Verfahrensinformation

Mit zwei Klagen verlangen die Länder Bayern und Berlin vom Bund die Erstattung von verauslagten Haftkosten in Staatsschutz-Strafsachen. Die Forderungen der Länder sind nach Grund und Höhe unstreitig. Der Bund wendet aber ein, er habe jeweils mit Gegenforderungen aufgerechnet, so dass die Klagansprüche erloschen seien. Den Gegenforderungen liegen Schadensersatzzahlungen an Einzelpersonen zugrunde, zu denen der Bund durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt worden war. Grund für die Verurteilungen war in mehreren Fällen überlange Verfahrensdauer vor deutschen Gerichten, in anderen Fällen Verletzungen des Rechts auf Freiheit durch eine gerichtlich nicht genügend überprüfte vorläufige Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt oder des Rechts auf familiäres Zusammenleben durch ein unbefristetes Aufenthaltsverbot. Mit seiner Aufrechnung verlangt der Bund von den klagenden Ländern Erstattung dieser Entschädigungszahlungen. Er trägt vor, für die festgestellten Rechtsverletzungen seien die Länder verantwortlich gewesen. Die Länder erwidern, für das Erstattungsverlangen des Bundes fehle es an einer Rechtsgrundlage. Das Bundesverwaltungsgericht wird zu klären haben, ob für die Gegenforderungen des Bundes eine Anspruchsgrundlage unmittelbar aus dem Grundgesetz herzuleiten ist oder ob das durch die sog. Föderalismusreform 2006 geschaffene Lastentragungsgesetz auch auf bereits zuvor begründete Altfälle anwendbar ist.


Pressemitteilung Nr. 25/2007 vom 26.04.2007

Lastentragungspflicht der Länder auch für Altfälle

Hat der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg die Bundesrepublik Deutschland wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Zahlung einer Entschädigung an den Verletzten verurteilt, so müssen die Länder nach der im Zuge der Föderalismusreform 2006 getroffenen Regelung die Entschädigung letztlich bezahlen, wenn die Verletzung durch Gerichte des Landes erfolgte. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass dies auch für Altfälle gilt.


Der Bund hatte in drei Fällen Entschädigungen an die Verletzten wegen überlanger Dauer von Gerichtsverfahren gezahlt, in einem weiteren Fall, weil ein deutsches Gericht die Rechtmäßigkeit einer vorläufigen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aus formalen Gründen nicht überprüft hat. In einer fünften Sache war Deutschland verurteilt worden, weil ein Gericht eine - an sich begründete - Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers nicht befristet hatte, in einer sechsten, weil einem Untersuchungshäftling nur unzureichende Akteneinsicht gewährt worden war. Im siebten Fall schließlich hatte ein deutsches Gericht in einem Zivilprozess nach Auffassung des Menschenrechtsgerichtshofs die Beweislastverteilung zwischen den Streitparteien falsch beurteilt und damit die Rechtsposition der Klägerin menschenrechtswidrig verkürzt.


In vier dieser Fälle verlangte der Bund vom Freistaat Bayern und in den anderen drei Fällen vom Land Berlin Erstattung, weil die jeweilige Verletzung der Menschenrechtskonvention von Gerichten dieses Landes verursacht worden sei. Die Länder lehnten dies ab, weil es an einer rechtlichen Grundlage fehle. Zwar sei eine solche Rechtsgrundlage mit dem so genannten Lastentragungsgesetz im Zuge der Föderalismusreform im Jahre 2006 geschaffen worden. Das neue Gesetz sei jedoch auf Altfälle wie die vorliegenden nicht anwendbar.


Dem ist das Bundesverwaltungsgericht nicht gefolgt. Zur Begründung verweist es darauf, dass Bund und Länder mit der Föderalismusreform den zuvor zwischen ihnen bestehenden Streit abschließend beilegen wollten; das umfasse notwendig auch die Altfälle, weshalb die Länder auch insofern grundsätzlich zur Erstattung verpflichtet seien. Das setzt nach dem Lastentragungsgesetz allerdings voraus, dass die Entschädigung wegen einer Verletzung gezahlt wurde, für die ein Gericht des jeweiligen Landes verantwortlich ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat klargestellt, dass es insofern allein auf die Feststellungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ankommt; das Land kann nicht einwenden, der Gerichtshof habe falsch entschieden. Liegt die Rechtsverletzung in einem Urteil eines Gerichts des Landes, so muss der Bund gleichwohl die Hälfte der Entschädigung tragen, wenn das Urteil von einem Gericht des Bundes - auch etwa dem Bundesverfassungsgericht - bestätigt worden war; das setzt aber eine Vollprüfung des Urteils voraus. Liegt die Rechtsverletzung dagegen in der Verfahrensweise, nämlich in der überlangen Dauer eines Gerichtsverfahrens, so müssen Bund und Länder die Entschädigung nach dem Lastentragungsgesetz im Verhältnis der Anteile tragen, in welchem Bundes- und Landesgerichte zu der überlangen Verfahrensdauer beigetragen hatten. Diese Aufteilungsregel ist nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts rein schematisch zu verstehen. Weil die Voraussetzungen für die Erstattung in allen sieben Fällen vorlagen, hat das Bundesverwaltungsgericht dem Bund jeweils Recht gegeben.


BVerwG 3 A 5.05 - Urteil vom 26.04.2007

BVerwG 3 A 7.05 - Urteil vom 26.04.2007


Urteil vom 26.04.2007 -
BVerwG 3 A 5.05ECLI:DE:BVerwG:2007:260407U3A5.05.0

Leitsätze:

Das Lastentragungsgesetz wirkt zeitlich unbegrenzt zurück.

