschlossen habe und die Ausübung von Anschlägen in Tunesien plane. Selbst der Antragsgegner habe mit Schriftsatz vom 19. September 2017 angegeben, dass der Antragsteller dort den Angaben der tunesischen Behörden zufolge nicht Mitglied des "IS" sei, sondern Mitglied einer tunesischen Gruppierung. Auch insoweit wird keine Gehörsverletzung geltend gemacht, sondern die tatrichterliche Würdigung des Akteninhalts beanstandet. Im Übrigen hat der Antragsgegner in seinem Schriftsatz vom 19. September 2017 folgendes Ergebnis eines Gespräches zwischen einer deutschen Delegation und den tunesischen Behörden Anfang September 2017 mitgeteilt:
"Im direkten Gespräch [konnte] nur der in den ergänzenden Auslieferungsunterlagen vom April 2017 enthaltene, einigermaßen nachvollziehbare Vorwurf eines geplanten Sprengstoffanschlages auf eine Kaserne in H. oder D. im März 2016 vertieft werden. Nach meinem Verständnis bestätigte bzw. präzisierte die tunesische Seite, dass der·Verfolgte nach Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden Anführer bzw. Leitungsmitglied der aus mehreren Einzelzellen bestehenden tunesischen Terrorgruppierung 'Aouled Askar' sei, die in loser Verbindung zum 'Islamischen Staat' stehe bzw. dessen Ziele teile. ....
Er [der Antragsteller] habe dem verdeckten Ermittler berichtet, mit seiner Organisation in Tunesien Mord- und Sprengstoffanschläge verüben zu wollen. [...]"

22 Abgesehen davon, dass auch ausweislich dieses Gesprächs eine Verbindung des Antragstellers zum "IS" besteht, ergibt sich insbesondere aus den in der Gesprächsnotiz in Bezug genommenen Auslieferungsunterlagen vom April 2017 (Verbalnote vom 10. April 2017, Bl. 297 ff. Behördenakten), dass sich der Antragsteller nach den Ermittlungen der tunesischen Strafverfolgungsbehörden im Auftrag von "Terrormitgliedern" in Tunis dem "IS"-Netzwerk in Syrien angeschlossen hat.

23 2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Beschluss vom 26.03.2018 -
BVerwG 1 VR 1.18ECLI:DE:BVerwG:2018:260318B1VR1.18.0


Wichtiger Hinweis!

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Kein Abschiebungsschutz für tunesischen islamistischen Gefährder

Leitsatz:

Die drohende Verhängung einer Todesstrafe begründet kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, wenn die Todesstrafe im Zielstaat der Abschiebung stets in eine lebenslange oder zeitige Freiheitsstrafe umgewandelt wird und der Verurteilte eine Überprüfung der Strafe mit Aussicht auf Herabsetzung der Haftdauer bewirken kann.

  • Rechtsquellen
    VwGO § 80 Abs. 5 und 7 Satz 1 und 2, § 123 Abs. 1 Satz 1
    AufenthG §§ 58a, 60 Abs. 5
    EMRK Art. 3

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 26.03.2018 - 1 VR 1.18 - [ECLI:DE:BVerwG:2018:260318B1VR1.18.0]

Beschluss

BVerwG 1 VR 1.18

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 26. März 2018
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph
beschlossen:

  1. 1. Der Beschluss des Senats vom 19. September 2017 (1 VR 8.17 ) wird wie folgt geändert:
  2. "Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung des Antragsgegners vom 1. August 2017 anzuordnen, wird abgelehnt."
  3. 2. Der Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, die dem Antragsgegner eine Abschiebung nach Tunesien auf der Grundlage der Verbalnote des Tunesischen Justizministeriums vom 21. Dezember 2017 untersagt, wird abgelehnt.
  4. 3. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
  5. 4. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Der Antragsteller, ein 1980 geborener tunesischer Staatsangehöriger, begehrt im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung Abschiebungsschutz.

2 Er reiste erstmals 2003 zu Studienzwecken in das Bundesgebiet ein. Bevor er 2008 ohne Abschluss exmatrikuliert wurde, heiratete er 2005 eine deutsche Staatsangehörige. Die Ehe wurde 2009 geschieden, nachdem ihn seine Ehefrau mehrfach wegen häuslicher Gewalt angezeigt hatte. 2010 wurde dem Antragsteller eine Niederlassungserlaubnis erteilt. Im April 2013 wurde er von Amts wegen nach unbekannt abgemeldet. Im Februar 2015 wurde der Antragsteller beim illegalen Grenzübertritt in Griechenland angetroffen. Im Juli 2015 wurde er unter dem Namen K. Nk. als angeblich syrischer Flüchtling in Ungarn registriert. Am 13. August 2015 reiste er unter dem Namen K. Vd. als Flüchtling von Frankreich kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 15. August 2016 wurde er mit auf den Namen K. Fk. ausgestellten Dokumenten in Frankfurt am Main aufgrund eines Auslieferungsersuchens der tunesischen Strafverfolgungsbehörde festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, in Tunesien an der Planung und Umsetzung von terroristischen Anschlägen, so an dem Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis am 18. März 2015 und an einem Angriff auf die tunesische Stadt Ben Guerdane, beteiligt gewesen zu sein. Am 4. November 2016 wurde er aus der Auslieferungshaft entlassen, da die tunesischen Behörden die dem deutsch-tunesischen Auslieferungsvertrag entsprechenden Unterlagen nicht fristgerecht übersandt hatten. Nach zwischenzeitlichen Ermittlungen der deutschen Sicherheitsbehörden wurde der Antragsteller am 1. Februar 2017 im Rahmen einer Antiterror-Razzia unter anderem wegen des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland in Untersuchungshaft genommen. Mit Bescheid vom 9. März 2017 wies ihn die Stadt Frankfurt am Main gestützt auf § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm die Abschiebung nach Tunesien an. Einen hiergegen gerichteten Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes lehnte das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main ab. Die gegen diesen Beschluss erhobene Beschwerde wurde als unzulässig verworfen. Zeitgleich mit dem Eilrechtsschutzantrag gegen die Ausweisungsverfügung stellte der Antragsteller, als er sich bereits zur Abschiebung am Flughafen befand, einen Asylantrag. Mit Bescheid vom 24. März 2017 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag als offensichtlich unbegründet ab. Den hiergegen gerichteten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz lehnte das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 5. April 2017 mit der Maßgabe ab, dass die tunesische Regierung näher benannte Zusicherungen abgibt. In einer Verbalnote vom 11. Juli 2017 versicherte das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Tunesischen Republik unter anderem, dass sich die tunesischen Behörden im Rahmen ihrer Verbundenheit mit den demokratischen Werten zur Wahrung der in der neuen tunesischen Verfassung festgeschriebenen Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichten, und betonte, dass Tunesien ungeachtet der in Strafgesetzen angeordneten Todesstrafe diese auf der Grundlage eines Moratoriums nicht vollstrecke. Auf einen weiteren Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hin hat das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main dem Antragsgegner die Abschiebung auf der Basis der Verbalnote vom 11. Juli 2017 untersagt.

