Beschluss vom 29.06.2012 -
BVerwG 9 B 11.12ECLI:DE:BVerwG:2012:290612B9B11.12.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 29.06.2012 - 9 B 11.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2012:290612B9B11.12.0]

Beschluss

BVerwG 9 B 11.12

  • OVG des Landes Sachsen-Anhalt - 07.12.2011 - AZ: OVG 3 K 283/09

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Juni 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen und
Prof. Dr. Korbmacher
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 7. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen tragen die Kläger zu je einem Fünftel.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde kann keinen Erfolg haben. Die von den Klägern geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegen nicht vor.

2 1. Das angefochtene Urteil leidet nicht daran, dass das Oberverwaltungsgericht den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat. Die Beschwerde rügt insoweit, das Oberverwaltungsgericht habe in mehrfacher Hinsicht wesentliches Vorbringen der Kläger „nicht ernsthaft bei der Urteilsfindung berücksichtigt“ und sich nicht in dem gebotenen Maße mit dem Klägervortrag auseinandergesetzt. Der Vorwurf ist unberechtigt.

3 Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, Sachvortrag und Anträge der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen. Er verpflichtet das Gericht aber nicht, in der zu treffenden Entscheidung auf jedwedes Vorbringen der Beteiligten ausdrücklich einzugehen und dieses im Einzelnen zu bescheiden, namentlich wenn es das Vorbringen aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen durfte (stRspr, vgl. etwa die Beschlüsse vom 22. Mai 2006 - BVerwG 10 B 9.06 - NJW 2006, 2648 <2650> und vom 23. Juni 2008 - BVerwG 9 VR 13.08 - NVwZ 2008, 1027 <1028>, jeweils m.w.N.).

4 Dem genügt das angefochtene Urteil. Das Oberverwaltungsgericht ist auf sämtliche von den Klägern in der Beschwerdebegründung (S. 5 bis S. 10 oben) angeführten Einwände, die sie als nicht oder nicht hinreichend gewürdigt rügen, eingegangen. Dies sind - erstens - die Frage der nach Ansicht der Kläger nicht gegebenen sachlichen Zuständigkeit der Beklagten gemäß § 6 VwVfG LSA (siehe dazu UA S. 9), weiter - zweitens - ihr Vortrag (im Rahmen derselben Rechtsfrage) dazu, welches der beiden Vorhaben (der Straßenausbau oder das Straßenbahnvorhaben) einen größeren Kreis öffentlich-rechtlicher Rechtsbeziehungen berühre (vgl. UA S. 10), ferner - drittens - ihr Einwand, der streitige Planfeststellungsbeschluss sei bereits deshalb rechtswidrig, weil er den früheren, bestandskräftigen Planfeststellungsbeschluss vom 16. März 2006 ändere, ohne ihn insoweit aufzuheben (vgl. UA S. 12), sowie - viertens - ihr Vortrag zur Rechtsnatur der im Planfeststellungsbeschluss vom 16. März 2006 vor dem Grundstück der Kläger vorgesehenen Sperrfläche, die von Fahrzeugen nicht benutzt werden darf (vgl. als Verkehrszeichen gemäß § 41 Abs. 3 Nr. 6 StVO, UA S. 14).

5 Auf die letztgenannte Frage brauchte das Oberverwaltungsgericht schon deshalb nicht näher einzugehen, weil es die Frage, ob das Grundstück der Kläger trotz dieser Sperrfläche bisher überhaupt zulässigerweise von Fahrzeugen erreicht werden konnte, offen gelassen hat (UA S. 14, 2. Absatz: „Es kann dahingestellt bleiben“) und zugunsten der Kläger angenommen hat, dass durch den angefochtenen Planfeststellungsbeschluss „eine bisher vorhandene vorteilhafte Verkehrsanbindung geändert“ worden sei. Bei allen weiteren oben angeführten Themen des Klägervortrags erschöpft sich die Kritik der Beschwerde, wie sie auch einräumt (S. 2 des Schriftsatzes vom 24. Mai 2012), der Sache nach darin, dass die Beschwerde nicht „alle Argumente der Kläger“ in den Entscheidungsgründen gebührend und ausführlich behandelt sieht. Damit verkennt die Beschwerde aber den oben dargestellten Gewährleistungsgehalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör, namentlich dass das Gericht nicht verpflichtet ist, auf jede Einzelheit des Vorbringens der Beteiligten einzugehen. Ein Gehörsverstoß liegt deshalb nicht bereits dann vor, wenn ein Gericht - wie hier - vor allem die nach seiner Überzeugung entscheidungserheblichen Gesichtspunkte und die sein Urteil tragenden Gründe und Argumente herausstellt und dabei auf - aus seiner Sicht - nicht erhebliche, möglicherweise sogar eher fernliegende Gesichtspunkte nicht mehr im Einzelnen eingeht. Letzteres betraf hier insbesondere das Argument der vermeintlichen „Tatbestandswirkung“ des Planfeststellungsbeschlusses vom 16. März 2006 (vgl. UA S. 13 oben).

6 2. Die von der Beschwerde - in zweifacher Hinsicht - erhobene Rüge einer Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 und 2 VwGO) greift ebenfalls nicht durch.