Bei Verletzungen völkerrechtlicher Verpflichtungen durch Gerichte ist § 4 LastG auch dann anzuwenden, wenn die Entschädigung an den Verletzten nicht aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, sondern aufgrund eines Vergleichs gezahlt wurde, durch den ein solches Urteil abgewendet werden sollte.

Worin die lastenbegründende Pflichtverletzung zu sehen ist, richtet sich allein nach dem in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs festgestellten oder, wenn eine solche durch Vergleich abgewendet wurde, nach dem diesem Vergleich zugrundegelegten Sachverhalt.

Ein Bundesgericht hat die Entscheidung des Gerichts eines Landes nur dann im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 LastG „bestätigt“, wenn es die Entscheidung in einem Rechtsbehelfsverfahren sachlich geprüft und gebilligt, nicht dagegen, wenn es das Rechtsmittel als unzulässig verworfen oder nicht zugelassen oder einen Rechtsbehelf nicht zur Entscheidung genommen hat.

Lasten aus Verurteilungen Deutschlands wegen überlanger Verfahrensdauer bei Landes- wie bei Bundesgerichten sind grundsätzlich schematisch nach Zeitanteilen aufzuteilen.

  • Rechtsquellen
    GG Art. 104a Abs. 6
    LastG §§ 1, 4, 5
    EMRK Art. 41

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 26.04.2007 - 3 A 5.05 - [ECLI:DE:BVerwG:2007:260407U3A5.05.0]

Urteil

BVerwG 3 A 5.05

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 26. April 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht van Schewick, Dr. Dette,
Liebler und Prof. Dr. Rennert
für Recht erkannt:

  1. Die Klage wird abgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Gründe

I

1 Der Freistaat Bayern macht einen Anspruch auf Erstattung restlicher Kosten geltend, die durch die Vollstreckung von Strafurteilen durch den Generalbundesanwalt in Justizvollzugsanstalten des Landes im Jahr 2004 entstanden sind.

2 Der Kläger beantragt,
die Beklagte zur Zahlung von 27 225,84 € nebst jährlichen Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu verurteilen.

3 Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

4 Sie zieht ihre Erstattungspflicht als solche nicht in Zweifel, wendet aber ein, die Klageforderung sei erloschen. Ihr hätten Gegenforderungen in gleicher Höhe zugestanden, mit denen sie am 3. Dezember 2004 die Aufrechnung erklärt habe. In dieser Gesamthöhe habe sie in vier Fällen auf der Grundlage von Art. 41 EMRK Entschädigungen an Verletzte gezahlt, die Individualbeschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhoben hätten. Da die gerügten Menschenrechtsverletzungen von Organen des Klägers verursacht worden seien, könne sie vom Kläger Erstattung verlangen.

5 Den zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen liegt Folgendes zugrunde:

6 1. Fall M.

7 Dem Beschwerdeführer M. wurde von seinem Arbeitgeber am 17. Februar 1988 ordentlich gekündigt. Die Kündigungsschutzklage wies das Arbeitsgericht München mit Urteil vom 27. Juli 1988 ab. Auf die Berufung des M. hob das Landesarbeitsgericht München dieses Urteil mit Urteil vom 18. Dezember 1989 auf und verwies die Sache an das Arbeitsgericht zurück. Das Berufungsurteil wurde M. erst am 30. Dezember 1990 zugestellt. Mit Urteil vom 16. August 1991 hob das Bundesarbeitsgericht das Berufungsurteil auf und verwies die Sache an das Landesarbeitsgericht zurück. Im zweiten Rechtsgang führte das Landesarbeitsgericht mehrere Termine zur mündlichen Verhandlung durch, den letzten am 9. Juli 1993. Mit Urteil vom 7. Juni 1996 erklärte es die Kündigung für unwirksam, erklärte das Arbeitsverhältnis zum 30. Juni 1988 für beendet und verurteilte den Arbeitgeber zur Zahlung einer Abfindung von 90 000 DM. Nach Zurückweisung der gegen die Nichtzulassung der Revision gerichteten Beschwerde erhob M. gegen dieses Urteil Nichtigkeitsklage, weil das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt worden sei. Mit Zwischenurteil vom 25. September 1998 hob das Landesarbeitsgericht sein Urteil vom 7. Juni 1996 insgesamt auf. Auf die Revision des M. wurde dieses Zwischenurteil vom Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 2. Dezember 1999 dahin geändert, dass das Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 7. Juni 1996 nur zum Teil aufgehoben werde. Mit Urteil vom 13. Dezember 2000 entschied das Landesarbeitsgericht daraufhin, dass die Kündigung unwirksam sei und dass das Arbeitsverhältnis zum 30. Juni 1988 gegen Zahlung einer Abfindung von 100 000 DM aufgelöst werde. Während des Arbeitsrechtsstreits erhobene Verfassungsbeschwerden waren vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen worden.