3 Mit Verfügung vom 1. August 2017 ordnete das Hessische Ministerium des Innern und für Sport auf der Grundlage des § 58a AufenthG die Abschiebung des Antragstellers nach Tunesien wegen dessen terroristischer Aktivitäten zugunsten des "Islamischen Staates" (IS) an. Mit Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 8.17 - hat der erkennende Senat einen hiergegen gerichteten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abgelehnt. Er ist auf der Grundlage einer Vielzahl von Erkenntnismitteln davon ausgegangen, dass ein beachtliches Risiko besteht, dass der Antragsteller einen Terroranschlag in Deutschland begeht (vgl. Beschluss vom 19. September 2017 Rn. 22-38). Die Ablehnung des Rechtsschutzantrags erfolgte mit der Maßgabe, dass zusätzlich zu der Verbalnote vom 11. Juli 2017 eine tunesische Regierungsstelle zusichert, dass im Falle der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe die Möglichkeit einer Überprüfung der Strafe mit der Aussicht auf Umwandlung oder Herabsetzung der Haftdauer gewährt wird. Nach Eingang einer Zusicherung des Generalstaatsanwalts (Leiter der Strafverfolgungsbehörden) beim tunesischen Justizministerium vom 21. Dezember 2017 soll der Antragsteller nunmehr nach Tunesien abgeschoben werden.

4 Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seinem neuerlichen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 3. Januar 2018 mit der Begründung, die Zusicherung vom 21. Dezember 2017 genüge nicht den von dem Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 19. September 2017 aufgestellten Anforderungen. Der Senat hat mit Verfügungen vom 25. Januar 2018, 12. Februar 2018 und 14. März 2018 ergänzende Auskünfte des Auswärtigen Amtes eingeholt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und insbesondere die Schriftsätze der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vom 3., 16., 23. und 25. Januar 2018, 11. und 16. Februar 2018, 14. und 26. März 2018 (nebst Anlagen) verwiesen.

II

5 Der Senat nimmt den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, dem Antragsgegner eine Abschiebung des Antragstellers nach Tunesien zu untersagen, mit Blick auf die in diesem Verfahren (über den Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht) abgegebene Stellungnahme des Bundesministeriums des Innern vom 12. Januar 2018 (Bl. 57 ff. der Gerichtsakte) und die Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2018 (Bl. 225 ff. der Gerichtsakte), vom 7. März 2018 (Bl. 409 ff. der Gerichtsakte) sowie vom 20. März 2018 (Bl. 556 ff. der Gerichtsakte) zum Anlass, nach § 80 Abs. 7 VwGO seinen Beschluss vom 19. September 2017 zu ändern und von einer Maßgabe abzusehen (1.). Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist abzulehnen, weil es auf das Vorliegen einer förmlichen Zusicherung, die der aufgehobenen Maßgabe entspricht, nicht mehr ankommt und sich der Antragsteller auch in der Sache nicht auf ein Abschiebungsverbot berufen kann (2.).

6 1. Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben. Gegenstand dieses Abänderungsverfahrens ist die Prüfung, ob eine zuvor im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO getroffene gerichtliche Entscheidung über die Bestätigung oder Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsakts ganz oder teilweise geändert oder aufgehoben werden soll. Dabei geht es nicht um die ursprüngliche Richtigkeit der im vorangegangenen Verfahren getroffenen Entscheidung, sondern um den Fortbestand der im Aussetzungsverfahren getroffenen Eilentscheidung. Prüfungsmaßstab ist allein, ob nach der jetzigen Sach- und Rechtslage die aufschiebende Wirkung geboten ist (BVerwG, Beschluss vom 12. Juli 2016 - 4 VR 13.16 - BauR 2016, 1770 Rn. 6 m.w.N.). Es ist grundsätzlich nur über die Aufrechterhaltung des verfügenden Teils der ursprünglichen Aussetzungsentscheidung zu befinden (Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 80 Rn. 190 f.). Während § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO die besonderen Voraussetzungen für die Statthaftigkeit eines Abänderungsantrags eines Beteiligten bestimmt, regelt § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO die Aufhebungs- und Änderungskompetenz von Amts wegen. Die Abänderung von Amts wegen steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts der Hauptsache, das nach den gleichen Grundsätzen auszuüben ist, wie sie für das Verfahren bezüglich der Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO maßgebend sind. Gemessen hieran war der Senat zur Abänderung seines Beschlusses vom 19. September 2017 befugt.

7 Der Senat ist auf der Grundlage der eingeholten Auskünfte und Erklärungen tunesischer Stellen nunmehr davon überzeugt, dass dem Vollzug der Abschiebungsanordnung keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote entgegenstehen. Auf die Zusicherung der Möglichkeit einer Überprüfung einer (etwaigen) lebenslangen Freiheitsstrafe mit der Aussicht auf Umwandlung und Herabsetzung der Haftdauer kann daher verzichtet werden. Diese Auskünfte und Erklärungen sind im Rahmen der Prüfung, ob an dem Erfordernis einer förmlichen Zusicherung in dem Beschluss vom 19. September 2017 festzuhalten ist, unabhängig davon zu berücksichtigen, ob sie den Anforderungen an die in jenem Beschluss geforderte Zusicherung entsprechen; entscheidend ist, ob sich der Antragsteller auf ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot berufen kann, weil ihm in Tunesien eine gegen Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verstoßende Behandlung droht. Dies ist nicht der Fall, so dass auch die Maßgabe in dem Beschluss vom 19. September 2017 aufzuheben ist. Der Antragsteller ist auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.

8 a) Der Senat sieht allerdings weiterhin eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ("real risk"), dass dem Antragsteller die Verhängung der Todesstrafe, die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder die Verhängung einer zeitigen Freiheitsstrafe droht.

