Verfahrensinformation

Die Klägerin, eine Vermögensverwaltungsgesellschaft, begehrt aus abgetretenem Recht die Gewährung einer Ausgleichsleistung für die Enteignung eines Rittergutes.


Der ehemalige Eigentümer des Gutes und seine Ehefrau hatten sich im Mai 1945 das Leben genommen. Im September 1945 war das Gut nach der Verordnung über die Bodenreform in der Provinz Mark Brandenburg entschädigungslos enteignet worden. Das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen lehnte 2010 die Gewährung einer Ausgleichsleistung mit der Begründung ab, der Anspruch sei wegen der Aktivitäten und Funktionen des früheren Eigentümers des Gutes in der Zeit des Nationalsozialismus nach § 1 Abs. 4 Ausgleichsleistungsgesetz (AusglLeistG) ausgeschlossen. Dieser habe dem nationalsozialistischen System in erheblicher Weise Vorschub geleistet. Obwohl er zum Zeitpunkt der Enteignung bereits verstorben gewesen sei, komme es für den Ausschlusstatbestand auf seine Person an, weil die Enteignung auf ihn abgezielt habe.


Das Verwaltungsgericht hat der Klage auf Gewährung einer Ausgleichsleistung in Höhe von über 300 000 € stattgegeben. Für den Ausschlusstatbestand des erheblichen Vorschubleistens sei nicht auf den zum Zeitpunkt der Enteignung bereits verstorbenen vormaligen Eigentümer des Rittergutes abzustellen, sondern auf dessen Erben, die zum Enteignungszeitpunkt Eigentümer des Gutes gewesen seien. Diese erfüllten den Ausschlusstatbestand jedoch nicht.


Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Revision beim Bundesverwaltungsgericht. Diese hat das Verwaltungsgericht zur Klärung der Frage zugelassen, ob und inwieweit im Rahmen des genannten Ausschlusstatbestandes auf Personen abgestellt werden darf, die zum Zeitpunkt der Enteignung bereits verstorben waren.


Urteil vom 14.03.2013 -
BVerwG 5 C 15.12ECLI:DE:BVerwG:2013:140313U5C15.12.0

Leitsatz:

In die Prüfung, ob ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG wegen erheblichen Vorschubleistens zugunsten des nationalsozialistischen Systems ausgeschlossen ist, ist auch derjenige einzubeziehen, auf den die entschädigungslose Enteignung auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage abgezielt hat, selbst wenn er im Zeitpunkt der Enteignung bereits verstorben war (Bestätigung der Urteile vom 24. Februar 2005 - BVerwG 3 C 16.04 - und vom 23. Februar 2006 - BVerwG 3 C 22.05 ).

  • Rechtsquellen
    AusglLeistG § 1 Abs. 1 und 4
    VermG § 1 Abs. 8 Buchst. a

  • VG Greifswald - 01.03.2012 - AZ: VG 6 A 938/10

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 14.03.2013 - 5 C 15.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2013:140313U5C15.12.0]

Urteil

BVerwG 5 C 15.12

  • VG Greifswald - 01.03.2012 - AZ: VG 6 A 938/10

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 14. März 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer, Dr. Häußler und
Dr. Fleuß
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 1. März 2012 aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I

1 Die Klägerin, eine Vermögensverwaltungsgesellschaft, begehrt aus abgetretenem Recht die Gewährung einer Ausgleichsleistung für die Enteignung eines Rittergutes.

2 Ehemaliger Eigentümer des 775 ha großen Rittergutes G. war A. Dieser trat im Dezember 1931 in die NSDAP ein und hatte ab April 1933 das Amt des Landesdirektors der Provinz Brandenburg inne. Am 3. Mai 1945 nahm er sich das Leben. Seine Ehefrau verstarb wenige Tage später. Das Rittergut wurde nach der Verordnung über die Bodenreform in der Provinz Mark Brandenburg vom 6. September 1945 entschädigungslos enteignet.