8 Am 30. März 1998 erhob M. Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Nr. 42505/98). Mit Urteil vom 18. Oktober 2001 stellte der Gerichtshof fest, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden sei. Das arbeitsgerichtliche Verfahren habe vom 24. Februar 1988 bis zum 13. Dezember 2000 ungefähr 12 Jahre und 10 Monate gedauert. Das sei ungeachtet der gewissen Kompliziertheit des Falles zu lang, zumal bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten besondere Eile geboten sei. Vom Beschwerdeführer selbst verursachte Verfahrensverzögerungen seien angesichts dieser Gesamtdauer nicht entscheidend. Die wesentlichsten Verzögerungen seien durch das Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht München bedingt, das zweimal, nämlich zwischen der mündlichen Verkündung des Urteils vom 18. Dezember 1998 und seiner Absetzung am 30. Dezember 1990 und erneut zwischen dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 9. Juli 1993 und der Verkündung des Urteils vom 7. Juni 1996 stagniert habe. Der Gerichtshof billigte M. 15 000 DM als Ersatz seines Nichtvermögensschadens sowie 5 000 DM für Kosten und Auslagen, zusammen also 20 000 DM (= 10 225,84 €) zu.

9 2. Fall T.

10 Dem Beschwerdeführer T. wurde von seinem Arbeitgeber am 7. Oktober 1994 fristlos und am 27. Oktober 1994 vorsorglich ordentlich gekündigt. Die Kündigungsschutzklage wies das Arbeitsgericht Augsburg mit Urteil vom 30. Oktober 1995 ab. Mit Urteil vom 2. August 1996 wies das Landesarbeitsgericht München die Berufung des T. zurück. Das vollständige Urteil wurde dem T. erst am 18. Dezember 1997 zugestellt. Die anschließende Nichtzulassungsbeschwerde wies das Bundesarbeitsgericht am 1. Juli 1998 zurück. Die Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen.

11 Am 24. Januar 2000 erhob T. Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, weil das Landesarbeitsgericht durch die überlange Zeit zwischen Verkündung und Zustellung seines Urteils Art. 6 EMRK verletzt habe (Nr. 56952/00). Mit Einverständnis des Klägers schloss die Beklagte mit T. einen außergerichtlichen Vergleich, in dem sie sich zur Zahlung von 4 000 € verpflichtete, womit sämtliche Ansprüche des T. im Zusammenhang mit seiner Individualbeschwerde abgegolten sein sollten. Daraufhin strich der Gerichtshof das Verfahren aus dem Register.

12 3. Fall Y.

13 Der türkische Staatsangehörige Y. wurde 1976 in Deutschland geboren, wuchs hier auf und lebte Ende der 90er Jahre zusammen mit seinen Eltern und Schwestern sowie seiner deutschen Lebensgefährtin und dem gemeinsamen, im Februar 1999 geborenen Kind in M. Wegen wiederholter Straftaten wurde er mit Verfügung des Landratsamts Ostallgäu vom 4. September 1998 aus dem Bundesgebiet ausgewiesen; zugleich wurde ein Aufenthaltsverbot von sieben Jahren verhängt. Die Regierung von Schwaben wies den Widerspruch des Y. mit Widerspruchsbescheid vom 12. November 1998 zurück und verhängte ein unbefristetes Aufenthaltsverbot, das gegebenenfalls auf Antrag nachträglich befristet werden könne. Die Klage hiergegen wies das Verwaltungsgericht Augsburg mit Urteil vom 20. April 1999 zurück, der Bayerische Verwaltungsgerichtshof lehnte die Zulassung der Berufung mit Beschluss vom 7. September 1999 ab. Das Bundesverfassungsgericht nahm eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Am 7. März 2000 verließ Y. das Bundesgebiet und begab sich in die Türkei. Einen Antrag, ihm das kurzfristige Betreten des Bundesgebiets für einen Besuch seines Kindes zu erlauben, lehnte das Landratsamt Ostallgäu am 15. Juni 2000 ab.

14 Am 11. Oktober 1999 erhob Y. Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Nr. 52853/99). Dieser entschied mit Urteil vom 17. April 2003, dass das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung des Familienlebens, das in Art. 8 Abs. 1 EMRK verankert ist, verletzt worden sei. Zwar sei die Ausweisung in Bezug auf die von den deutschen Behörden verfolgten Ziele nicht unverhältnismäßig gewesen. Die Tatsache jedoch, dass sie ohne Befristung verfügt worden sei, stelle angesichts der Familiensituation des Y. und angesichts des Umstandes, dass er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besessen habe, einen unverhältnismäßigen Eingriff dar. Der Gerichtshof billigte Y. einen Betrag von 3 000 € zum Ausgleich seines immateriellen Schadens zu.

15 4. Fall H.

16 H. ist Vater einer 1992 nichtehelich geborenen Tochter. Im August 1994 trennte er sich von der Mutter des Kindes. Am 19. Juni 1995 untersagte das Landgericht Ansbach H. jeglichen Umgang mit seiner Tochter. Das wurde vom Amtsgericht Weißenburg am 9. Januar 1996 wiederholt. Das Verbot wurde von H. jedoch nicht akzeptiert. In diesem Zusammenhang wurde er am 30. März 1995 zum ersten Male vorläufig in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht, um ein Gutachten zur Feststellung der Voraussetzungen einer endgültigen Unterbringung vorzubereiten. Mit Gutachten vom 28. April 1995 wurde eine paranoide Psychose mit Fremdgefährdung diagnostiziert. Nach seiner Entlassung holte H. weitere Gutachten ein, die die Richtigkeit dieser Diagnose bezweifelten. Nachdem die Mutter seines Kindes am 30. Oktober 1996 die Polizei herbeigerufen hatte, weil H. sie bedrohe, ordnete das Vormundschaftsgericht Ansbach erneut dessen vorläufige Unterbringung für höchstens sechs Wochen an. Am 18. November 1996 entwich H. aus dem Krankenhaus. Seine am 11. November 1996 eingelegte Beschwerde wurde vom Landgericht Ansbach mit Beschluss vom 13. Dezember 1996 verworfen, weil H. nicht mehr beschwert sei. Das Bayerische Oberste Landesgericht bestätigte dies mit Beschluss vom 4. Februar 1997. Das Bundesverfassungsgericht nahm eine hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde mit Beschluss vom 19. März 1998 nicht zur Entscheidung an. In der Zeit vom 22. Dezember 1997 bis zum 10. Juli 1998 wurde H. noch ein drittes Mal vorläufig untergebracht. Seine nachfolgende Klage auf Schadensersatz wegen der zu seinen Lasten angeordneten psychiatrischen Untersuchungen wurde in drei Instanzen abgewiesen, eine Verfassungsbeschwerde hiergegen nicht zur Entscheidung angenommen.

