Beschluss vom 26.11.2003 -
BVerwG 6 VR 4.03ECLI:DE:BVerwG:2003:261103B6VR4.03.0

Beschluss

BVerwG 6 VR 4.03

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 26. November 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. H a h n und Dr. G r a u l i c h
beschlossen:

  1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
  2. Der Antrag des Antragstellers, ihm für das vorliegende einstweilige Rechtsschutzverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.
  3. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 4 000 € festgesetzt.

Die Anträge des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (1.) sowie auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (2.) bleiben ohne Erfolg.
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist dahin zu verstehen, dass er sich gegen die Sperrerklärung des Bundeskanzleramts vom 20. Oktober 2003, Az.: 611-151 00 - Au 13 (VS) gemäß § 96 StPO betreffend Unterlagen des Bundesnachrichtendienstes richtet und nicht gegen diejenige des Bundesministeriums des Innern vom 17. Oktober 2003, Az.: P II 3-611 851 - 1/16, betreffend Unterlagen des Bundeskriminalamts. Dafür sprechen der Wortlaut der Antragstellung sowie die Bezeichnung der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundeskanzleramt, als Antragsgegnerin in der Antragsschrift.
Der auf die Übergabe der gesperrten Akten des Bundesnachrichtendienstes an das Oberlandesgericht Hamburg gerichtete Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig (s. § 50 Abs. 1 Nr. 4 VwGO), aber unbegründet. Der Antragsteller hat einen sein Begehren rechtfertigenden Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO).
a) Der Antragsteller ist Angeklagter in dem Strafverfahren 2 BJs 85/01 - 5; 2 StE
5/03-5, in welchem auf Grund einer Anklage der Generalbundesanwaltschaft seit dem 14. August 2003 vor dem 3. Senat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg die Hauptverhandlung durchgeführt wird. Es geht um die strafrechtlichen Folgen einer etwaigen Beteiligung des Antragstellers an den Anschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika am 11. September 2001. Der Antragsteller befindet sich seit dem 10. Oktober 2002 in Untersuchungshaft.
Nach der Anklageschrift soll der Antragsteller auf der Grundlage eines von ihm geteilten aggressiv militanten Islamismus Mitglied in der in Hamburg gebildeten terroristischen Vereinigung gewesen sein, welche die Anschläge vom 11. September 2001 ausgeführt hat. Er soll danach u.a. Marwan Alshehhi und Ramzi Binalshibh nach deren Rückkehr aus Afghanistan nach Hamburg bis zur geplanten bzw. erfolgten Abreise in die Vereinigten Staaten von Amerika deren konspirativen Aufenthalt zur Verschleierung ihrer Lebensverhältnisse durch Verschaffung eines Zimmers im Studentenwohnheim Emil-Andresen-Straße 5 in Hamburg ermöglicht haben, damit diese in den Monaten April und Mai 2000 die Anschlagsvorbereitungen ungehindert fortsetzen konnten.
Marwan Alshehhi ist als einer der Ausführenden selbst bei den Flugzeugattentaten am 11. September 2001 ums Leben gekommen. Ramzi Binalshibh befindet sich als einer der wenigen noch lebenden Zeugen betreffend die Vorbereitungshandlungen zu den Anschlägen derzeit im Gewahrsam US-amerikanischer Dienststellen.
Mit einem Rechtshilfeersuchen vom 23. Juni 2003 an die Vereinigten Staaten von Amerika hat der 3. Senat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg sich darum bemüht, Ramzi Binalshibh als Zeugen vernehmen zu können. Das amerikanische Justizministerium hat daraufhin erklärt, dass der Zeuge "nicht zur Verfügung stehe".