3 Im Juli 2008 traten die Erben und Erbeserben des A. ihre Ansprüche nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz für das Rittergut an die Klägerin ab.

4 Mit Bescheid vom 19. August 2010 lehnte das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen die Gewährung einer Ausgleichsleistung mit der Begründung ab, der Anspruch sei wegen der Aktivitäten und Funktionen A. in der Zeit des Nationalsozialismus nach § 1 Abs. 4 Ausgleichsleistungsgesetz (AusglLeistG) ausgeschlossen. Dieser habe dem nationalsozialistischen System in erheblicher Weise Vorschub geleistet.

5 Das Verwaltungsgericht hat der Klage auf Gewährung einer Ausgleichsleistung in Höhe von 312 910,63 € mit Urteil vom 1. März 2012 stattgegeben. Der Ausschlusstatbestand des erheblichen Vorschubleistens nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG sei nicht erfüllt. Für die Anwendung dieser Vorschrift sei nicht auf den zum Zeitpunkt der Enteignung bereits seit mehreren Monaten verstorbenen vormaligen Eigentümer des Rittergutes, A., abzustellen. Maßgeblich seien allein dessen Erben, die zum Zeitpunkt der Enteignung Eigentümer des Gutes gewesen und als solche geschädigt worden seien. Diese erfüllten den Ausschlusstatbestand jedoch nicht. Die Ausgleichsleistungen sollten erkennbar dem zugutekommen, der von dem Unrecht des Vermögensverlustes betroffen war und nicht selbst maßgeblich für die Ursachen für die Unrechtsmaßnahmen verantwortlich gewesen sei. Dies könne nur eine Person sein, die zum Zeitpunkt der Enteignung noch gelebt habe. Nur diese Person habe das wiedergutzumachende Unrecht erlitten. Auf die Unwürdigkeit eines Rechtsvorgängers komme es nicht an. Die Maßnahme verliere ihren Unrechtsgehalt, der auszugleichen sei, nicht dadurch, dass der Geschädigte die Eigentümerposition erst kurze Zeit inne gehabt habe. Umgekehrt würde ein Abstellen auf den im Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG unwürdigen Rechtsvorgänger, der bereits vor der Enteignung verstorben gewesen sei, zu einem geradezu unerträglichen Ergebnis führen, wenn es sich bei dem durch die Enteignung tatsächlich Geschädigten etwa um eine Person handeln würde, die im Widerstand zum nationalsozialistischen Regime gestanden hatte. Die Einbeziehung des im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Enteignung bereits Verstorbenen, sofern die Enteignung auf ihn abziele, würde in vielen Fällen - wie auch dem vorliegenden - erhebliche Anwendungsschwierigkeiten nach sich ziehen.

6 Der Beklagte rügt mit seiner Revision eine Verletzung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG. In die Prüfung, ob ein Anspruch nach dieser Vorschrift ausgeschlossen sei, sei auch derjenige einzubeziehen, auf den die entschädigungslose Enteignung auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage abgezielt habe, selbst wenn er im Zeitpunkt der Enteignung bereits verstorben gewesen sei. Diese Auslegung sei sowohl vom Normzweck her als auch aus systematischen Gründen geboten. Dies habe auch das Bundesverwaltungsgericht bereits in zwei Urteilen aus den Jahren 2005 und 2006 entschieden. Diese Rechtsprechung sei nicht durch spätere Entscheidungen aufgegeben worden.

7 Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil.