17 H. erhob am 23. September 1998 Individualrechtsbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Nr. 44672/98). Dieser stellte mit Urteil vom 12. Juni 2003 fest, dass Art. 5 Abs. 4 EMRK verletzt worden ist, weil die zweite vorläufige Unterbringung des H. nicht auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft worden sei. Zwar sei die Unterbringung bereits durch Beschluss eines Gerichts angeordnet worden. Sehe die nationale Rechtsordnung jedoch Rechtsmittel vor, so müssten auch diese zu einer sachlichen Prüfung der Freiheitsentziehung führen. Dieses Gebot verliere seinen Sinn, wenn die gerichtliche Überprüfung einer vorläufigen Freiheitsentziehung, die ihrer Natur nach zeitlich begrenzt sei, nur so lange möglich wäre, wie die Wirkungen der Freiheitsentziehung andauerten. Hiergegen hätten die deutschen Rechtsmittelgerichte verstoßen, indem sie die Beschwerden des H. infolge des Ablaufs der vorläufigen Maßnahme als erledigt angesehen hätten. Der Gerichtshof billigte H. einen Betrag von 3 500 € zum Ausgleich seines immateriellen Schadens sowie weitere 6 500 € für Kosten und Auslagen zu.

18 Da sich der Kläger weigerte, bezahlte die Beklagte die genannten Beträge an die jeweiligen Beschwerdeführer. Sie ist der Auffassung, der Kläger sei ihr zur Erstattung verpflichtet. Hierzu trägt sie vor: Die Erstattungspflicht ergebe sich aus Art. 104a Abs. 6 Satz 1 GG und dem in Ausführung hierzu ergangenen Lastentragungsgesetz. Diese Regelungen seien zwar erst im Zuge der Föderalismusreform 2006 in Kraft getreten, erfassten aber nach Wortlaut, Sinn und Zweck auch die vorliegenden Altforderungen. Zuvor habe sich die Erstattungspflicht des Klägers aus den Grundsätzen über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung ergeben. Die Voraussetzungen eines bereicherungsrechtlichen Erstattungsanspruchs seien gegeben. Sie - die Beklagte - habe an die verletzten Dritten Zahlungen geleistet, die eigentlich dem Kläger oblegen hätten, und damit auf fremde Schuld gezahlt, ohne dass hierzu ein Rechtsgrund bestünde. Es treffe nicht zu, dass sie mit der Zahlung eine eigene Pflicht erfüllt habe. Völkerrechtlich sei zwar die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet; das meine aber nicht den Bund, sondern den Bund und Länder umgreifenden Gesamtstaat. Das Völkerrecht verhalte sich nicht dazu, welche Ebene innerstaatlich verpflichtet sei. Das sei hier aber der Kläger. Er sei gemäß Art. 30, 70, 83, 92 GG im vorliegenden Falle zuständig. Nur er könne daher die Konventionsverletzung beseitigen (Art. 46 EMRK); nur er sei deshalb auch zur Leistung der Entschädigung verpflichtet (Art. 41 EMRK). Das ergebe sich aus Art. 104a Abs. 1 GG, wonach die Länder die aus ihrer Aufgabenwahrnehmung entstehenden Kosten zu tragen hätten. Hiervon habe sie - die Beklagte - den Kläger freigestellt. Sie sei jedoch weder verpflichtet noch auch nur berechtigt, diese Kosten aus dem Bundeshaushalt zu bestreiten. Die Urteile des EGMR könnten einen Rechtsgrund schon deshalb nicht abgeben, weil sie lediglich das völkerrechtliche Außenverhältnis beträfen, sich aber zur innerstaatlichen Kompetenzverteilung nicht verhielten. Auch Art. 32 Abs. 1 GG durchbreche die innerstaatliche Kompetenzverteilung nicht. Außer auf Bereicherungsgrundsätze lasse sich der Erstattungsanspruch noch auf die Grundsätze der Geschäftsführung ohne Auftrag und hilfsweise auch auf eine analoge Anwendung von Art. 104a Abs. 5 GG stützen, jedenfalls wenn - wie es geboten erscheine - bei Kostenlasten aus der Verletzung völkerrechtlicher Pflichten auf die Beschränkung der Verwaltungshaftung auf eine Verschuldenshaftung verzichtet werde.