9 aa) Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018 und dem dieser beigefügten Schreiben des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018 werden dem Antragsteller folgende Taten zur Last gelegt:

10 (1) Dem Fahndungsersuchen der tunesischen Strafverfolgungsbehörden vom 11. Juli 2016 liegt der Haftbefehl Nr. 1240/36 vom 3. Juni 2016 zugrunde. Dem Ersuchen zufolge soll der Antragsteller Planer und Organisator des Anschlags auf das Bardo-Museum und des Versuchs, die Stadt Ben Guerdane zu erobern, gewesen sein. Hierfür sieht das Gesetz Nr. 25 aus dem Jahr 2015 eine Freiheitsstrafe von maximal 20 Jahren vor (vgl. Ziffer 1 des Schreibens des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018).

11 Mit Entscheidung vom 21. Juni 2017 hat der tunesische Ermittlungsrichter die diesbezüglichen Ermittlungen abgeschlossen, die begangenen Handlungen als Verbrechen bewertet und die Sache an die Anklagekammer überwiesen. Nach dieser Entscheidung kann gemäß Art. 72 des tunesischen Strafgesetzbuchs (CP) die Todesstrafe verhängt werden, die jedoch aufgrund eines Moratoriums nicht angewendet wird (vgl. Ziffer 3 des Schreibens des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018).

12 (2) Dem Auslieferungs- und Festnahmeersuchen von 2016, dem der internationale Haftbefehl vom 5. September 2016 - Az: 36/1240 - zugrunde liegt, ist eine Anklageschrift des stellvertretenden Staatsanwalts bei der Juristischen Abteilung für Terrorismusbekämpfung beim erstinstanzlichen Gericht in Tunis beigefügt, wonach dem Antragsteller unter anderem Tötungsdelikte, gemeingefährliche Delikte, Gewaltdelikte, illegaler Bombenbau, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Planung von Terrorakten vorgeworfen werden. Das Auslieferungsersuchen war ursprünglich darauf gestützt, dass der Antragsteller im Jahr 2013 Tunesien in Richtung Syrien verlassen und sich dort dem IS-Terrornetzwerk angeschlossen habe. Zudem habe er den Messenger-Dienst Telegram genutzt, um Sympathisanten des Terrornetzwerks "IS" anzuwerben und potentielle terroristische IS-Anhänger nach Syrien zu schleusen. Die Tatvorwürfe wurden später dahingehend ergänzt, der Antragsteller habe einem verdeckten Ermittler ("W.") den Plan anvertraut, einen Sprengstoffanschlag auf eine Kaserne in El-Gorjani oder auf einen Stützpunkt der tunesischen Nationalgarde in El-Aouina zu verüben, und sich gegenüber dem verdeckten Ermittler bereit erklärt, einen Bombenexperten zu beherbergen sowie Mord- und Bombenanschläge in Tunis zu verüben. Die Strafbarkeit ergebe sich aus dem Antiterrorismusgesetz vom 7. August 2015 (LAT), dem tunesischen Strafgesetzbuch sowie dem Waffengesetz. Wegen dieser Delikte drohe eine Freiheitsstrafe von bis zu 30 Jahren (vgl. Ziffer 2 des Schreibens des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018).

13 (3) Dem Fahndungsersuchen vom 25. Januar 2018 zufolge, dem der Haftbefehl vom 3. November 2017 - Az: 2379/12 - zugrunde liegt, soll der Antragsteller unter anderem im Jahr 2015 Personen dabei behilflich gewesen sein, nach Syrien zu reisen, um sich der Terrororganisation "Islamischer Staat" anzuschließen. Dem Antragsteller werden in diesem Zusammenhang insbesondere Aufruf zur Begehung terroristischer Straftaten und Zugehörigkeit zu einer Terrororganisation, Störung der öffentlichen Ordnung, des Friedens oder der internationalen Sicherheit in Tunesien oder im Ausland und Verwendung des Terrorismus als Mittel zur Erreichung seiner Ziele zur Last gelegt. Rechtliche Grundlage sind Art. 32 CP und verschiedene Bestimmungen des Antiterrorismusgesetzes. Wegen dieser Taten drohe eine "lebenslange Freiheitsstrafe von maximal 20 Jahren" (vgl. Ziffer 4 des Schreibens des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018).

14 (4) Ferner ergibt sich aus einer Auskunft der Justizkommission zu Tunis vom 23. August 2016, dass gegen den Antragsteller vier Haftbefehle vorliegen, wonach er unter anderem im Fokus von Ermittlungen der Anti-Terror-Einheit der Polizei und der regionalen Abteilung für Terrorismusbekämpfung stand. Die betreffenden Straftaten ermöglichten die Verhängung einer Freiheitsstrafe von höchstens zwölf Jahren (vgl. Ziffer 5 des Schreibens des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018).

15 bb) Unter Würdigung der unter aa) (1) bis (4) näher bezeichneten Strafverfolgungsmaßnahmen sieht der Senat weiterhin eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ("real risk"), dass gegen den Antragsteller die Todesstrafe oder eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wird. Der Antragsteller weist zu Recht darauf hin, dass die in Ziffer 2. d) des Schreibens des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018 genannten Art. 90 und 91 LAT Verjährungsvorschriften betreffen und nicht den Strafrahmen bezeichnen und daher die angegebene Strafandrohung (Freiheitsstrafe bis zu 30 Jahren) nicht zutreffen kann. Da die dem Antragsteller unter Ziffer 2. c) des aufgeführten Schreibens zur Last gelegten Taten unter anderem auch Tötungsdelikte und Gewaltdelikte umfassen, ist nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen, dass ihm insoweit die Todesstrafe oder eine lebenslange Freiheitsstrafe droht. Denn Art. 14 LAT sieht bereits bei dem Versuch der Tötung eines Menschen die Todesstrafe und bei Gewalttätigkeiten eine lebenslange Freiheitsstrafe vor (vgl. Anlage 4 der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018 sowie Ziffer 3 des Schreibens des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018). Vor dem Hintergrund des in Tunesien praktizierten Moratoriums (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017 S. 17) mündet auch eine verhängte Todesstrafe aufgrund der Umwandlung anlässlich einer Begnadigung in eine lebenslange (oder zeitige) Freiheitsstrafe ein (vgl. dazu unten b)).

16 b) Die drohende Verhängung der Todesstrafe begründet im Fall des Antragstellers kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot. Dem Antragsteller droht weder die Vollstreckung der Todesstrafe (aa) noch die faktische lebenslange Inhaftierung ohne Überprüfungsmöglichkeit infolge der Nichtvollstreckung der Todesstrafe (bb).