II

8 Die Revision des Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Es beruht auf einer unrichtigen Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 4 Ausgleichsleistungsgesetz (AusglLeistG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Juli 2004 (BGBl I S. 1665), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 21. März 2011 (BGBl I S. 450). Weil die für eine abschließende Entscheidung zu dieser Vorschrift erforderlichen Tatsachen vom Verwaltungsgericht nicht festgestellt worden sind, ist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

9 1. Die Beteiligten wie im Ergebnis auch die Vorinstanz gehen zu Recht davon aus, dass die Klägerin nach § 1 Abs. 1 AusglLeistG anspruchsberechtigt ist. Danach erhalten natürliche Personen, die Vermögenswerte im Sinne des § 2 Abs. 2 VermG durch entschädigungslose Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Beitrittsgebiet) verloren haben, oder ihre Erben oder weitere Erben (Erbeserben) eine Ausgleichsleistung nach Maßgabe des Ausgleichsleistungsgesetzes. Diese Voraussetzungen liegen vor.

10 Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts ist das Rittergut G. auf der Grundlage der Verordnung über die Bodenreform in der Provinz Mark Brandenburg vom 6. September 1945 (Verordnungsblatt der Provinzialverwaltung Mark Brandenburg 1945 Nr. 1 S. 8, abgedruckt bei Fieberg/Reichenbach, RWS-Dokumentation 7, Enteignung und Offene Vermögensfragen in der ehemaligen DDR, Bd. I, 2.6.1) entschädigungslos enteignet worden. Bei dieser Bodenreformenteignung handelte es sich - wie das Verwaltungsgericht im Ergebnis zutreffend annimmt - um eine Enteignung auf besatzungshoheitlicher Grundlage im Sinne des § 1 Abs. 1 AusglLeistG (vgl. Urteile vom 24. September 2003 - BVerwG 8 C 27.02 - BVerwGE 119, 82 <84> = Buchholz 428 § 1 Abs. 8 VermG Nr. 25 S. 88; vom 28. September 1995 - BVerwG 7 C 28.94 - BVerwGE 99, 268 <271 f.> = Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 54 S. 152 f. und vom 30. November 1995 - BVerwG 7 C 69.94 - Buchholz 112 § 1 VermG Nr. 58 S. 172).

11 Die Anspruchsberechtigung der Erben und Erbeserben des A., die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Ausgleichsleistungsgesetzes am 1. Dezember 1994 lebten und dadurch die Berechtigtenstellung nach § 1 Abs. 1 AusglLeistG erlangten (vgl. Urteil vom 23. Oktober 2008 - BVerwG 5 C 31.07 - BVerwGE 132, 200 <Rn. 11> = Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 15 Rn. 11), ist im Wege der rechtsgeschäftlichen Übertragung, gegen deren Wirksamkeit Bedenken weder ersichtlich noch sonst geltend gemacht worden sind, auf die Klägerin übergegangen.

12 2. Die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, dass es im Rahmen der Prüfung des Ausschlusstatbestandes des § 1 Abs. 4 AusglLeistG nur auf eine Person ankommen könne, die im Zeitpunkt der Enteignung noch lebte, ist mit dieser Vorschrift nicht vereinbar. Nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG werden unter anderem dann keine Ausgleichsleistungen gewährt, wenn der nach § 1 Abs. 1 AusglLeistG Berechtigte oder derjenige, von dem er seine Rechte ableitet, gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet hat.

13 Das Verwaltungsgericht ist zwar im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass A. nicht Berechtigter im Sinne dieser Vorschrift war (a). Es hat jedoch verkannt, dass in die Prüfung des zweiten Merkmals des § 1 Abs. 4 AusglLeistG („derjenige, von dem er seine Rechte ableitet“) derjenige einzubeziehen ist, auf den die entschädigungslose Enteignung auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage abgezielt hat, selbst wenn er im Zeitpunkt der Enteignung bereits verstorben war (b). Auf dieser Grundlage hätte das Verwaltungsgericht A. in die Prüfung des Ausschlusstatbestandes einbeziehen müssen (c).

14 a) Berechtigter im Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG ist nur derjenige, in dessen Person der Anspruch auf Ausgleichsleistung bei Inkrafttreten des Ausgleichsleistungsgesetzes am 1. Dezember 1994 entstanden ist, also der Geschädigte oder - wenn dieser zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes nicht mehr lebte - sein Erbe oder ggf. Erbeserbe (Urteile vom 15. März 2007 - BVerwG 3 C 37.06 - BVerwGE 128, 194 <Rn. 14 f.> = Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 10 Rn. 14 f. und vom 14. Mai 2009 - BVerwG 5 C 15.08 - Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 18).

