Urteil vom 30.06.2008 -
BVerwG 5 C 32.07ECLI:DE:BVerwG:2008:300608U5C32.07.0

Leitsatz:

Die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung ist nur innerhalb einer Frist von fünf Jahren nach Aushändigung der Einbürgerungsurkunde noch zeitnah und kann danach nicht mehr auf die Ermächtigung in § 48 VwVfG (hier: i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Niedersachsen) gestützt werden (Fortführung des Urteils vom 14. Februar 2008 - BVerwG 5 C 4.07 - StAZ 2008, 179).

Urteil

BVerwG 5 C 32.07

  • OVG Lüneburg - 27.09.2007 - AZ: OVG 11 LB 108/07 -
  • Niedersächsisches OVG - 27.09.2007 - AZ: OVG 11 LB 108/07

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
ohne mündliche Verhandlung am 30. Juni 2008
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Franke, Dr. Brunn und
Prof. Dr. Berlit sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 27. September 2007 geändert. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 21. Juni 2006 wird hinsichtlich der Aufhebung der Rücknahme der Einbürgerungen und der Aufforderung zur Rückgabe der Einbürgerungsurkunden zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens, soweit das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts geändert worden ist, und die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Die Kläger wenden sich im vorliegenden Verfahren gegen die Rücknahme ihrer Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.

2 Die Eltern der Kläger reisten im September 1989 in das Bundesgebiet ein. Sie stellten unter dem Alias-Nachnamen „R.“ Asylanträge und gaben an, als Staatenlose aus dem Libanon zu kommen. Im Oktober 1990 lehnte das Bundesamt die Asylbegehren der Eltern der Kläger ab. Im November 1990 nahmen die Eltern der Kläger ihre Asylanträge zurück und erhielten aufgrund eines Bleiberechtserlasses eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die ab 1991 als Aufenthaltsbefugnis fortgalt. Die zwischen 1989 und 1994 im Bundesgebiet geborenen Kläger erhielten - ebenso wie ihre später geborenen Geschwister - ebenfalls befristete Aufenthaltsbefugnisse. Bei den Anträgen auf Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis gaben die Eltern der Kläger für sich, die Kläger und deren Geschwister weiterhin jeweils den Alias-Namen „R.“ an und bezeichneten sich als ungeklärte Staatsangehörige aus dem Libanon. Etwa im Herbst 1998 informierte der Landkreis S. den Beklagten, dass er im Hinblick auf eine Familie namens „R.“, die angeblich aus dem Libanon stamme, tatsächlich aber aus den Orten Y. und Ü. bei S. aus der Türkei stammen solle, Ermittlungen durchführe. Dabei sei auch die Telefonnummer des Vaters der Kläger gefunden worden. Nachdem der Landkreis S. auf eine entsprechende Nachfrage im April 1999 mitgeteilt hatte, dass die Ermittlungen bislang negativ verlaufen seien, stellte der Beklagte den Eltern der Kläger auf entsprechende Anträge Reiseausweise gemäß dem Übereinkommen vom 28. September 1954 aus (sog. Staatenlosen-Ausweis).

3 Die Kläger wurden am 13. Juli 1999 auf der Grundlage des Gesetzes zur Verminderung von Staatenlosigkeit in den deutschen Staatsverband eingebürgert. Ihren Geschwistern erteilte der Beklagte jeweils befristete Aufenthaltserlaubnisse.

4 Im Oktober 2002 beantragte der Beklagte ein Personenfeststellungsverfahren für die Türkei und den Libanon. Anfang Mai 2004 kam der Beklagte in den Besitz eines Registerauszuges, der die Kläger und ihre Eltern als türkische Staatsangehörige mit dem Namen A. aus Y. bei S. auswies. Am 18. Mai 2004 erklärten die Eltern der Kläger, dass sie und ihre Kinder in Wirklichkeit anderer Identität als bislang angegeben und türkischer Staatsangehörigkeit seien, nie im Libanon gelebt hätten und nach schnellstmöglicher Beschaffung entsprechender türkischer Papiere zur Ausreise bereit seien. Mit Schreiben vom 26. Mai 2004 teilte der Beklagte dem Bevollmächtigten der Kläger mit, es werde gegenwärtig geprüft, ob u.a. die Einbürgerungen zurückzunehmen seien.