17 aa) Es steht nicht zu befürchten, dass eine gegen den Antragsteller etwaig verhängte Todesstrafe vollstreckt würde. Dies steht zur Überzeugung des Senats aufgrund des in Tunesien seit Jahren bestehenden Moratoriums und der Ausführungen in der Verbalnote des tunesischen Außenministeriums vom 11. Juli 2017 fest (vgl. Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 8.17 - Rn. 48 ff.; siehe auch die Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018 <Bl. 410 der Gerichtsakte> und vom 20. März 2018 <Bl. 556 der Gerichtsakte>).

18 bb) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK liegt auch insoweit nicht vor, als dem Antragsteller die Möglichkeit eröffnet ist, die nicht vollstreckte Todesstrafe, die faktisch wie eine lebenslange Freiheitsstrafe wirkt, mit der Aussicht auf Entlassung überprüfen zu lassen.

19 Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verbietet die Europäische Menschenrechtskonvention grundsätzlich nicht, einen erwachsenen Straftäter zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen. Ebenso wenig verstößt es gegen die Konvention, wenn ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter seine Strafe bis zu seinem Lebensende verbüßen muss. Gegen Art. 3 EMRK kann indes eine de jure und de facto nicht reduzierbare lebenslange Freiheitsstrafe verstoßen (EGMR <GK>, Urteil vom 12. Februar 2008 - Nr. 21906/04, Kafkaris/Zypern - Rn. 97). Reduzierbar in diesem Sinne ist eine lebenslange Freiheitsstrafe dann, wenn sie überprüft werden kann und eine Aussicht auf Entlassung für den Gefangenen besteht (EGMR <GK>, Urteil vom 9. Juli 2013 - Nr. 66069/09, 130/10 und 3896/10, Vinter u.a./U.K. - Rn. 110 ff.). Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte des Weiteren festgestellt hat, kann ein Gefangener nur in Haft gehalten werden, solange es legitime Strafgründe für die Inhaftierung gibt, die Bestrafung, Abschreckung, Schutz der Öffentlichkeit und Resozialisierung einschließen (EGMR <GK>, Urteile vom 26. April 2016 - Nr. 10511/10, Murray/Niederlande - Rn. 100 und vom 17. Januar 2017 - Nr. 57592/08, Hutchinson/U.K. - Rn. 42). Die Überprüfung, die erforderlich ist, damit eine lebenslange Freiheitsstrafe reduzierbar ist, soll den innerstaatlichen Behörden erlauben zu erwägen, ob eine Änderung des Gefangenen und ein Fortschritt in Richtung seiner Resozialisierung von solcher Bedeutung sind, dass die weitere Inhaftierung nicht länger durch legitime Strafgründe gerechtfertigt ist (EGMR, Urteil vom 4. September 2014 - Nr. 140/10, Trabelsi/Belgien - Rn. 115; EGMR <GK>, Urteil vom 26. April 2016 - Nr. 10511/10, Murray/Niederlande - Rn. 100). Außerdem haben zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte ein Recht darauf, schon bei Strafantritt zu wissen, was sie tun müssen, um für eine Entlassung in Betracht gezogen zu werden, und unter welchen Voraussetzungen dies der Fall ist (EGMR, Urteile vom 20. Mai 2014 - Nr. 73593/10, László Magyar/Ungarn - Rn. 53 und vom 4. September 2014 - Nr. 140/10, Trabelsi/Belgien - Rn. 115; EGMR <GK>, Urteil vom 17. Januar 2017 - Nr. 57592/08, Hutchinson/U.K. - Rn. 44). Es bedarf mithin objektiver und vorher bestimmter Kriterien, unter welchen Voraussetzungen eine Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe in Betracht kommt.

20 Der Senat kann es dahinstehen lassen, ob es im Falle der (isolierten) Verhängung einer Todesstrafe rechtlich geboten ist, diese (nicht vollstreckte) Todesstrafe wie eine lebenslange Freiheitsstrafe zu behandeln, und daher die eben dargestellten Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anzuwenden sind. Der Gerichtshof hat sich bisher zu dieser Frage nicht ausdrücklich geäußert. In der Rechtssache Kaboulov/Ukraine (Urteil vom 19. November 2009 - Nr. 41015/04 - Rn. 99 ff.) hat er seine rechtliche Prüfung bei einer aufgrund eines Moratoriums nicht vollstreckten Todesstrafe indes nicht auch darauf erstreckt, ob die (faktisch) als lebenslange Freiheitsstrafe anzusehende Strafe konventionskonform ist. Selbst wenn man die nicht vollstreckte Todesstrafe wie eine lebenslange Freiheitsstrafe behandeln würde und wie bei einer solchen die Möglichkeit der Überprüfung der Strafe und Aussicht auf Entlassung voraussetzen müsste, stünde dies hier der Abschiebung nicht entgegen. Der Antragsteller hat nämlich auch für den Fall der Verhängung der Todesstrafe im Ergebnis eine hinreichende, dem in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 3 EMRK angestrebten Schutzniveaus genügende Gewähr, dass er eine Überprüfung seiner Strafe bewirken kann.

21 Dies folgt aus dem in den Art. 353 und 354 der tunesischen Strafprozessordnung (CPP) verankerten Recht auf eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung in Kombination mit dem in den Art. 371 und 372 CPP statuierten Begnadigungsrecht des Staatspräsidenten.

22 Der Senat verkennt nicht, dass - im Falle einer verhängten Todesstrafe - sich eine hinreichende Überprüfungsmöglichkeit nicht allein aus den Art. 353 und 354 CPP ergibt. Diese Bestimmungen haben folgenden Wortlaut:
Art. 353
Jedem, der zu einer oder mehreren Freiheitsstrafen verurteilt worden ist und durch sein Verhalten in der Haft seine Änderung unter Beweis gestellt hat oder dessen Entlassung als im Interesse der Gemeinschaft beurteilt wurde, kann die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung eingeräumt werden.
Art. 354
Die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung kann nur verurteilten Personen gewährt werden, die bereits einen Bruchteil der Strafe oder die Gesamtstrafe verbüßt haben, gleich oder größer als
1) nach Verbüßung der Hälfte der Strafdauer für die Erstverurteilten. Die Dauer der von der verurteilten Person verbüßten Strafe darf jedoch nicht weniger als drei Monate betragen;
2) nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafdauer für verurteilte Personen mit Vorstrafen. Die Dauer der von der verurteilten Person verbüßten Strafe darf jedoch nicht weniger als sechs Monate betragen.
"Die Bewährungszeit beträgt fünfzehn Jahre für diejenigen, die zu lebenslanger Haft verurteilt werden."
(Geändert durch Artikel 3 des Gesetzes Nr. 89-23 vom 27. Februar 1989).