15 Dies trifft auf A. nicht zu. Er war zwar zu seinen Lebzeiten Eigentümer des Rittergutes, konnte aber durch die besatzungsrechtliche Enteignungsmaßnahme im September 1945 nicht mehr selbst geschädigt werden, weil er bereits im Mai 1945 verstorben war. Geschädigt wurden dadurch seine Erben (bzw. Erbeserben), denen das Rittergut zum Enteignungszeitpunkt im September 1945 zugestanden hat. Berechtigte im Sinne des § 1 Abs. 4 AusglLeistG waren mithin diejenigen Erben und Erbeserben des A., in deren Person der Anspruch auf Ausgleichsleistung bei Inkrafttreten des Ausgleichsleistungsgesetzes entstanden ist.

16 b) Das Verwaltungsgericht hat jedoch zu Unrecht angenommen, dass A. auch nicht derjenige im Sinne des § 1 Abs. 4 AusglLeistG sein konnte, von dem der Berechtigte seine Rechte ableitet. Der Senat hält an der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fest, dass auch Personen in die Prüfung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG einzubeziehen sind, die im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Enteignung bereits verstorben waren, sofern die Enteignung auf sie abzielte (Urteile vom 24. Februar 2005 - BVerwG 3 C 16.04 - Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 4 und vom 23. Februar 2006 - BVerwG 3 C 22.05 - Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 6; vgl. auch Urteil vom 28. Februar 2007 - BVerwG 3 C 38.05 - BVerwGE 128, 155 <158> = Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 9 Rn. 16). Dieses Auslegungsergebnis wird durch systematische (aa) und insbesondere durch historisch-teleologische Gründe (bb) getragen. Ihm stehen weder der Wortlaut der Rechtsnorm (cc) noch sonstige Erwägungen entgegen (dd).

17 aa) Für die Einbeziehung desjenigen, auf den die Enteignung abzielte, spricht zunächst der systematische Zusammenhang zwischen der entschädigungslosen Enteignung und dem Ausschluss vermögensrechtlicher Ansprüche nach § 1 Abs. 8 Buchst. a VermG auf der einen und der wesentlich auf dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes beruhenden ersatzweisen Begründung eines Ausgleichsleistungsanspruchs nach § 1 AusglLeistG auf der anderen Seite. Der Anspruch auf Ausgleichsleistung nach § 1 Abs. 1 AusglLeistG beinhaltet nämlich ein Surrogat für den nach § 1 Abs. 8 Buchst. a VermG ausgeschlossenen Restitutionsanspruch, das an die entsprechende Enteignung anknüpft, die auch dann als wirksam anzusehen ist, wenn sie gegen einen bereits Verstorbenen gerichtet war (Urteil vom 28. Juli 1994 - BVerwG 7 C 14.94 - BVerwGE 96, 253 <256 ff.> = Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 1 S. 55 ff.). Diese Verknüpfung von Enteignung und Ausgleichsleistungsanspruch spricht - wie das Bundesverwaltungsgericht bereits ausgeführt hat (Urteile vom 24. Februar 2005 a.a.O. und vom 23. Februar 2006 a.a.O.) - dafür, auch für den Surrogatanspruch auf die entschädigungslose Enteignung Bezug zu nehmen und denjenigen in die Prüfung des Ausschlussgrundes einzubeziehen, auf den diese Enteignung abgezielt und den sie nur wegen seines zuvor eingetretenen Todes verfehlt hat.