5 Mit dem angefochtenen Bescheid vom 20. Juli 2004 nahm der Beklagte die Einbürgerungen der Kläger wegen arglistiger Täuschung über ihre Identität und angebliche Staatenlosigkeit mit Wirkung auch für die Vergangenheit zurück und forderte diese auf, die Einbürgerungsurkunden zurückzugeben. Darüber hinaus wies er die Eltern der Kläger aus der Bundesrepublik aus, befristete die Aufenthaltserlaubnisse der Geschwister der Kläger nachträglich auf den Tag der Bekanntgabe des Bescheides und forderte die Kläger, ihre Eltern sowie die Geschwister zur Ausreise auf und drohte die Abschiebung in die Türkei an.

6 Mit Urteil vom 21. Juni 2006 hat das Verwaltungsgericht der nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobenen Klage - mit Ausnahme der Aufforderung an die Mutter der Kläger, den ihr erteilten Reiseausweis zurückzugeben - stattgegeben. Hinsichtlich der Rücknahme der Einbürgerung hat es seine Entscheidung darauf gestützt, dass es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierfür keine Rechtsgrundlage gebe. Die Kläger hätten nicht bewusst über ihre Identität getäuscht, da sie im Zeitpunkt der Aushändigung der Einbürgerungsurkunden erst zwischen 5 und 9 Jahre alt gewesen seien. Da die Rücknahme der Einbürgerungen rechtswidrig sei, seien die Kläger auch nicht verpflichtet, die Einbürgerungsurkunden zurückzugeben.

7 Das Oberverwaltungsgericht hat auf die Berufung des Beklagten die Klage insgesamt abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Aufhebung der Einbürgerungen der Kläger ex tunc sei nach § 1 NVwVfG i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG, dessen Anwendung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Mai 2006 (- 2 BvR 669/04 - BVerfGE 116, 24) nicht entgegenstehe, ermessensfehlerfrei erfolgt. Der Beklagte habe berücksichtigt, dass die Kläger an den Täuschungshandlungen, die zu ihrer Einbürgerung geführt hätten, wegen ihres Alters im Zeitpunkt der Einbürgerung im Jahre 1999 selbst nicht beteiligt gewesen seien. Die zwischen der Einbürgerung und ihrer Rücknahme verstrichene Zeit von rund fünf Jahren führe nicht zur Einschränkung des Ermessens. Die Kläger seien im Zeitpunkt der Rücknahme der Einbürgerung ca. 16, 13 und 10 Jahre alt gewesen; sie hätten sich noch nicht in einem Alter befunden, in dem Kinder üblicherweise ein eigenes schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand ihrer Staatsangehörigkeit entwickelten. Sie seien noch minderjährig gewesen, hätten der Weisungsbefugnis ihrer Eltern unterlegen und hätten mit ihnen - wenn die Eltern das bestimmt hätten - auch in die Türkei ausreisen müssen. Mangels Vergleichbarkeit der Sachverhalte könne offen bleiben, ob der Auffassung des OVG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 19. Oktober 2006 - OVG 5 B 15.03 - juris) zu folgen sei, wonach die Frage, ob eine zeitnahe Rücknahme der Einbürgerung vorliege, in Anlehnung an strafrechtliche Verjährungsbestimmungen oder die im Bundeszentralregistergesetz enthaltenen Fristen zu beantworten sei. Die in § 24 Abs. 2 StAngRegG enthaltene Fristbestimmung von fünf Jahren sei im vorliegenden Fall schon deswegen unbeachtlich, weil sich § 24 StAngRegG nur auf den Anwendungsbereich der Einbürgerung deutscher Volkszugehöriger beziehe. Bei seinen Ermessenserwägungen habe der Beklagte weiter zutreffend darauf hingewiesen, dass ohne eine Rücknahme der Einbürgerungen der Kläger deren Eltern und Geschwister ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet über Art. 6 GG/ Art. 8 EMRK erlangen würden, obgleich die Eltern bewusst und vorsätzlich seit der Einreise in das Bundesgebiet über ihre Identität getäuscht hätten; diesem Gesichtspunkt habe der Beklagte ein ausschlaggebendes Gewicht beimessen dürfen.