23 Nach diesen Bestimmungen kann ein in Tunesien zu einer Freiheitsstrafe Verurteilter (auf entsprechenden Antrag des Häftlings oder seines Bevollmächtigten hin) auf Bewährung freigelassen werden, wenn dieser durch sein Verhalten in der Haft seine Änderung unter Beweis gestellt hat ("gute Führung") oder die Entlassung im Interesse des Gemeinwohls liegt.

24 Sie genügen den Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an die Überprüfbarkeit einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Es bestehen objektive und vorher bestimmte Kriterien, die der Betroffene bereits bei Verhängung der Freiheitsstrafe kennt. Diese Kriterien knüpfen unter anderem auch an eine erfolgte Resozialisierung an. Die Art. 353, 354 CPP gelten gemäß Art. 4 LAT auch für Personen, die auf der Grundlage des Antiterrorismusgesetzes vom 7. August 2015 verurteilt wurden (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2018 S. 2 f.< Bl. 225 ff. der Gerichtsakte> und Schreiben des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018, Anlage 1 der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018 <Bl. 318 ff. der Gerichtsakte>). Das Auswärtige Amt hat zudem mitgeteilt, dass von dieser Möglichkeit der Strafrestaussetzung in der Praxis auch Gebrauch gemacht wird. Damit besteht auch de facto für nach dem Antiterrorismusgesetz vom 7. August 2015 verurteilte Personen die Möglichkeit, einen Antrag auf Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung zu stellen und die Freiheit wiederzuerlangen.

25 Ausweislich des Wortlauts der Art. 353 und 354 CPP und der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018 (S. 2) finden diese Vorschriften jedoch nur auf Personen Anwendung, die zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sind. Im Falle einer verhängten Todesstrafe - wie sie für den Antragsteller im Raum steht - sind diese Normen nicht unmittelbar anwendbar. Die Strafaussetzungsvorschriften kommen dem Antragsteller aber nach der Überzeugung des Senats in der Sache deshalb zugute, weil Todesstrafen im Wege der Begnadigung (Art. 371 f. CPP) früher oder später in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt werden (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018 S. 2). Die Todesstrafe wird durch einen formellen Gnadenakt, der durch den Präsidenten der Republik Tunesien ausgeübt wird, in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt. Dies gilt nach der Auskunftslage fürjedeverhängte Todesstrafe. Jedes Todesurteil wird zwingend und automatisch dem tunesischen Justizministerium übermittelt, das nach Anhörung der Gnadenkommission dem Staatspräsidenten einen Bericht zur Ausübung seines Gnadenrechts zuleitet. Durch den Gnadenakt wird die Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 20. März 2018, Bl. 556 f. Gerichtsakte). Nach der Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe finden die Art. 353 und 354 CPP Anwendung und eröffnen die bereits für ausreichend befundene Überprüfungsmöglichkeit.

26 Art. 372 CPP räumt dem tunesischen Staatspräsidenten auf der Grundlage des Berichts des Staatssekretärs für Justiz nach Anhörung der Gnadenkommission das Recht zur Begnadigung ein. Dieses Recht bezieht sich nach Art. 371 CPP sowohl auf die Umwandlung einer Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe als auch auf die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung. Für die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung besteht das Begnadigungsrecht neben und ergänzend zu den Vorschriften der Art. 353 und 354 CPP.

27 Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2018 (S. 4), die sich auf Erkenntnisse der Deutschen Stiftung für Internationale rechtliche Zusammenarbeit stützt, wurden im Zeitraum von September 2014 bis Juli 2015 im Wege der Begnadigung in folgendem Umfang die Reststrafe von Gefangenen zur Bewährung ausgesetzt:
Zeitraum Anträge Abgelehnte Genehmigte
gestellt Anträge Anträge
16.09. -
30.10.2014 20 8 12
Nov. 2014 19 16 3
Dez. 2014 9 7 2
Jan. 2015 14 4 10
Feb. 2015 21 10 11
März 2015 3 3 0
April 2015 26 8 18
Mai 2015 29 3 23
Juni 2015 31 8 23
Juli 2015 15 5 10

28 Zudem wurden nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2018 (S. 4), die sich auf eine offizielle Mitteilung des tunesischen Justizministeriums stützt, in jüngerer Zeit folgende Fälle präsidentieller Begnadigungen bekannt:
13.01.2017: 3 706 Gefangene
20.03.2017: 1 433 Gefangene
14.01.2018: 1 389 Gefangene

29 Die letztgenannte Zahl wird durch Presseberichte bestätigt, wonach Präsident Beji Caid Essebsi am 14. Januar 2018 bei 1 389 Häftlingen per Gnadenerlass die Haftstrafen reduzierte beziehungsweise bei 459 Personen einen vollständigen Straferlass unterzeichnete (https://www.maghreb-post.de/gesellschaft/tunsien-feierlichkeiten-in-erinnerung-an-jasmine-revolution/).

30 Des Weiteren bezieht sich die Begnadigungspraxis auch auf die Umwandlung von Todesstrafen in lebenslange Freiheitsstrafen. Aus der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018 (S. 2) geht hervor, dass als Folge des Moratoriums Begnadigungen auch bei Verurteilungen zum Tode nicht nur möglich sind, sondern der "gängigen Rechtspraxis" entsprechen, und zwar auch im Falle von aufgrund terroristischer Delikte verurteilten Straftätern (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2018 S. 3). Nach den Erläuterungen des "Chef du Cabinet" des tunesischen Justizministers besteht in Tunesien Konsens darüber, dass in der Praxis Todesurteile durch Gnadenentscheidungen des Staatspräsidenten als lebenslange oder gar zeitige Freiheitsstrafen behandelt werden (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018 S. 2).