7 a) Zwar haben die Kläger mit ihren in der (zweiten) mündlichen Verhandlung vom 7. Dezember 2011 vor dem Oberverwaltungsgericht gestellten förmlichen Beweisanträgen auf eine weitere Beweiserhebung zur Frage der Erreichbarkeit des Grundstücks der Kläger mit Sattelzügen und Lastkraftzügen mit Anhängern zur Güterbeförderung gedrängt. Diese Anträge betrafen zum einen die Forderung, das Gericht solle - über das von ihm bereits eingeholte (und vom Gutachter schriftlich und sowie mündlich näher erläuterte) Sachverständigengutachten hinaus - eine weitere Beweiserhebung in Form einer Fahrprobe vor Ort durchführen. Dass das Gericht dies abgelehnt hat, ist indes ebenso wenig zu beanstanden wie die Ablehnung des Antrags auf Vernehmung der Zeugin B. zur (nach Angaben der Kläger) fehlenden Bereitschaft von Spediteuren, das Grundstück der Kläger unter den gegebenen Bedingungen anzufahren.

8 Die von § 86 Abs. 2 VwGO verlangte Förmlichkeit hat das Berufungsgericht eingehalten. Es hat ausweislich des Verhandlungsprotokolls über die Beweisanträge beraten, deren Ablehnung beschlossen und die Beschlüsse mündlich begründet. Auch der Sache nach hält die Verfahrensweise des Gerichts der Überprüfung stand, denn die Beweisfragen waren nach seiner materiell-rechtlichen Auffassung nicht entscheidungserheblich. Es hat sich davon leiten lassen, dass das subjektive Fahrverhalten bei einer Fahrprobe nicht Grundlage und Maßstab für die Beurteilung der Erreichbarkeit des klägerischen Grundstücks sei; ebenso wenig könne die subjektive Bereitschaft von Spediteuren, den auf dem Grundstück der Kläger ansässigen Gewerbebetrieb zu beliefern, dafür maßgeblich sein. Beides beruht ersichtlich darauf, dass mit der von dem Sachverständigen als Grundlage seines Gutachtens herangezogenen Richtlinie Nr. 287 „Bemessungsfahrzeuge und Schleppkurven zur Überprüfung der Befahrbarkeit von Verkehrsflächen“ der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) in Deutschland anerkannte Regeln der Technik zur Beurteilung der Befahrbarkeit von Straßen und Zufahrten vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht hat ausweislich der von ihm gegebenen Begründung hieraus die Schlussfolgerung gezogen, dass die Frage der Erreichbarkeit des klägerischen Grundstücks mit Sattelzügen und Lastkraftzügen allein anhand objektiver Kriterien zu entscheiden ist, mithin nicht von individuellen Fähigkeiten des jeweiligen Fahrers oder von dessen subjektiver Bereitschaft abhängig sein kann. Von dieser materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts hat der Senat im Rahmen der Aufklärungsrüge auszugehen.

9 b) Ein Verstoß gegen § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO liegt auch nicht deswegen vor, weil das Oberverwaltungsgericht - wie die Kläger rügen - fälschlicherweise angenommen habe, dass die LKW beim Zurückfahren nicht an einer Grundstücksausfahrt vorbeikämen. Mit diesem Vorbringen werden die an eine Aufklärungsrüge zu stellenden Darlegungsanforderungen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) schon deshalb verfehlt, weil die Beschwerde weder angibt, welche Beweismittel mit welchem voraussichtlichen Ergebnis für eine weitere Sachverhaltsermittlung zur Verfügung gestanden hätten, noch, inwiefern sich die unterbliebene Beweisaufnahme dem Gericht hätte aufdrängen müssen.

10 3. Soweit die Beschwerde in dem zuletzt genannten Zusammenhang der Sache nach eine aktenwidrige Feststellung des Oberverwaltungsgerichts und damit einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) rügt, geht diese Rüge ebenfalls fehl. Sollte das Oberverwaltungsgericht übersehen haben, dass sich ausweislich der dem Sachverständigengutachten des Dipl.-Ing. G. beigefügten Planunterlagen an der Strecke, die die rückwärts einfahrenden Lastkraftwagen passieren, eine (weitere) Toreinfahrt zu dem Grundstück der Kläger befindet, hätte sich dieser Mangel jedenfalls nicht entscheidungserheblich ausgewirkt. Die in Rede stehende Feststellung des Oberverwaltungsgerichts steht im Zusammenhang mit der Frage, ob eine von den Klägern angeführte Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte zum Rückwärtsfahren von Kraftfahrzeugen auf die vorliegende Fallkonstellation übertragbar sei. Das Oberverwaltungsgericht hat dies unabhängig von der (nach Darstellung der Beschwerde irrigen) Annahme, dass an der rückwärts zurückzulegenden Strecke keine Grundstücksausfahrt liege, auch deshalb abgelehnt, weil die in der von den Klägern angeführten Rechtsprechung erwähnten Streckenlängen ersichtlich auf Personenkraftwagen abstellten; dies sei auf Sattel- und Lastkraftzüge nicht übertragbar. Entgegen der Ansicht der Beschwerde handelt es sich dabei um eine (insoweit) selbstständig tragende Begründung („Zum anderen ... bereits deshalb“, UA S. 16 Mitte). Ist eine Entscheidung auf mehrere selbstständige Begründungen gestützt, so kann eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nur Erfolg haben, wenn hinsichtlich beider Begründungselemente ein Revisionszulassungsgrund vorliegt. Das ist hier nicht der Fall. Soweit sich die Beschwerde unter Berufung auf die von ihr herangezogene Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte im Kern gegen die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts wendet, auch auf Richtungsfahrbahnen dürfe - unter Einhaltung der gebotenen Vorsichtsmaßnahmen - rückwärts gefahren werden, handelt es sich dabei nicht um eine Frage der Tatsachenwürdigung, sondern der Rechtsauslegung und -anwendung, die sich einer Überprüfung anhand des Überzeugungsgrundsatzes ohnehin entzieht.

11 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO; es entspricht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären (§ 162 Abs. 3 VwGO), weil diese einen Antrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO). Die Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 1, § 47 Abs. 1 und 3 GKG.