8 Im vorliegenden Revisionsverfahren erstreben die Kläger weiterhin die Aufhebung der Rücknahme ihrer Einbürgerung; sie rügen eine Verletzung des § 48 VwVfG. Soweit sich die Revisionen zugleich gegen die Ausweisung bzw. die Befristung von Aufenthaltstiteln sowie die Feststellung ihrer Ausreisepflicht richten, hat der Senat das Verfahren abgetrennt; insoweit ist das Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen BVerwG 1 C 1.08 anhängig.

9 Der Beklagte verteidigt das Berufungsurteil.

II

10 Die Revision der Kläger, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist begründet. Das Berufungsgericht hat unter Verstoß gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO) entschieden, § 48 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 NVwVfG bilde eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Einbürgerung der Kläger, denn diese ist schon nicht zeitnah erfolgt (1.). Es bedarf daher keiner Klärung, unter welchen Voraussetzungen minderjährigen Kindern bei der Entscheidung über die Rücknahme staatsangehörigkeitsrechtlich Täuschungshandlungen ihrer Eltern zuzurechnen sind und ob die Rücknahme der Einbürgerung darüber hinaus an einem im gerichtlichen Verfahren zu beanstandenden Ermessensfehler (vgl. § 114 Satz 1 VwGO) leidet (2.).

11 1. Für die Rücknahme der nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts im Jahre 1999 von den Eltern der Kläger erschlichenen Einbürgerungen fehlte es etwas über fünf Jahre danach an der erforderlichen hinreichend bestimmten und vorhersehbaren Ermächtigungsgrundlage. § 48 Abs. 1 VwVfG i.V.m. § 1 NVwVfG stellt keine ausreichende Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Einbürgerungen der Kläger dar, weil diese nicht (mehr) zeitnah erfolgt ist.

12 1.1 Der Senat hat in seinem Urteil vom 14. Februar 2008 - BVerwG 5 C 4.07 - (StAZ 2008, 179), welches den Beteiligten bekannt ist und auf das er Bezug nimmt, im Einzelnen ausgeführt, dass er der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 24. Mai 2006 a.a.O.) folgt, nach der mit Rücksicht auf den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz der deutschen Staatsangehörigkeit § 48 VwVfG - hier i.V.m. § 1 Abs. 1 NVwVfG - nur in bestimmten Fällen eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Rücknahme von Einbürgerungen bietet. Danach steht die Anwendung der allgemein geltenden Rücknahmeermächtigung nur „für den Fall der zeitnahen Rücknahme einer Einbürgerung, über deren Voraussetzungen der Eingebürgerte selbst erwiesenermaßen getäuscht hat“, in Einklang mit dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes. Nur für diesen Fall enthält § 48 VwVfG ein für den Betroffenen berechenbares rechtsstaatliches Abwägungsprogramm und ist dessen Anwendung auch unter dem Aspekt der Gewaltenteilung unbedenklich (BVerfG a.a.O. S. 52).

13 Keine andere Beurteilung rechtfertigen insoweit die Erwägungen des Berufungsgerichts zur völkerrechtlichen Zulässigkeit der Rücknahme erschlichener Einbürgerungen. Das Völkerrecht setzt allerdings dem nationalen Recht Grenzen in Bezug auf die Ausgestaltung von Rücknahme- und Entzugsgründen und ist insoweit nach dem Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung bei der Anwendung des nationalen Rechts zu berücksichtigen. Allerdings steht vorliegend nicht im Streit, dass die Rücknahme einer durch „arglistiges Verhalten, falsche Angaben oder die Verschleierung einer erheblichen Tatsache“ (Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit) bzw. „falsche Angaben oder betrügerische Handlungen“ (Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit) erschlichenen Einbürgerung völkerrechtlich statthaft ist. Die völkerrechtliche Zulässigkeit der Rücknahme einer Einbürgerung lässt aber keine Rückschlüsse darauf zu, welche Anforderungen nach innerstaatlichem (Verfassungs-)Recht an die Regelungen zur Rücknahme zu stellen sind; ein völkerrechtliches Rücknahme- oder Entzugsgebot enthalten die Abkommen nicht. Sie begründen auch keine Vermutung dafür, der zur Gestaltung der Rücknahme- und Verlustgründe berufene nationale Gesetzgeber habe den völkerrechtlich eröffneten Rahmen auch ausgeschöpft bzw. ausschöpfen wollen. Die Anforderungen, die sich aus nationalem Recht - unabhängig von den völkerrechtlich zulässigen materiellen Entzugs- oder Verlustgründen - an die Normenklarheit und Bestimmtheit an Rücknahme- oder Entzugsregelungen ergeben, nehmen die völkerrechtlichen Abkommen von vornherein nicht in den Blick.