31 Das tunesische Justizministerium hat in seinem Schreiben vom 1. März 2018 (S. 1, Anlage 1 der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018) über Gespräche unter anderem mit Vertretern des deutschen Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz ausgeführt, dass im Jahr 2012 insgesamt 122 Todesurteile in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt worden sind. Unter den Begünstigten befanden sich auch wegen terroristischer Straftaten Verurteilte. Wie dargelegt finden auf diesen Personenkreis sowohl die Vorschriften über die vorzeitige Haftentlassung nach den Art. 353 f. CPP Anwendung als auch die vorzeitige Haftentlassung im Wege der Begnadigung gemäß Art. 371 f. CPP. An der Richtigkeit der diesbezüglichen Auskunft des Auswärtigen Amtes hegt der Senat keine Zweifel. Der Antragsteller macht insoweit unter Vorlage eines Ausschnitts aus der Zeitschrift "Leaders" vom 10. Mai 2013 (vgl. Anlage A 13 des Schriftsatzes des Antragstellers vom 11. Februar 2018 <Bl. 256 und 262 Gerichtsakte>) zwar geltend, dass die meisten der 122 begnadigten Personen nicht wegen terroristischer Straftaten, sondern in Verschwörungsfällen gegen die Staatssicherheit zum Tode verurteilt worden seien. Dies vermag nach Überzeugung des Senats die Auskunft des Auswärtigen Amtes aber nicht zu entkräften. Denn die in Art. 14 ff. LAT aufgeführten terroristischen Straftaten umfassen auch Delikte gegen die innere und äußere Staatssicherheit. (z.B. Verursachung von Schäden am Sitz einer diplomatischen, konsularischen oder internationalen Organisation; Schädigung lebenswichtiger Ressourcen, Infrastruktur, Verkehrs- und Kommunikationseinrichtungen, vgl. Art. 14 LAT).

32 Dass bislang keine Begnadigungen von Häftlingen erfolgt sind, die wegen Verbrechen im Zusammenhang mit Terrorismus nach dem neuen Antiterrorismusgesetz zum Tode verurteilt wurden, steht der Annahme einer künftigen Anwendung der generellen Rechtspraxis der Begnadigung mit der Folge der Umwandlung von Todesstrafen in lebenslange Freiheitsstrafen auch in Bezug auf diesen Personenkreis nicht entgegen. Dies ist nach Auffassung des Senats darauf zurückzuführen, dass die entsprechenden Verurteilungen neueren Datums sind und es für Begnadigungen nur wenige Jahre nach Einführung des Antiterrorismusgesetzes ersichtlich noch zu früh ist. Da dieses Gesetz erst seit dem 7. August 2015 in Kraft ist und bei einer Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ein Antrag auf Strafaussetzung gemäß den Art. 353 und 354 CPP frühestens nach 15 Jahren Haft gestellt werden kann, können noch keine Präzedenzfälle zu diesem Gesetz vorliegen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2018 S. 4; Schreiben des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018 S. 1). Darüber hinaus entspricht es wie dargelegt Art. 4 LAT i.V.m. Art. 371 f. CPP, dass das Begnadigungsrecht des Staatspräsidenten für nach dem Antiterrorismusgesetz verurteilte Straftäter gilt (vgl. Schreiben des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018 S. 1).

33 Soweit in dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017 (S. 12) ausgeführt wird, dass von dem Begnadigungsrecht Personen ausgenommen seien, die wegen terroristischer Straftaten verurteilt worden sind, wird dies in den jüngsten Auskünften des Auswärtigen Amtes aktualisierend korrigiert. Dem Lagebericht habe eine Äußerung aus dem politischen Raum zugrunde gelegen, die den tunesischen Staatspräsidenten aber nicht binden könne (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2018 S. 3; vgl. auch Schreiben des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018 S. 1).

34 Diese Auskunftslage widerspricht nicht den in mehreren von dem Antragsteller vorgelegten Zeitungsartikeln (u.a. Zeitschrift "Die Araber" vom 12. Dezember 2017, "AL-Ittihad" vom 12. Dezember 2017 und "assabah" vom 9. Dezember 2017; Anlagen zu den Schriftsätzen vom 11. Februar 2018 und 26. März 2018) enthaltenen Meldungen, wonach ein Berater des tunesischen Staatspräsidenten oder auch dessen Staatssekretär geäußert haben sollen, dass einem terroristischen Straftäter keine Amnestie gewährt werden könne, wobei in einem Fall auch der Name des Antragstellers erwähnt worden sein soll. Zum einen schließt eine Amnestie, die auch schon vor einer Verurteilung ergehen kann, nicht eine individuell ergehende präsidentielle Gnadenentscheidung nach einer strafgerichtlichen Verurteilung und Verbüßung eines nennenswerten Teiles der Strafe aus. Zum anderen kann auch eine von einem Dritten geäußerte Auffassung den Staatspräsidenten nicht binden und eine von diesem geübte Rechtspraxis infrage stellen. Schließlich können die Aussagen auch dahin ausgelegt werden, dass derzeit keine Amnestie für terroristische Straftäter in Betracht komme und auch der Antragsteller hierzu gerechnet werde. Das sagt noch nichts darüber aus, dass eine Gnadenentscheidung nach Verstreichen eines Zeitraums möglich ist, der der 15-jährigen "Bewährungszeit" (im Sinne von Mindestverbüßungsdauer) nach Art. 354 CPP entspricht. Der Senat folgt auch in Ansehung anders lautender oder auslegbarer Pressemeldungen der eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 20. März 2018, wonach "jede verhängte Todesstrafe" durch Gnadenakt des Staatspräsidenten in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt wird (Antwort auf Frage 2). Das Auswärtige Amt kann über seine Botschaft in Tunesien die Rechtslage und deren tatsächliche Umsetzung kompetent beurteilen, der Senat hat das Auswärtige Amt auf Widersprüche hingewiesen, wie sie sich aus seinem von dem Antragsteller angeführten Lagebericht vom 16. Januar 2017 und Äußerungen tunesischer Stellen (u.a. des Leiters der Abteilung für Strafrecht und Internationale Zusammenarbeit im tunesischen Justizministerium N. nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2018 S. 3) ergeben. Das Auswärtige Amt hat mit seiner Auskunft vom 20. März 2018 dazu klar Stellung bezogen und ausgesagt, dass jede verhängte Todesstrafe in eine lebenslange oder zeitige Freiheitsstrafe umgewandelt wird. Der Senat hat keinen durchgreifenden Anlass, an dieser eindeutigen Aussage zu zweifeln.