19 Der Kläger entgegnet, das Bundesverwaltungsgericht könne über die zur Aufrechnung gestellte Forderung der Beklagten nicht entscheiden, da insoweit eine verfassungsrechtliche Streitigkeit vorliege. Die Forderung bestehe im Übrigen nicht. Zu Unrecht nehme die Beklagte an, er - der Kläger - sei im Außenverhältnis zum Verletzten unmittelbar selbst verpflichtet. Vertragschließende Partei der Menschenrechtskonvention sei allein die Beklagte. Verpflichtungen aus den Urteilen des EGMR träfen daher ebenfalls nur die Beklagte. Das gelte für die Pflicht zur Befolgung der Urteile wie zur Leistung von Entschädigung. Hierfür sei die innerstaatliche Kompetenzverteilung gleichgültig. Mit ihren Zahlungen habe die Beklagte daher eine eigene Verpflichtung erfüllt. Das stehe einem Erstattungsanspruch nach Bereicherungsrecht oder nach den Grundsätzen der auftraglosen Geschäftsführung entgegen. Die Beklagte könne die Länder innerstaatlich nur mit den Mitteln in Anspruch nehmen, die das Grundgesetz vorsehe. Für einen Rückgriff der Beklagten gegenüber dem jeweiligen Land für geleistete Entschädigungen nach Art. 41 EMRK fehle es aber an einer Rechtsgrundlage. Die erst am 1. September 2006 in Kraft getretene Neufassung des Art. 104a GG und das erst am 12. September 2006 in Kraft getretene Lastentragungsgesetz seien auf Altfälle wie den vorliegenden nicht anwendbar. Das zuvor geltende Recht enthalte eine vergleichbare Bestimmung nicht. Art. 104a Abs. 1 und 5 GG seien auf das innerstaatliche Verhältnis von Bund und Ländern zugeschnitten und könnten daher auf Finanzbeziehungen, die durch inter- oder supranationale Verpflichtungen bestimmt seien, weder unmittelbar noch analog angewendet werden. Zudem obliege die Wahrnehmung der völkerrechtlichen Pflichten der Bundesrepublik Deutschland - hier nach Art. 32 Abs. 1 GG - allein der Beklagten, die mithin auch innerstaatlich eine eigene Aufgabe erfüllt habe. Art. 104a Abs. 1 GG liege eine klare Trennung der Finanzverantwortlichkeiten nach dem Konnexitätsprinzip zugrunde, das nicht durch Anleihen beim Verursacherprinzip überlagert und verwischt werden dürfe. Art. 104a Abs. 5 GG folge demgegenüber zwar dem Verursacherprinzip, setze aber Vorsatz voraus, woran es hier fehle, gelte ferner nur für die Zuständigkeiten der Exekutive, nicht der Judikative, und auch dann nur für Zweckausgaben, nicht für Verwaltungsausgaben wie die vorliegend strittigen.

II

20 Die Klage betrifft keine verfassungsrechtliche Streitigkeit und ist daher im Verwaltungsrechtsweg zulässig (§ 40 Abs. 1 Satz 1, § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO; vgl. Urteil vom 24. Januar 2007 - BVerwG 3 A 2.05 - <Rn. 14 ff.> m.w.N.). Das Bundesverwaltungsgericht ist auch sachlich zuständig; § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist - selbst bei der gebotenen einschränkenden Auslegung - anwendbar (ebd. <Rn. 18> m.w.N.).

21 Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Klageforderung bestand zwar; sie ist jedoch im Wege der Aufrechnung erloschen.

22 1. Das Bundesverwaltungsgericht kann über die zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen entscheiden. Auch hierbei handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Forderung nichtverfassungsrechtlicher Art (§ 40 Abs. 1 Satz 1, § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die Beklagte stützt ihre Gegenforderungen auf das Gesetz zur Lastentragung im Bund-Länder-Verhältnis bei Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen (Lastentragungsgesetz - LastG), das als Art. 15 des Föderalismusreform-Begleitgesetzes vom 5. September 2006 (BGBl I S. 2098) verkündet worden ist. Dies ist in formeller Hinsicht ein im Rang unter dem Verfassungsrecht stehendes Bundesgesetz und enthält auch in materieller Hinsicht kein Verfassungsrecht. Wie sogleich zu zeigen sein wird, findet das Lastentragungsgesetz auf die zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen auch tatsächlich Anwendung. Damit bedarf keiner Entscheidung, ob die Gegenforderungen vor Erlass dieses Gesetzes verfassungsrechtlicher Art waren und welche prozessualen Konsequenzen hieraus zu ziehen gewesen wären.

23 2. Die Gegenforderungen der Beklagten finden in §§ 1, 4 und 5 LastG ihre rechtliche Grundlage.

24 a) Das Lastentragungsgesetz ist auf Altfälle wie die vorliegenden anwendbar.

25 Welchen zeitlichen Geltungsbereich sich ein Gesetz beilegt, ist dem Gesetz selbst zu entnehmen. Eine ausdrückliche Bestimmung findet sich freilich weder im Lastentragungsgesetz selbst noch im Föderalismusreform-Begleitgesetz im Übrigen. Allerdings meint der Kläger, aus der Wahl des Präsens in § 5 Abs. 1 LastG - „Soweit der Bund die Leistungspflichten im Außenverhältnis zu der zwischenstaatlichen Einrichtung erfüllt oder die finanziellen Lasten aus anderen Gründen unmittelbar beim Bund eintreten ...“ - lasse sich schließen, dass das Gesetz auf Altfälle keine Anwendung finden solle; andernfalls hätte es heißen müssen „erfüllt hat“ und „eingetreten sind“. Dem kann nicht gefolgt werden. Die Wahl des Präsens entspricht dem Charakter der Vorschrift als einer allgemeinen Regel. Eine zusätzliche Aussage über den zeitlichen Geltungsbereich des gesamten Gesetzes kann dem nicht entnommen werden. Das stünde auch nicht zu erwarten. Aussagen über den zeitlichen Geltungsbereich eines Gesetzes finden sich üblicherweise als Übergangsbestimmungen am Ende eines Gesetzes. Solche Übergangsbestimmungen fehlen hier.