18 Dieses systematische Argument wird entgegen der Rechtsansicht der Klägerin nicht dadurch entwertet, dass die Regelungen des § 1 Abs. 8 Buchst. a VermG einerseits und des § 1 Abs. 1 AusglLeistG andererseits bei isolierter Betrachtung unterschiedlichen Zwecken dienen. Auch soweit eine unterschiedliche Zwecksetzung vorliegt, wird dadurch die beiden Vorschriften zugrunde liegende systematische Verknüpfung zwischen einer entschädigungslosen Enteignung, die auch wirksam auf bereits Verstorbene gerichtet sein kann, und dem jeweils darauf bezogenen Surrogatanspruch nicht hinfällig. Zudem kommt es im Hinblick auf die Auslegung nach Sinn und Zweck der Norm nicht maßgeblich auf die Regelung über die Anspruchsberechtigung (§ 1 Abs. 1 AusglLeistG) an, sondern auf die des hier in Rede stehenden Ausschlusstatbestandes des § 1 Abs. 4 AusglLeistG. Gerade die Zwecksetzung dieses sog. Unwürdigkeitstatbestandes spricht jedoch mit besonderem Gewicht für das Auslegungsergebnis des Senats.

19 bb) Der Zweck des § 1 Abs. 4 AusglLeistG besteht darin zu verhindern, dass diejenigen, welche die Hauptverantwortung für die zu revidierenden Unrechtsmaßnahmen tragen, das Ausgleichsleistungsgesetz nicht zu ihren Gunsten in Anspruch nehmen (vgl. etwa Urteile vom 17. März 2005 - BVerwG 3 C 20.04 - BVerwGE 123, 142 <143 f.> = Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 5 S. 9 und vom 14. Mai 2009 a.a.O.). Das ergibt sich bereits ausdrücklich aus der Gesetzesbegründung zu dieser Vorschrift (vgl. BTDrucks 12/4887 S. 38). Entsprechende Ausschlussregelungen finden sich in allen vergleichbaren gesetzlichen Regelungen wie z.B. im Bundesentschädigungsgesetz oder im Lastenausgleichsgesetz. Der Ausschlusstatbestand des § 1 Abs. 4 AusglLeistG, der in der Fassung des Regierungsentwurfes (vgl. BTDrucks 12/4887 S. 12) noch auf den „nach Absatz 1 und 2 Berechtigten oder das enteignete Unternehmen“ beschränkt war, wurde hinsichtlich des ausgeschlossenen Personenkreises in den Ausschussberatungen um den Zusatz „oder derjenige, von dem er seine Rechte ableitet“ erweitert und erhielt damit seine geltende Fassung (Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses, BTDrucks 12/7588 S. 12). Diese Ergänzung ist damit begründet worden, es solle klargestellt werden, dass auch die Unwürdigkeit des Rechtsvorgängers des Berechtigten zum Ausschluss des Anspruchs auf Ausgleichsleistung führe (BTDrucks 12/7588 S. 41).

20 Der zuvor beschriebene Regelungszweck greift unabhängig davon ein, ob die „Hauptverantwortlichen“, die nach dem hier in Rede stehenden Merkmal des § 1 Abs. 4 AusglLeistG dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet haben, vor oder nach der entschädigungslosen Enteignung verstorben sind. Das gesetzgeberische Ziel, gerade die Hauptverantwortlichen - und damit notwendig auch deren Erben und Erbeserben - von der Ausgleichsleistung auszuschließen, würde vereitelt, soweit trotz eines erheblichen Vorschubleistens Ausgleichsleistungen beansprucht werden könnten, weil der Hauptverantwortliche zum Zeitpunkt der Enteignung nicht mehr lebte. Dem Gesetzeszweck wird vielmehr nur dann hinreichend Rechnung getragen, wenn die Prüfung von Ausschlussgründen nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG auf denjenigen erstreckt wird, auf den - wegen seiner Mitverantwortung für das Unrechtssystem - die Enteignung auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage auch abzielte. Die im angegriffenen Urteil des Verwaltungsgerichts vorgenommene Beschränkung auf die im Enteignungszeitpunkt Geschädigten führte demgegenüber zu der am Regelungszweck vorbeigehenden Konsequenz, dass es vom Zeitpunkt des Todes des nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG Ausgeschlossenen abhängen würde, ob - bei Tod vor der entschädigungslosen Enteignung - eine Ausgleichsleistung zu zahlen ist oder - im Falle des Todes erst nach der entschädigungslosen Enteignung - nicht (Urteile vom 24. Februar 2005 a.a.O. und vom 23. Februar 2006 a.a.O.).