35 Auch die mit Schriftsatz des Antragstellers vom 14. März 2018 vorgelegten Zeitungsartikel vom 19. Oktober 2013, 13. Januar 2015 und 11. Dezember 2016 (Bl. 532 ff. der Gerichtsakte) sowie die mit Schriftsatz vom 26. März 2018 eingereichten Zeitungsartikel (Bl. 575 ff. der Gerichtsakte) stehen der Anwendung der generellen Rechtspraxis auf die Begnadigung von Häftlingen, die wegen terroristischer Straftaten zum Tode verurteilt wurden, nicht entgegen. Teilweise beziehen sich diese Presseartikel auf Personen, die (noch) nicht verurteilt worden sind (z.B. Untersuchungsgefangene), oder auf ein Absehen von Verfolgung insgesamt. Dass sich in den Jahren 2013, 2015 und 2016 unter den begnadigten Personen keine wegen terroristischer Taten verurteilten Gefangenen befanden, sagt zudem nichts darüber aus, ob in den kommenden Jahren solche Begnadigungen - als Einzelakt oder im Rahmen einer Amnestie - bezüglich Personen ausgesprochen werden, die nach strafgerichtlicher Verurteilung einen nennenswerten Teil der Strafe verbüßt haben. Zudem folgt aus der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 20. März 2018 (Bl. 556 der Gerichtsakte), dass jede verhängte Todesstrafe durch einen formellen Gnadenakt des Präsidenten in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt wird, mithin also auch solche Todesstrafen, die gegen terroristische Straftäter verhängt werden. Dem widerstreitet auch nicht die dem tunesischen Staatspräsidenten in den Presseartikeln vom 9. und 11. Dezember 2016 zugeschriebene Aussage, "er verweigere kategorisch die Gnade für tunesische Terroristen, die in den Reihen der Terrororganisationen wie 'Al Qaida' und 'Daesh' kämpf[t]en"; das von diesem abgelehnte "Gesetz der Reue" bezieht sich zudem nicht auf bereits verurteilte Personen, wenn betont wird, dass "man diese Verbrecher vor die Gerichte/Justiz stellen muss". Diese Aussage widerstreitet nicht der Praxis der Umwandlung einer verhängten Todesstrafe in eine der Strafaussetzung gemäß den Art. 353 und 354 CPP zugängliche lebenslange Freiheitsstrafe. Diese Praxis liegt in der Logik des von dem tunesischen Staat seit dem Jahr 1991 beachteten Moratoriums betreffend die Vollstreckung der Todesstrafe.

36 Ebenso wenig streitet gegen die hier vorgenommene Bewertung der Erkenntnislage durch den Senat, dass das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 7. Februar 2018 Folgendes ausgeführt hat (S. 3 zu Frage II.1.): "Das präsidentielle Begnadigungsrecht (Art. 371 ff. CPP) findet nach den vorgenannten Vorschriften auch auf Personen Anwendung, die nach dem Antiterrorismusgesetz verurteilt wurden. Allerdings wurde Justizminister J. im Zusammenhang mit einer beabsichtigten Reform dieses Rechts zuletzt im Januar 2017 zitiert, dass man weiterhin an der Nichtbegnadigung von Terroristen festhalten werde (s.a. entsprechender Hinweis im Asyllagebericht der Botschaft). Dies war allerdings eine politische Äußerung, die den Präsidenten nicht präjudizieren kann. In der Vergangenheit hat es laut Auskunft von Herrn N. Begnadigungen von aufgrund terroristischer Taten verurteilten Straftätern in Tunesien gegeben. Herr N. betonte ferner ausdrücklich, dass in keiner Weise vorherzubestimmen sei, wie über ein Begnadigungsersuchen in vielen Jahren entschieden werde. Der Wegfall des Gefühls der terroristischen Bedrohung könne sicherlich dazu beitragen, dies eher ins Auge zu fassen." Dies bedeutet entgegen der persönlichen Einschätzung des Leiters der Abteilung für Strafrecht und Internationale Zusammenarbeit im tunesischen Justizministerium N. nicht, dass auch eine Umwandlung einer Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe dauerhaft ausgeschlossen oder ungewiss sei. Die Strafaussetzung einer umgewandelten Todesstrafe ist dann aber nicht nur nach den Regeln des Gnadenrechts möglich, sondern rechtlich vorherbestimmt durch die Art. 353 f. CPP.

37 Auf dieser Erkenntnisbasis erfüllt auch der - bei zum Tode Verurteilten - zunächst erforderliche Gnadenakt des Präsidenten die Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an die Überprüfbarkeit einer (hier nach erwartbarer Umwandlung einer etwa verhängten Todesstrafe) lebenslangen Freiheitsstrafe. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits betont, dass eine Begnadigung nicht von vornherein untauglich ist, um dem Verurteilten eine Chance auf Wiedererlangung der Freiheit einzuräumen (EGMR, Urteil vom 4. September 2014 - Nr. 140/10, Trabelsi/Belgien - Rn. 137). Vielmehr hat er unter Berufung auf die Doktrin des Beurteilungsspielraums ("margin of appreciation") darauf verwiesen, dass es nicht seine Aufgabe sei vorzuschreiben, in welcher Form die Überprüfung stattzufinden habe (EGMR, Urteil vom 9. Juli 2013 - Nr. 66069/09, 130/10 und 3896/10, Vinter u.a./U.K. - Rn. 120). Erforderlich ist aber, dass vorhersehbar ist, unter welchen Voraussetzungen von diesem Gnadenrecht Gebrauch gemacht wird beziehungsweise werden kann. Es bedarf objektiver und vorher bestimmter Kriterien (s.o.). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Werden alle Todesurteile - wie es in Tunesien der Fall ist - in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt, ist für den Betroffenen bereits bei der Verurteilung absehbar, dass sein Todesurteil, dessen Vollstreckung er wegen des Moratoriums von Anbeginn nicht zu befürchten hat, - früher oder später - auch formell in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt werden wird und er danach die Möglichkeit der Bewährung unter den vorgesehenen Bedingungen (Art. 353 und 354 CPP) hat. Dem in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aufgestellten Grundsatz, wonach ein zu lebenslanger Haft verurteilter Gefangener ein Recht hat, von Anfang an zu wissen, was er tun muss, um für eine Entlassung in Betracht gezogen zu werden und unter welchen Bedingungen diese erfolgen kann, einschließlich der Frage, wann eine Überprüfung stattfindet oder beantragt werden kann (EGMR, Urteil vom 4. September 2014 - Nr. 140/10, Trabelsi/Belgien - Rn. 115; EGMR <GK>, Urteil vom 17. Januar 2017 - Nr. 57592/08, Hutchinson/U.K. - Rn. 44), wird hier Rechnung getragen. Wie sich aus dem tunesischen Begnadigungsrecht ergibt, kann der Staatspräsident, nachdem ihm das Justizministerium einen Bericht zur Ausübung seines Gnadenrechts zugeleitet hat, jederzeit die Begnadigung aussprechen. Hieraus folgt, dass es dem Verurteilten freisteht, jederzeit eine Überprüfung seiner Haft zu beantragen. Zudem ergibt sich aus Art. 354 CPP, dass die "Bewährungszeit" (im Sinne von Mindestverbüßungsdauer) für Personen, die zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden sind, 15 Jahre beträgt. Diese Regelung bietet einen Anhaltspunkt auch für die Ausübung des Begnadigungsrechts. Wie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu entnehmen ist, entspricht eine solche Vorgehensweise dem geforderten Überprüfungsmechanismus. Der Gerichtshof führt aus, dass es ihm nicht zustehe, darüber zu spekulieren, wie effektiv ein solches System, das ein Mindestmaß an Regulierung aufweist, in der Praxis generell funktionieren mag (EGMR <GK>, Urteil vom 17. Januar 2017- Nr. 57592/08 - Hutchinson/U.K. - Rn. 69):
"Turning to the facts of the present case, the Court does not consider that the concern expressed in Vinter regarding indeterminacy, and the repercussions of this for a whole life prisoner (Vinter and Others, cited above, § 122) can be said to arise for the applicant at present. As is stated in section 30 of the 1997 Act, the Secretary of State may order release 'at any time'. It follows, as the Government have confirmed, that it is open to the applicant to trigger, at any time, a review of his detention by the Secretary of State. It is not for the Court to speculate as to how efficiently such a system, which has minimum regulation, might generally operate in practice. It is the individual situation of the applicant that is the focus of these proceedings, and he has not suggested that he is prevented or deterred from applying to the Secretary of State at any time to be considered for release. Before concluding, though, the Court refers once again as it did in the Vinter case to the relevant comparative and international materials that show 'clear support for the institution of a dedicated mechanism guaranteeing a review no later than twenty-five years after the imposition of a life sentence, with further periodic reviews thereafter' (Vinter and Others, cited above, § 120; see more recently and in the same sense Murray, cited above, § 99)."