26 Allerdings beruht das Lastentragungsgesetz auf Art. 104a Abs. 6 Satz 4 GG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl I S. 2034). Es erfasst Altfälle mithin nur, wenn auch Art. 104a Abs. 6 GG Altfälle erfasst. Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes trifft indes für Art. 104a Abs. 6 GG ebenfalls keine Regelung über den zeitlichen Anwendungsbereich. Übergangsbestimmungen enthält es lediglich in den Art. 125a ff. und in Art. 143c GG n.F. Diese betreffen jedoch andere Verfassungsänderungen; hieraus lässt sich für den zeitlichen Geltungsbereich des Art. 104a Abs. 6 GG nichts gewinnen.

27 Die Neuregelung der Lastentragung im Bund-Länder-Verhältnis bei Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen nur auf Neufälle zu beziehen, bislang offene Altfälle von ihrer Geltung hingegen auszunehmen, widerspräche aber ihrem Sinn und Zweck. Die Regelung des X. Abschnitts des Grundgesetzes (Art. 104a ff. GG) muss aus zwingenden bundesstaatlichen Gründen als eine für Bund und Länder abschließende Regelung verstanden werden (BVerfG, Urteil vom 6. November 1984 - 2 BvL 19/83 u.a. - BVerfGE 67, 256 <286>; vgl. Urteil vom 28. März 2002 - 2 BvG 1, 2/01 - BVerfGE 105, 185 <193 f.>). Dementsprechend soll Art. 104a GG die Finanzierungslast für Verwaltungs- und für Zweckausgaben aus der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben umfassend regeln. Auf diesem Hintergrund ist zwischen Bund und Ländern Streit entstanden, ob und in welchem Sinne Art. 104a GG auch die Finanzierungslast aus der Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen erfasst. Dieser Streit wurde durch Einfügung des Art. 104a Abs. 6 GG und durch Erlass des Lastentragungsgesetzes beigelegt. Damit sollte Art. 104a GG seiner Funktion, die Verteilung der Finanzierungslasten aus der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben zwischen Bund und Ländern grundsätzlich abschließend zu regeln, wieder - oder deutlicher und besser als bislang - gerecht werden. Dem widerspräche es jedoch, durch Einschränkungen des zeitlichen Geltungsbereichs der Neuregelung Regelungslücken zu belassen oder gar neue zu schaffen.

28 Es kann auch nicht angenommen werden, dass dies in der Absicht des Gesetzgebers gelegen hätte. Das würde voraussetzen, dass der Gesetzgeber der Föderalismusreform und des Lastentragungsgesetzes seine eigene Regelung in Ansehen der Altfälle selbst für nicht sachgemäß erachtet oder sonst einen sachlichen Grund gesehen hätte, Altfälle von ihr auszunehmen. Dafür fehlt jeglicher Anhaltspunkt. Mit Recht weist die Beklagte darauf hin, dass jeder Gesetzgeber eine Neuregelung im Zweifel für eine sachgerechte Lösung des jeweiligen Problems ansehen und ihr eine möglichst umfassende Geltung auch in zeitlicher Hinsicht zuerkennen will, sofern nicht ausnahmsweise nachvollziehbare, d.h. willkürfreie Gründe für eine zeitliche Geltungseinschränkung bestehen.

29 Für seine gegenteilige Annahme verweist der Kläger auf die Einschätzung im Entwurf des Föderalismusreform-Begleitgesetzes, dass die Regelungen zur Lastentragung zwischen Bund und Ländern „keine unmittelbaren haushaltsmäßigen Auswirkungen“ hätten (BTDrucks 16/814 S. 25). Dieser Hinweis ist im vorliegenden Zusammenhang unergiebig. Eine „unmittelbare haushaltsmäßige Auswirkung“ konnte die Neuregelung nur entfalten, wenn sie Erstattungsansprüche begründet hätte, die zuvor nicht bestanden hatten. Gerade dies war aber zwischen Bund und Ländern umstritten, ohne dass der Gesetzgeber zu den gegensätzlichen Standpunkten zum alten Recht hätte Stellung nehmen wollen. In diesem Sinne weist die Begründung für den Entwurf des Föderalismusreform-Begleitgesetzes mehrfach darauf hin, dass Art. 104a Abs. 6 GG und das Lastentragungsgesetz die bislang zwischen Bund und Ländern streitige Frage der Lastentragung klären sollten (BTDrucks 16/814 S. 13, 21); und zur Begründung für den Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes heißt es, dass die Lastentragung nunmehr „ausdrücklich geregelt“ und dadurch eine „klarere Zuordnung der Finanzverantwortung“ erreicht werden solle (BTDrucks 16/813 S. 10). All dies spricht dafür, dass der Gesetzgeber den vorherigen Streit umfassend beilegen wollte. Dann verbietet sich aber die Annahme, er habe den Streit jedenfalls für Altfälle offen halten wollen.