14 1.2 Die Einbürgerung der Kläger ist nicht „zeitnah“ zurückgenommen worden.

15 a) Der vom Bundesverfassungsgericht verwendete Begriff „zeitnah“ bezieht sich auf den von der Einbürgerung bis zu ihrer Rücknahme verstrichenen Zeitraum und nicht auf eine Entschließungsfrist der Behörde ab Kenntniserlangung der rücknahmebegründenden Umstände, wie sie etwa in § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG vorgesehen ist (Senat, Urteil vom 14. Februar 2008 a.a.O.). Weil der Bestimmtheit und Voraussehbarkeit von Eingriffen sowie der Stabilität von Statusentscheidungen im Staatsangehörigkeitsrecht besondere Bedeutung zukommt, muss sowohl für den Einzelnen als auch für das Gemeinwesen hinreichend klar sein, ab welchem Zeitpunkt der Statusentzug ausgeschlossen ist. Abzustellen ist daher auf den Zeitraum, der zwischen der Einbürgerung (13. Juli 1999) und deren Rücknahme (Bescheid vom 20. Juli 2004) verstrichen ist. Da bis zur behördlichen Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung selbst für den Einzelnen offen ist, ob es tatsächlich zu deren Aufhebung kommt, entfällt das Vertrauen in den Fortbestand der Staatsangehörigkeit nicht schon dadurch, dass bereits infolge der Unterrichtung durch den Landkreis S. im Herbst 1998 bzw. neuerlich im Personenfeststellungsverfahren im Oktober 2002 Zweifel an der Identität der Eltern der Kläger und damit auch der Kläger selbst aufgekommen sind, oder mit der Anhörung zu einer beabsichtigten Rücknahme.

16 b) Bei dem zwischen der Einbürgerung der Kläger am 13. Juli 1999 und deren Rücknahme am 20. Juli 2004 verstrichenen Zeitraum von etwas über fünf Jahren jedenfalls kann nach der Überzeugung des Senats nicht mehr von einer zeitnahen Rücknahme gesprochen werden.

17 aa) Es ist allerdings in erster Linie die Aufgabe des Gesetzgebers, bei einer noch zu schaffenden spezialgesetzlichen Regelung für die Rücknahme von rechtswidrigen Einbürgerungen zu bestimmen, ob eine und ggf. welche zeitliche Begrenzung gelten soll, und die Voraussetzungen, zeitlichen Grenzen und Rechtsfolgen - auch für etwa betroffene Dritte - bereichsspezifisch und vorhersehbar festzulegen (vgl. zur bisherigen parlamentarischen Diskussion den Entwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu einem Staatsangehörigkeitsneuregelungsgesetz vom 16. März 1999, BTDrucks 14/535 und den Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion „Bündnis 90/Die Grünen“ zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts vom 20. September 2006, BTDrucks 16/2650; ferner die Kleine Anfrage der Fraktion „Die Linke“ vom 3. August 2006 zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Mai 2006, BTDrucks 16/2346 und die Antwort der Bundesregierung vom 17. August 2006, BTDrucks 16/2413 hierauf sowie die Stellungnahme des Bundesrats vom 11. Mai 2007, BRDrucks 224/07 zu dem Entwurf des inzwischen - ohne die geforderte Neuregelung - verabschiedeten Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union). Dem Gesetzgeber ist es vorbehalten, in dem durch Art. 16 Abs. 1 GG gesetzten Rahmen durch eine differenzierende Regelung sowohl den Anforderungen an rechtsstaatliche Bestimmtheit als auch der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dem vom Bundesverfassungsgericht betonten Anliegen Rechnung zu tragen, dass eine Rechtsordnung, die sich ernst nimmt, nicht Prämien auf die Missachtung ihrer selbst setzen darf (BVerfG a.a.O. S. 49).