38 Bei dieser besonderen Ausgangslage ist hier auch hinzunehmen, dass es - soweit ersichtlich - an normierten Vorgaben fehlt, in welcher Art und Weise von dem Begnadigungsrecht Gebrauch gemacht werden soll. Die über eine lange Zeit gebildete Praxis bietet eine hinreichend verlässliche Gewähr für die Umwandlung in eine lebenslange Freiheitsstrafe. Eine absolute Sicherheit ist nicht zu fordern, weil es eine solche nicht geben kann. Selbst wenn das Begnadigungsverfahren eine dezidierte rechtliche Ausgestaltung erfahren hätte, wäre nicht sicher auszuschließen, dass die entsprechenden Regelungen zukünftig geändert werden. Ebenso wenig wie mit der Abschaffung des Moratoriums zu rechnen ist, ist auch nicht davon auszugehen, dass die über lange Jahre geübte Begnadigungspraxis geändert wird. Hierfür gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte.

39 Dem steht das Vorbringen des Antragstellers nicht entgegen, demzufolge die Vorschriften der Art. 353 f. CPP bisher in der Praxis noch nicht angewendet wurden, sondern Strafumwandlungen oder -erlasse immer durch Gnadenentscheidungen des Präsidenten erfolgten. Denn ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter hat Anspruch auf Überprüfung der Haftfortdauer nach jenen Vorschriften. Wenn seinem Anliegen in der Praxis jeweils durch Begnadigung Rechnung getragen wird, stellt das die praktische Wirksamkeit der gesetzlichen Regelungen der tunesischen Strafprozessordnung nicht infrage.

40 Auch die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (in Auslieferungsfällen bei drohender Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe) verlangt, dass in dem Rechtssystem des ausländischen Staates jedenfalls eine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit bestehen muss. Verfahrensrechtliche Einzelheiten, mit denen diese praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit in Deutschland gestärkt und gesichert wird, müssen dafür nicht erfüllt werden (BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. Januar 2010 - 2 BvR 2299/09 - BVerfGK 16, 491 = juris Rn. 22; BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2005 - 2 BvR 2259/04 - BVerfGE 113, 154 = juris Rn. 31). Maßgeblich ist nur, dass in einem anderen Rechtssystem jedenfalls eine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit besteht. Dabei kommt es auf die Gesamtbeurteilung der Ausgestaltung des jeweiligen Verfahrens an. Es besteht auch keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer Begnadigung in einem justizförmigen Verfahren, sofern das Begnadigungsrecht eine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit eröffnet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2005 - 2 BvR 2259/04 - BVerfGE 113, 154 = juris Rn. 38). Diesen Anforderungen genügen die Art. 353 und 354 CPP und die Art. 371 und 372 CPP in ihrer konkreten Anwendung und ihrem Zusammenwirken. Die Möglichkeit der Begnadigung und der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung sichern dem Antragsteller auch im Falle einer Verhängung der Todesstrafe die praktische Chance auf Wiedererlangung seiner Freiheit.

41 c) Die dem Antragsteller neben der Verhängung einer (nicht vollstreckten und später in eine Freiheitsstrafe umgewandelten) Todesstrafe drohende Verhängung einer originär lebenslangen oder zeitigen Freiheitsstrafe vermag nach dem Vorstehenden ebenfalls ein Abschiebungsverbot nicht zu begründen.

42 Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verbietet die Europäische Menschenrechtskonvention es grundsätzlich nicht, einen erwachsenen Straftäter zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen. Auch verstößt es nicht gegen die Konvention, wenn ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter seine Strafe bis zu seinem Lebensende verbüßen muss. Erforderlich ist jedoch, dass die Möglichkeit besteht, dass die Strafe überprüft wird. Insoweit kann auf die Ausführungen unter b) verwiesen werden.

43 2. Der Antrag des Antragstellers, dem Antragsgegner eine Abschiebung zu untersagen, hat keinen Erfolg. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache unter anderem eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sogenannte Sicherungsanordnung).

44 Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Hierbei kommt es nach der Aufhebung der Maßgabe in dem Beschluss vom 19. September 2017 (dazu 1.) nicht (mehr) darauf an, ob die von dem tunesischen Justizministerium unter dem 21. Dezember 2017 abgegebene Zusicherung die in dem Beschluss des Senats vom 19. September 2017 aufgestellten Anforderungen im Hinblick auf eine hinreichend verlässliche Garantie erfüllt, dass im Falle der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe die Möglichkeit einer Überprüfung der Strafe mit Aussicht auf Umwandlung oder Herabsetzung der Haftdauer gewährt wird.

45 Aus den zu 1. dargelegten Gründen steht dem Antragsteller auch sonst kein Anordnungsanspruch zur Seite, dem Antragsgegner seine Abschiebung nach Tunesien zu untersagen.

46 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts gründet auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 und 2 und § 52 Abs. 2 GKG.