21 Nach der in § 1 Abs. 4 AusglLeistG zum Ausdruck kommenden Wertung des Gesetzgebers ist es entgegen der Rechtsansicht der Klägerin für den Anspruchsausschluss ohne Belang, dass jedenfalls dem oder den Erben kein erhebliches Vorschubleisten im Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG zur Last fällt. Es verhält sich - wie das Bundesverwaltungsgericht ebenfalls bereits ausgeführt hat (Urteile vom 24. Februar 2005 a.a.O. und vom 23. Februar 2006 a.a.O.) - gerade nicht so, dass unbelasteten Erben auf jeden Fall ein Anspruch auf Ausgleichsleistung gewährt werden sollte. Vielmehr bleibt ein - wegen der (Haupt-)Verantwortlichkeit ihres Rechtsvorgängers - ausgeschlossener Anspruch auch für diese verwirkt. Vor dem Hintergrund von Sinn und Zweck der Regelung ist kein Grund ersichtlich, weshalb diese Wertung anders ausfallen sollte, nur weil der frühere durch ein Vorschubleisten belastete Eigentümer vor der Enteignung verstorben ist, wenn gerade seine Belastung allein- oder mitursächlich für den Zugriff auf den Vermögenswert und die entschädigungslose Enteignung war.

22 cc) Dem vorgenannten anhand systematischer und historisch-teleologischer Gründe ermittelten Ergebnis der Auslegung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG steht dessen Wortlaut nicht entgegen. Es liegt innerhalb des möglichen Wortsinns, dass derjenige, von dem der Berechtigte seine Rechte ableitet, auch der zum Enteignungszeitpunkt bereits verstorbene (frühere) Eigentümer und Rechtsvorgänger des oder der Berechtigten sein kann. Der Wortlaut gibt keine zwingende Begrenzung dahin vor, dass dies nur derjenige sein kann, der durch die Enteignung selbst geschädigt worden ist.

23 Zwar verwendet das Gesetz den Singular und spricht von „demjenigen“, von dem der Berechtigte seine Rechte ableitet, was darauf hinweisen mag, dass nicht notwendig alle Rechtsvorgänger des oder der Berechtigten erfasst werden (Urteil vom 15. März 2007 - BVerwG 3 C 37.06 - BVerwGE 128, 194 <Rn. 16> = Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 10 Rn. 16, wonach die sog. Zwischenerben nicht in die Unwürdigkeitsprüfung einzubeziehen sind). Allerdings schließt auch die Verwendung des Singulars keineswegs ein Verständnis aus, dass mit dem Begriff „derjenige“ neben dem Geschädigten auch dessen Rechtsvorgänger gemeint sein kann. Denn im allgemeinen Sprachgebrauch und insbesondere in der Gesetzessprache wird nicht selten eine Person im Singular genannt, obgleich davon nicht nur eine einzelne Person, sondern zugleich auch mehrere Personen oder Personengesamtheiten erfasst werden sollen (vgl. etwa Art. 104 Abs. 2 und 3 GG: „der Richter“; §§ 266, 267, 270 ff. BGB: „der Schuldner“ bzw. „der Gläubiger“; §§ 903 ff. BGB: „der Eigentümer“).

