Beschluss vom 29.07.2004 -
BVerwG 9 B 23.04ECLI:DE:BVerwG:2004:290704B9B23.04.0

Beschluss

BVerwG 9 B 23.04

  • OVG des Landes Sachsen-Anhalt - 18.12.2003 - AZ: OVG 2 L 120/00

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Juli 2004
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S t o r o s t , V a l l e n d a r und Prof. Dr. E i c h b e r g e r
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 18. Dezember 2003 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 653 148,17 € festgesetzt.

Die Beschwerde kann keinen Erfolg haben. Die als Grund für die Zulassung der Revision allein geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegen nicht vor.
1. Die Klägerin macht zunächst geltend, sie sei dadurch in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden, dass ihr das Oberverwaltungsgericht keine Gelegenheit zur weiteren Stellungnahme zu seiner Auffassung gewährt habe, sie habe nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass die Berufungsbegründungsschrift schon am 1. August 2003 versandt worden sei. Diese Rüge ist unbegründet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts folgt aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör auch in der Ausprägung, die er in § 86 Abs. 3 VwGO gefunden hat, grundsätzlich keine Pflicht des Gerichts, den Beteiligten vorab mitzuteilen, wie es bestimmte Erkenntnismittel in Bezug auf Einzelheiten des Parteivortrags versteht und bewertet (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28. Dezember 1999 - BVerwG 9 B 467.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 51 S. 2 m.w.N. und vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52 S. 4). Eine Ausnahme hiervon gilt allerdings dann, wenn das Gericht seine Entscheidung auf Anforderungen an den Sachvortrag oder auf sonstige rechtliche Gesichtspunkte stützen will, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 f.>). So liegen die Dinge hier jedoch nicht.
Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen für die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorlagen, waren nur die zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags innerhalb der Antragsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO vorgetragenen Tatsachen zu berücksichtigen, und außerdem war festzustellen, ob diese Tatsachen bis zum Abschluss des Verfahrens über den Wiedereinsetzungsantrag glaubhaft gemacht worden sind (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. Februar 1968 - BVerwG II C 16.64 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 53 S. 20 und vom 21. Oktober 1975 - BVerwG VI C 170.73 - BVerwGE 49, 252 <254>; Beschluss vom 16. Februar 1999 - BVerwG 8 B 10.99 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 222 S. 4). Die Klägerin hatte mit ihrem Wiedereinsetzungsantrag nicht ausdrücklich vorgetragen, dass und von wem die behauptete fristgerechte Berufungsbegründung unterzeichnet worden sei. Nicht einmal die Beschwerdebegründung enthält hierzu einen widerspruchsfreien Sachvortrag. Selbst wenn man aber davon ausgeht, ihrem Wiedereinsetzungsantrag vom 15. September 2003 sei konkludent der Vortrag zu entnehmen, Rechtsanwalt T. habe die Berufungsbegründung am 1. August 2003 unterzeichnet und am selben Tag versenden lassen, hat die Klägerin in den folgenden drei Monaten bis zum Abschluss des Verfahrens über den Wiedereinsetzungsantrag die jedenfalls für einen anwaltlich vertretenen Prozessbeteiligten auch ohne vorherigen richterlichen Hinweis zur Glaubhaftmachung eines solchen Vortrags nahe liegenden, in der Beschwerdebegründung angesprochenen Beweismittel, nämlich eidesstattliche Versicherungen von Rechtsanwalt T. und der zuständigen Mitarbeiterin der Anwaltssozietät sowie einen Auszug aus dem Postausgangsbuch, dem Oberverwaltungsgericht ohne nachvollziehbaren Grund nicht angeboten, geschweige denn vorgelegt. Unter diesen Umständen musste ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem Prozessverlauf auch ohne diesbezüglichen Hinweis damit rechnen, dass das Oberverwaltungsgericht die anwaltliche Versicherung der im Wiedereinsetzungsantrag enthaltenen Angaben durch Rechtsanwalt B., der dazu aus persönlicher Kenntnis nichts beitragen konnte, als zur Glaubhaftmachung jenes Vortrags nicht hinreichend ansehen würde.