30 b) Das Lastentragungsgesetz gilt nicht nur überhaupt für Altfälle; es gilt für sie auch rückwirkend. Der Erstattungsanspruch entsteht gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 LastG im Zeitpunkt der Erfüllung der Leistungspflicht durch den Bund. Das gilt auch dann, wenn dieser Zeitpunkt vor dem Inkrafttreten des Lastentragungsgesetzes liegt; das Entstehen des Erstattungsanspruchs ist in Altfällen nicht etwa bis zum Inkrafttreten des Lastentragungsgesetzes gehemmt. Insofern werden auch alle Rechtswirkungen, die an das Entstehen des Anspruchs geknüpft sind, „rückbewirkt“: So hat die Verjährung bereits zu laufen begonnen, so dass denkbar ist, dass Erstattungsansprüche für länger zurückliegende Leistungen des Bundes bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits verjährt waren. Auch die Erfüllungswirkung einer Aufrechnung trat zu dem Zeitpunkt ein, zu dem der Erstattungsanspruch des Bundes und der Gegenanspruch zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind (§ 389 BGB); auch insofern ist der Erstattungsanspruch mit der Leistung des Bundes und nicht erst mit dem Inkrafttreten des Art. 104a Abs. 6 GG oder des Lastentragungsgesetzes entstanden.

31 Damit setzt sich der Senat nicht in Gegensatz zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Oktober 2006 - 2 BvG 1/04, 2 BvG 2/04 - (NVwZ 2007, 190). Dort hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 GG in den Fällen der gemeinschaftsrechtlichen Anlastung eine unmittelbar anwendbare Haftungsgrundlage ist. Das Urteil beruht auf der mündlichen Verhandlung vom 4. Juli 2006 und dem zu diesem Zeitpunkt geltenden Recht; es konnte Art. 104a Abs. 6 GG n.F., der erst am 1. September 2006, und das Lastentragungsgesetz, das erst am 12. September 2006 in Kraft getreten ist, noch nicht berücksichtigen. Das Urteil enthält sich auch einer vorausblickenden Aussage zum - bereits absehbaren - neuen Recht. Es steht damit einer Auslegung, die dem neuen Recht rückwirkende Geltung zuerkennt, nicht entgegen. Aus den Grundsätzen der Rechtskraft oder aus der Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nach § 31 Abs. 1 BVerfGG ergibt sich nichts anderes. Beide Rechtsinstitute finden ihre Grenze bei späteren Änderungen des Verfassungs- und des verfassungsgeprägten Rechts, auch wenn diese sich rückwirkende Kraft beilegen (allg. Meinung; vgl. Rennert in: Umbach/Clemens <Hrsg.>, Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 1. Aufl. 1992, Rn. 91, 47 ff. zu § 31 BVerfGG m.w.N.).

32 3. Die Voraussetzungen der §§ 1, 4 und 5 LastG sind hier für alle vier Gegenforderungen der Beklagten erfüllt.

33 a) Die Bundesrepublik Deutschland war wegen der Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen im Bereich der Rechtsprechung zu finanzwirksamen Leistungen, nämlich zu Entschädigungen an die Verletzten auf der Grundlage von Art. 41 EMRK, verpflichtet (§ 1 Abs. 1 LastG). Der Bund hat die Entschädigungen geleistet; damit sind die finanziellen Lasten unmittelbar bei ihm eingetreten (§ 5 Abs. 1 Alt. 2 LastG). Darum kann er vom Kläger Erstattung verlangen, soweit die lastenbegründende Pflichtverletzung in dessen innerstaatlichem Zuständigkeits- und Aufgabenbereich erfolgt ist (§ 5 Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 LastG).

34 Bei Verletzungen völkerrechtlicher Verpflichtungen durch die Gerichte geht § 4 LastG davon aus, dass die Verpflichtung zur Entschädigung durch eine Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erfolgt. Die Vorschrift ist aber entsprechend anwendbar, wenn eine Verurteilung durch einen Vergleich abgewendet wird, der in dem Verfahren oder während des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geschlossen wird. Auch eine durch Vergleich begründete Pflicht zum Ersatz von Schäden und zum Ausgleich von Kosten beruht auf Art. 41 EMRK und stellt eine Verpflichtung zu finanzwirksamen Leistungen wegen der Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen im Sinne von Art. 104a Abs. 6 Satz 1 GG und § 1 Abs. 1 LastG dar. Wollte man sie aus dem Anwendungsbereich von § 4 LastG herausnehmen, so entstünde eine ersichtlich ungewollte Regelungslücke; zudem würde die Vergleichsbereitschaft des Bundes als Verfahrensvertreter geschwächt.

35 Worin die lastenbegründende Pflichtverletzung zu sehen ist, richtet sich bei einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allein nach dem in der Entscheidung festgestellten Sachverhalt; abweichende Feststellungen im Erstattungsverfahren verbieten sich (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 1 LastG; BTDrucks 16/814 S. 22). Auch wenn die vom Bund geleistete Zahlung auf einem Vergleich beruht, ist grundsätzlich allein der dem menschenrechtsgerichtlichen Verfahren zugrundeliegende Sachverhalt maßgebend. Zwar fehlt hier die Feststellung in einem Urteil des Gerichtshofs. Vielfach wird dem Vergleich aber ein Beschluss des Gerichtshofs über die Zulässigkeit einzelner Rügen vorangehen, der genügende Feststellungen enthält. Im Übrigen sind die den Vergleich tragenden übereinstimmenden Vorstellungen des Beschwerdeführers und des Bundes als des Verfahrensführers der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich.

36 b) Bei Mitverursachungsanteilen von Bundesgerichten richtet sich die Lastenverteilung nach § 4 LastG, der im Sinne von § 1 Abs. 2 LastG konkretisiert und gegebenenfalls insofern „etwas anderes bestimmt“.