18 bb) Die in dem Urteil vom 14. Februar 2008 (a.a.O.) nicht abschließend beantwortete Frage, wo bis zu dem Erlass einer speziellen bundesgesetzlichen Regelung für die Rücknahme einer rechtswidrigen Einbürgerung die exakte zeitliche Grenze zwischen der zeitnahen und der nicht mehr zeitnahen Rücknahme der erschlichenen Einbürgerung verläuft, ist im vorliegenden Verfahren dahin zu beantworten, dass eine Frist von fünf Jahren jedenfalls dann zu Grunde zu legen ist, wenn es um die Rücknahme einer Einbürgerung geht, über deren Voraussetzungen der Eingebürgerte selbst erwiesenermaßen getäuscht hat. Denn nur dann ist die grundrechtlich geschützte Erwartung eines Eingebürgerten an eine am Maßstab des Gesetzes ausreichend vorhersehbare Verwaltungsentscheidung noch gewahrt. Umgekehrt ist die Rücknahme einer erschlichenen oder auf vergleichbar vorwerfbare Weise erwirkten Einbürgerung, über deren Voraussetzungen der Eingebürgerte selbst getäuscht hat, innerhalb einer Frist von fünf Jahren als (noch) zeitnah zu werten und findet in § 48 VwVfG regelmäßig eine hinreichende Rechtsgrundlage.

19 Ein Zeitraum von fünf Jahren berücksichtigt das vom Bundesverfassungsgericht im Begriff der „zeitnahen“ Rücknahme vorausgesetzte Bedürfnis nach einer grundrechtsspezifisch geordneten und konkret vorhersehbaren zeitlichen Begrenzung der Rücknehmbarkeit von Einbürgerungen unter Berücksichtigung der Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässlicher Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit ebenso wie das Prinzip der Gesetzmäßigkeit, das als bedeutsamer Teil des Rechtsstaatsprinzips Verfassungsrang hat, das öffentliche Interesse an der Wiederherstellung eines Zustandes der Rechtmäßigkeit, der durch den Erlass und die Fortgeltung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes verletzt wird, und den Gedanken, dass eine Rechtsordnung, die sich ernst nimmt, nicht Prämien auf die Missachtung ihrer selbst setzen darf, will sie nicht Anreize zur Rechtsverletzung schaffen, rechtstreues Verhalten diskriminieren und damit die Voraussetzungen ihrer eigenen Wirksamkeit untergraben (s. BVerfG a.a.O. S. 49). Dass indes auch im Rechtsstaat das Interesse an einer Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände oder der „Sanktionierung“ im Zeitverlauf geringer werden oder ganz entfallen kann, belegen z.B. Regelungen über die Verfolgungsverjährung bei Straftaten (§§ 78 ff. StGB) oder die Anspruchsverjährung zivilrechtlicher Ansprüche (§§ 194 ff. BGB), die Höchstfrist bei der Anfechtung wegen Täuschung oder Drohung (§ 124 Abs. 3 BGB) oder die Tilgungsfristen im Strafregister (§ 34 BZRG).

20 Der Rechtsgedanke, dass mit zunehmendem Zeitablauf das öffentliche Interesse an der Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände anderweitigen Belangen weichen muss, findet seinen Niederschlag auch in der Frist, innerhalb derer nach § 24 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit - StAngRegG - (Gesetz vom 22. Februar 1955, BGBl I S. 65 in der Fassung vom 15. Juli 1999 BGBl I S. 1618) die Unwirksamkeit einer Einbürgerung festgestellt werden kann, bei der durch das Verschulden eines Antragstellers Tatsachen nicht bekannt waren, die der Einbürgerung entgegengestanden hätten. Diese Bestimmung regelt allerdings, wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, nur die Einbürgerung deutscher Volkszugehöriger (s.a. Beschluss vom 13. April 1989 - BVerwG 1 B 54.89 - Buchholz 130 § 8 RuStAG Nr. 37), und erfasst damit nicht den Fall einer erschlichenen Einbürgerung nach §§ 8 ff. StAG (s.a. VGH Kassel, Urteil vom 18. Mai 1998 - 12 UE 1542/98 - InfAuslR 1998, 505). Auch wenn die Fünf-Jahres-Frist auf eine durch Täuschung bewirkte Einbürgerung nicht direkt anzuwenden ist, unterstreicht die in § 24 Abs. 2 Satz 2 StAngRegG normierte Frist, dass der Gesetzgeber dem Stabilitätsanliegen im Staatsangehörigkeitswesen besonderes Gewicht zumisst und dieses auch bei rechtsfehlerhaft bewirkter Einbürgerung durch Zeitablauf überwiegen kann (s.a. VGH Mannheim, Urteil vom 9. August 2007 - 13 S 2885/06 - InfAuslR 2008, 41). Dies rechtfertigt es, auch für die Rücknahme einer durch eigene Täuschungshandlung bewirkten Einbürgerung an diese Frist anzuknüpfen.