2. Soweit dem Beschwerdevorbringen sinngemäß die Rüge zu entnehmen sein sollte, das Oberverwaltungsgericht habe die richterliche Aufklärungspflicht dadurch verletzt, dass es die Klägerin nicht aufgefordert habe, zur Person des Unterzeichners der behaupteten Berufungsbegründung Stellung zu nehmen, wäre ein solcher Verfahrensmangel entgegen § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht schlüssig bezeichnet. Zum einen fehlt es - wie bereits erwähnt - an der für eine Aufklärungsrüge erforderlichen widerspruchsfreien Darlegung, welche tatsächlichen Feststellungen bei einer solchen Stellungnahme getroffen worden wären. Zum anderen fehlt es auch an der ebenfalls erforderlichen Darlegung, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht - etwa durch Bitte um einen entsprechenden Hinweis - auf die Aufklärungsmaßnahme, deren Unterbleiben gerügt wird, hingewirkt worden ist oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Oberverwaltungsgericht trotz der anwaltlichen Vertretung der Klägerin diese Maßnahme auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätte aufdrängen müssen (vgl. BVerwGE 31, 212 <217 f.>).
3. Die Klägerin macht weiter geltend, der angefochtene Beschluss verletze § 60 VwGO, weil sie entgegen der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts durch die anwaltliche Versicherung von Rechtsanwalt B. glaubhaft gemacht habe, dass die Berufungsbegründungsschrift schon am 1. August 2003 versandt worden sei. Damit beanstandet die Klägerin in revisionsrechtlich unbeachtlicher Weise die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Oberverwaltungsgerichts. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob Fehler der Sachverhalts- und Beweiswürdigung revisionsrechtlich auch dann regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen sind, wenn sie dem Gericht bei Anwendung einer Verfahrensvorschrift unterlaufen und sich damit auf den Verfahrensgang auswirken. Da die Sachverhalts- und Beweiswürdigung in erster Linie Sache der Tatsacheninstanzen und nicht des Revisionsgerichts ist, kann das Revisionsgericht auch insoweit jedenfalls nur prüfen, ob das Tatsachengericht allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze verletzt hat, zu denen die allgemeinen Auslegungsgrundsätze, die gesetzlichen Beweisregeln, die Denkgesetze und die allgemeinen Erfahrungssätze gehören (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Mai 1984 - BVerwG 9 C 141.83 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 147 S. 40; Beschlüsse vom 14. März 1988 - BVerwG 5 B 7.88 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 199 S. 32 und vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 20). Die Beschwerde zeigt jedoch nicht auf, welche allgemeinen Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze das Oberverwaltungsgericht bei der Würdigung der im Wiedereinsetzungsantrag enthaltenen Angaben und ihrer anwaltlichen Versicherung durch Rechtsanwalt B. verletzt haben sollte. Hierfür ist auch sonst nichts ersichtlich.
Die Klägerin räumt selbst ein, dass die im Wiedereinsetzungsantrag enthaltene Angabe, es werde in der Anlage "nochmals ... Berufungsbegründung im Original" überreicht, fehlerhaft formuliert sei. Im Hinblick darauf und auf das Ausbleiben jeden ergänzenden Vortrags von Tatsachen und Beweismitteln zur behaupteten Fertigung und Versendung einer Berufungsbegründungsschrift am 1. August 2003 trotz mehrmonatiger Dauer des Wiedereinsetzungsverfahrens hält sich die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, diese Fertigung und Versendung sei nicht hinreichend glaubhaft gemacht, noch innerhalb des durch § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO gezogenen Rahmens freier Beweiswürdigung.
4. Soweit die Klägerin den angefochtenen Beschluss schließlich auch deshalb beanstandet, weil die Beklagte spätestens seit dem 8. September 2003 nicht mehr anwaltlich vertreten sei, ist diese Annahme schon sachlich unzutreffend. Die an diesem Tage beim Oberverwaltungsgericht eingegangene Mitteilung der Prozessbevollmächtigten der Beklagten, sie legten das Mandat nieder, da der Liquidator der Beklagten ins Ausland verzogen sei und keine neue Anschrift mitgeteilt habe, ändert am Fortbestand der Prozessvollmacht nichts (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Juni 1984 - BVerwG 9 CB 1092.81 - Buchholz 303 § 195 ZPO Nr. 3 S. 2). Abgesehen davon könnte eine Kündigung des Vollmachtsvertrages gemäß § 87 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 173 VwGO dem Kläger gegenüber erst durch die Anzeige der Bestellung eines anderen Anwalts rechtliche Wirksamkeit erlangen. Im Übrigen hängt die formelle Rechtmäßigkeit der Zurückweisung eines Rechtsmittels - hier der Berufung der Klägerin - nicht davon ab, ob der Rechtsmittelgegner anwaltlich vertreten ist.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung aus § 72 Nr. 1 GKG n.F. i.V.m. § 13 Abs. 2, § 14 GKG a.F.