24 Das Wort „ableitet“ im Sinne des § 1 Abs. 4 AusglLeistG bezeichnet zudem nicht notwendig einen derivativen Erwerb, sondern bedeutet soviel wie „herleitet“ oder „zurückführt“ (Urteil vom 15. März 2007 a.a.O. jeweils Rn. 17). Vor diesem Hintergrund ist auch ein Verständnis sowohl vom Wortsinn gedeckt als auch rechtssystematisch naheliegend, wonach der Berechtigte seine Rechte (d.h. die Berechtigung nach § 1 Abs. 1 und 2 AusglLeistG, also den Anspruch auf die Ausgleichsleistung) auch von demjenigen „ableitet“, der durch das wiedergutzumachende Geschehen der entschädigungslosen Enteignung getroffen werden sollte. Dies kann nicht nur der unmittelbar Geschädigte (also der Eigentümer zum Enteignungszeitpunkt), sondern auch derjenige (Vor-)Eigentümer gewesen sein, auf den - auch wenn er zum Enteignungszeitpunkt bereits verstorben war - die Enteignung wegen seines erheblichen Wirkens für den Nationalsozialismus abzielte. Bei diesem besteht auch insofern eine Verknüpfung zum wiedergutzumachenden Enteignungsgeschehen, als der unmittelbar Geschädigte gerade auch wegen der Person und des Verhaltens des Rechtsvorgängers enteignet worden ist.

25 dd) Der zuvor genannten Auslegung steht nicht das Argument des Verwaltungsgerichts entgegen, dass die Einbeziehung des im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Enteignung bereits Verstorbenen, sofern die Enteignung auf ihn abziele, in vielen Fällen erhebliche „Anwendungsschwierigkeiten“ nach sich ziehe. Zwar erfasste - wie auch andere Bodenreformverordnungen - die in Rede stehende Verordnung über die Bodenreform in der Provinz Mark Brandenburg vom 6. September 1945 zum einen - unabhängig von der Größe - den Grundbesitz „der Kriegsverbrecher und Kriegsschuldigen“ sowie der „Naziführer und aktiven Verfechter der Nazipartei und ihrer Gliederungen“ sowie der „führenden Personen des Hitlerstaates“ (Art. II Ziff. 2 der Verordnung) und zum anderen den gesamten „feudal-junkerlichen Boden“ und „Großgrundbesitz über 100 ha“ (Art. 2 Ziff. 3 der Verordnung), so dass sich - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt - zumindest bei der zuletzt genannten Gruppe die Notwendigkeit ergeben wird festzustellen, ob die damalige Enteignung (allein) wegen der Größe der landwirtschaftlichen Flächen oder (auch) wegen der Verstrickung des bereits verstorbenen Voreigentümers in die Machenschaften des nationalsozialistischen Regimes durchgeführt worden ist. Diese Feststellung mag heute nicht mehr leicht zu treffen sein.

26 Der daraus gezogene Schluss mangelnder Praktikabilität bei der Rechtsanwendung kann aber - worauf der Beklagte zu Recht hinweist - das im Wege der Auslegung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG gewonnene Ergebnis nicht in Frage stellen. „Anwendungsschwierigkeiten“ oder Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsermittlung sind einer Rechtsmaterie, die sich mit Sachverhalten auseinanderzusetzen hat, die Jahrzehnte zurückliegen, nicht fremd. Ein gesondertes Kriterium für die Gesetzesauslegung sind sie nicht.

27 c) Der Maßstab, dass auch Personen in die Prüfung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG einzubeziehen sind, die im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Enteignung bereits verstorben waren, sofern die Enteignung auf sie abzielte, ist - was das Verwaltungsgericht verkannt hat - auch im vorliegenden Fall zugrunde zu legen, obgleich das Rittergut des A. eine Grundstücksfläche von 775 ha aufwies.