21 Der Zeitraum von fünf Jahren wahrt auch gerade noch den Zeitrahmen, der sprachlich dem Begriff „zeitnah“ zugeordnet werden kann, und berücksichtigt für eine Einbürgerung, über deren Voraussetzungen der Eingebürgerte selbst getäuscht hat, dass wegen der Täuschungshandlung das schutzwürdige Interesse gemindert ist, von einer Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände verschont zu bleiben. Bereits das Erfordernis der „zeitnahen“ Reaktion auf eine erschlichene Einbürgerung verbietet, auf die deutlich längere Frist des § 3 Abs. 2 StAG abzustellen, nach deren Ablauf durch eine nicht zu vertretende Behandlung als deutscher Staatsangehöriger die deutsche Staatsangehörigkeit erworben wird; zudem sind an Voraussetzungen und Vorhersehbarkeit der Rücknahme einer durch Einbürgerung erworbenen Staatsangehörigkeit auch in zeitlicher Hinsicht deutlich strengere Anforderungen zu stellen als an einen „Ersitzungserwerb“ (zum Begriff s. Berlit InfAuslR 2007, 457 <459>).

22 cc) Die nach Vorstehendem als Höchstfrist für eine auf § 48 VwVfG gestützte Rücknahme einer Einbürgerung, über deren Voraussetzungen der Eingebürgerte selbst getäuscht hat, anzuwendende Frist von fünf Jahren hindert die Rücknahme der Einbürgerung erst recht auch für die Kläger, die nach den Feststellungen der Vorinstanz an den Täuschungshandlungen, die zu ihrer Einbürgerung geführt haben, selbst nicht beteiligt gewesen sind. Dann - unabhängig von der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen sie sich die Täuschungshandlung ihrer Eltern zurechnen lassen müssen - können sie jedenfalls hinsichtlich der Rücknahmefrist nicht schlechter stehen als ein Eingebürgerter, der in eigener Person über die Voraussetzungen seiner Einbürgerung getäuscht hat und dessen Einbürgerung nach Ablauf von fünf Jahren nicht mehr zurückgenommen werden kann. Die Frist von fünf Jahren hat der Beklagte nicht gewahrt. Dass diese Frist nur um wenige Tage überschritten ist, rechtfertigt ungeachtet dessen keine andere Beurteilung, dass diese Höchstfrist erst durch Auslegung ermittelt worden ist. Ob für den Fall, dass bei Minderjährigen, die nicht in eigener Person über ihre Einbürgerungsvoraussetzungen getäuscht haben, eine Rücknahme möglich ist, jedenfalls die Rücknahmefrist zu verkürzen wäre, kann damit offen bleiben.

23 1.3 Durfte hiernach die Einbürgerung der Kläger nicht zurückgenommen werden, ist auch die Auflage zur Rückgabe der Einbürgerungsurkunden rechtswidrig und aufzuheben.

24 2. Ist die Rücknahme der Einbürgerung der Kläger bereits mangels der erforderlichen gesetzlichen Rechtsgrundlage rechtswidrig, weil sie nicht „zeitnah“ erfolgt ist, kann offen bleiben, unter welchen Voraussetzungen § 48 VwVfG hinreichende Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Einbürgerung minderjähriger Kinder sein kann und inwieweit minderjährigen Kindern hierbei Täuschungshandlungen ihrer Eltern zugerechnet werden können.

25 Ebenso kann offenbleiben, ob die Rücknahme der Einbürgerungen der Kläger auch an einem im gerichtlichen Verfahren zu beanstandenden Ermessensfehler (vgl. § 114 Satz 1 VwGO) leidet, weil der Beklagte der Integration der Kläger im Bundesgebiet möglicherweise ein zu geringes Gewicht beigemessen und die aufenthaltsrechtlichen Folgen, die sich aus einer fortbestehenden Staatsangehörigkeit der Kläger für das Aufenthaltsrecht ihrer Eltern und Geschwister ergeben, zu Lasten der Kläger berücksichtigt hat.

26 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Hund Dr. Franke Dr. Brunn
Prof. Dr. Berlit Stengelhofen
Beschluss:
Der Streitwert wird für das Revisionsverfahren auf 30 000 € festgesetzt.