37 aa) Bei den Fällen Y. und H. ist die Verurteilung durch den EGMR wegen einer Verletzung von Verpflichtungen durch die Gerichte des Klägers erfolgt (§ 4 Abs. 1 Satz 1 LastG). Deshalb haftet der Kläger in diesen beiden Fällen in vollem Umfang. Eine Teilung der Lasten zwischen Bund und Land gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 LastG scheidet aus. Nach dieser Vorschrift tragen der Bund und das betroffene Land die Lasten je zur Hälfte, wenn ein Gericht des Bundes die Entscheidung des Gerichts eines Landes bestätigt hat. Eine Bestätigung in diesem Sinne liegt nur vor bei einer sachlichen Überprüfung der Entscheidung des Landesgerichts etwa in einem Revisionsverfahren oder in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren, wenn die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen wurde. An einer sachlichen Prüfung fehlt es hingegen, wenn das Bundesgericht einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des Landesgerichts als unzulässig verwirft. Ebenso liegt es, wenn eine Revision nicht zugelassen oder eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird. Selbst wenn dies durch einen näher begründeten Beschluss des Bundesgerichts erfolgt, so geschieht dies doch in einem Zwischen- oder Vorprüfungsverfahren und dient allein der Prüfung, ob die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision oder für die Annahme der Verfassungsbeschwerde vorliegen, und nicht der sachlichen Überprüfung der Entscheidung des Landesgerichts. In den Fällen Y. und H. hat keine Vollprüfung der Sache durch ein Bundesgericht stattgefunden. Dass das Bundesverfassungsgericht jeweils Verfassungsbeschwerden gegen die letztinstanzlichen Entscheidungen der bayerischen Landesgerichte nicht zur Entscheidung angenommen hat, führt nach dem Vorstehenden nicht zur Lastenbeteiligung des Bundes.

38 bb) In den Fällen M. und T. wurde Deutschland wegen überlanger Verfahrensdauer in Sachen verurteilt, die sowohl bei Gerichten des Klägers als auch bei Gerichten des Bundes anhängig waren. Damit findet § 4 Abs. 2 LastG Anwendung. Hiernach werden bei Verurteilungen wegen überlanger Verfahrensdauer und Anhängigkeit sowohl bei Gerichten des Bundes als auch eines Landes die Lasten im Verhältnis der Anteile der beteiligten Gerichte an der Verfahrensdauer getragen. Die Vorschrift hat sich für eine schematische Aufteilung allein nach Zeitanteilen entschieden. Auch insofern soll das Erstattungsverfahren von der Last eigenständiger Feststellungen zu dem Menschenrechtsverstoß freigehalten werden. Damit ist für § 4 Abs. 2 LastG unerheblich, mit welchem Maß an Pflichtwidrigkeit das eine oder das andere Gericht durch seine Verfahrensweise zu einer insgesamt überlangen Verfahrensdauer beigetragen hat. Etwas anderes gilt nur, wenn sich aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte oder, wenn eine solche durch Vergleich abgewendet wurde, aus dem diesem zugrundegelegten Sachverhalt ergibt, dass die Pflichtverletzung nur einem oder einzelnen der Gerichte, bei denen die Sache anhängig war, angelastet wird; dann beschränkt sich die Anwendung von § 4 Abs. 2 LastG auf die Träger dieser Gerichte. Das folgt aus dem in § 1 Abs. 2 LastG niedergelegten allgemeinen Grundsatz, der die Pflicht zur Lastentragung grundsätzlich an die Feststellung einer Pflichtverletzung knüpft.

39 Im Fall M. hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Gesamtdauer des arbeitsgerichtlichen Verfahrens zwischen dem 24. Februar 1988 und dem 13. Dezember 2000 als zu lang erachtet. In diese Gesamtdauer fließen auch Zeiten bei Bundesgerichten ein. Gleichwohl kommt eine Lastenteilung nicht in Betracht. Der Gerichtshof hat "die wesentlichsten Verzögerungen" dem Landesarbeitsgericht angelastet. Die darin liegende Einschränkung erfolgte nicht etwa mit Blick auf einen wenn auch untergeordneten Verzögerungsbeitrag von Bundesgerichten; hierfür hat der Gerichtshof nichts festgestellt. Wie die vorangehenden Ausführungen des Urteils belegen, erfolgte die Einschränkung vielmehr mit Blick auf das Verteidigungsvorbringen der Bundesrepublik Deutschland, welche die Verfahrensverzögerung auf das eigene Verhalten des Beschwerdeführers zurückgeführt hatte.

40 Im Fall T. hat eine Verurteilung nicht stattgefunden; vielmehr hat sich die Beklagte im Einverständnis mit dem Kläger vergleichsweise zu einer Zahlung von 4 000 € an den Beschwerdeführer verpflichtet. Wie gezeigt, ist § 4 Abs. 1 LastG entsprechend anzuwenden, wenn eine absehbare Verurteilung wie hier durch Abschluss eines Vergleichs abgewendet wird. Eine anteilige Lastenverteilung nach § 4 Abs. 2 LastG kommt hier ebenfalls nicht in Betracht. T. hatte mit seiner Individualbeschwerde gerade die überlange Zeit zwischen Verkündung und Zustellung des Urteils des Landesarbeitsgerichts als Verletzung von Art. 6 EMRK gerügt. Auch die dem Vergleich vorangehende Korrespondenz mit T. und zwischen den Beteiligten stellt insofern allein auf diesen Umstand ab. Dann aber ist die Verletzung des Art. 6 EMRK allein den Gerichten des Klägers zuzurechnen. Die in der Individualbeschwerde weiter gerügten Rechtsverletzungen beträfen - sollten die Rügen denn begründet gewesen sein - ebenfalls allein den Zuständigkeitsbereich des Klägers (§ 4 Abs. 1 Satz 1 LastG).

41 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.