28 Es trifft entgegen der Rechtsansicht der Klägerin nicht zu, dass sich die vom Sinn und Zweck des § 1 Abs. 4 AusglLeistG gebotene Auslegung, dass derjenige in die Prüfung dieser Vorschrift einzubeziehen ist, auf den die Enteignung abzielte, von vornherein nur auf diejenigen erstreckt, die von Bodenreformenteignungen unterhalb der 100 ha-Grenze betroffen worden sind. Zwar waren die Sachverhalte in den Entscheidungen, in welchen das Bundesverwaltungsgericht diese Rechtsprechung begründet hat (Urteile vom 24. Februar 2005 - BVerwG 3 C 16.04 - Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 4 und vom 23. Februar 2006 - BVerwG 3 C 22.05 - Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 6), so gelagert, dass es jeweils um diese Fallgestaltung ging. Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht in den genannten Urteilen im Hinblick auf den abstrakten Prüfungsmaßstab nicht zwischen Bodenreformenteignungen unterhalb der 100 ha-Grenze und Enteignungen oberhalb dieser Grenze unterschieden. Daran ist, weil sich für eine solche abstrakte Differenzierung im Hinblick auf die Auslegung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG keine tragfähigen Gründe ergeben, festzuhalten. Hinsichtlich des rechtlichen Maßstabes greifen vielmehr die Gründe dafür, dass es bei der Prüfung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG auch auf denjenigen ankommt, auf den die Enteignung abzielte, bei Bodenreformenteignungen oberhalb der 100 ha-Grenze in gleicher Weise wie bei Enteignungen unterhalb dieser Grenze. Ebenso wenig wie es geboten ist, nach diesen Kriterien zu differenzieren, wenn es der durch die Enteignung unmittelbar Geschädigte selbst war, der erheblichen Vorschub geleistet hat, ist es geboten, danach zu unterscheiden, wenn auf denjenigen abzustellen ist, auf den die entschädigungslose Enteignung abzielte. Es widerspräche dem Regelungszweck, einen „Hauptverantwortlichen“, dessen Verstrickung im nationalsozialistischen System den Anlass für die Enteignung gab, nur deshalb besserzustellen, weil zugleich auch die Enteignungsvoraussetzungen der Bodenreformverordnung erfüllt waren, die sich auf sog. Junkerland (Grundbesitz über 100 ha) beziehen.

29 Von der Frage, gegen wen die Enteignung gerichtet gewesen und wer dadurch (unmittelbar) geschädigt worden ist, ist mithin die Frage zu unterscheiden, auf wen die Enteignung abzielte. Dies ist derjenige, in dessen Person oder in dessen Verhalten der Enteignende den Grund für die entschädigungslose Enteignung auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage gesehen hat (Urteile vom 24. Februar 2005 a.a.O. Rn. 12 und vom 23. Februar 2006 a.a.O. Rn. 15). Soweit - wie hier - Grundbesitz oberhalb der 100 ha-Grenze betroffen ist, genügt es nach der dargelegten Zwecksetzung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG für ein Abzielen im vorgenannten Sinne, wenn der Enteignende die Enteignung auch wegen der Person des Rechtsvorgängers oder deren Verhalten (in der Zeit des Nationalsozialismus) durchgeführt hat. Das Abzielen ist also nicht streng final zu verstehen; vielmehr reicht es im Sinne einer Mitverursachung aus, wenn nicht nur der Grundbesitz über 100 ha einen Grund für die Enteignung abgegeben hat, sondern zugleich auch die Person oder das Verhalten des zum Enteignungszeitpunkt bereits verstorbenen Rechtsvorgängers.

30 3. Das Verwaltungsgericht hat - was auf der Grundlage seiner Rechtsansicht konsequent war - weder abschließend geprüft, ob die besatzungshoheitliche Enteignung auf A. im vorgenannten Sinne abzielte, noch hat es Tatsachen festgestellt und gewürdigt, welche die - im Falle eines Abzielens der Enteignung auf A. - sich stellende Frage beantworten könnten, ob dieser im Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen und/oder dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet hat. Die entsprechenden Tatsachenfeststellungen und -würdigungen, die dem Revisionsgericht verwehrt sind, sind vom Verwaltungsgericht nachzuholen. Die Sache ist deshalb zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

31 4. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.