Da aus anderem Zusammenhang bekannt war, dass deutschen Sicherheitsbehörden schriftliche Unterlagen über Befragen von Ramzi Binalshibh vorliegen, welche auf Befragungen des Zeugen durch amerikanische Dienststellen zurückgehen, bat der 3. Senat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg mit Schreiben vom 26. September 2003 das Bundeskanzleramt um Übersendung der Unterlagen. Am selben Tag hatten die Vertreter der Nebenklage einen entsprechenden Antrag gestellt, welchem sich Verteidigung und Bundesanwaltschaft angeschlossen haben.
Darauf gab das Bundeskanzleramt mit Schreiben vom 20. Oktober 2003 eine Sperrerklärung gemäß § 96 Satz 1 StPO hinsichtlich der Unterlagen beim Bundesnachrichtendienst über die Vernehmung von Ramzi Binalshibh ab. Zur Begründung für die Sperrerklärung wurde ausgeführt, die Unterlagen seien mit der Auflage übergeben worden, dass sie allein den deutschen Sicherheitsbehörden und Nachrichtendiensten zur Auswertung dienen dürften. Eine Vorlage und Einführung als Beweismittel in Gerichtsverfahren sei ausdrücklich nicht gestattet worden. Im Falle der Zuwiderhandlung sei mit dem Ausschluss vom entsprechenden geheimdienstlichen Nachrichtenaustausch zu rechnen.
Auf eine entsprechende Anfrage hat der Vorsitzende des 3. Senats mitgeteilt, es müsse am 27. November 2003 mit einer Beendigung der Beweisaufnahme im Hauptverfahren gerechnet werden.
b) Bei dem im Wege der einstweiligen Anordnung verfolgten Antrag auf Vorlage von aktenförmigen Unterlagen im Rahmen eines Strafverfahrens handelt es sich nicht um einen eigenständigen Anspruch auf Aktenvorlage; dieser besteht vorliegend lediglich im Verhältnis des Strafgerichts zu der ersuchten Behörde. Dementsprechend kann der Antragsteller auch keine Verletzung von Rechten aus jener Rechtsbeziehung geltend machen. Vielmehr kommt als Grundlage des Anordnungsbegehrens nur der Anspruch des Antragstellers auf ein rechtsstaatliches, faires Strafverfahren in Betracht, das durch eine rechtswidrige Sperrerklärung i.S. von § 96 StPO gegenüber dem Strafgericht verletzt sein kann. Zu den Voraussetzungen einer solchen Rechtsverletzung hat das Bundesverwaltungsgericht in dem Urteil vom 19. August 1986 - BVerwG 1 C 7.85 - (BVerwGE 75, 1) Folgendes ausgeführt:
"Die Befugnis, die Vorlage von Behördenakten zu einem Strafverfahren verbindlich zu verlangen, kommt allein den Organen der Strafrechtspflege - nach Eröffnung der Hauptverhandlung dem Strafgericht - vorbehaltlich des § 96 StPO zu. Infolgedessen sind eine Sperrerklärung im Sinne von § 96 StPO und die darauf gründende Nichtvorlage von Akten an das Strafgericht nur dann rechtswidrig und können mithin das Recht des Beschuldigten auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren nur dann verletzen, wenn und soweit durch die Sperrerklärung ein konkretes Ersuchen des Strafgerichts um Aktenvorlage verweigert wird. Fehlt es an einem derartigen wirksamen Ersuchen des Strafgerichts, so werden Rechte des Beschuldigten durch die Sperrerklärung nicht verletzt und ist eine deswegen erhobene Klage unbegründet, weil die am Strafverfahren nicht beteiligte aktenführende Behörde weder verpflichtet noch berechtigt ist, von Amts wegen oder auf Antrag des Beschuldigten dem Strafgericht Akten vorzulegen, und weil die Rechtmäßigkeit des (Ersuchens oder) Nichtersuchens um Aktenvorlage weder Gegenstand des Streits zwischen der aktenführenden Behörde und dem Beschuldigten ist noch überhaupt Gegenstand eines Verwaltungsverfahrens - sondern nur Gegenstand des strafprozessualen Rechtsmittelverfahrens - sein kann." (a.a.O. S. 5 ff.).
Das Verlangen um Vorlage der streitbefangenen Behördenunterlagen durch ein Organ der Strafrechtspflege liegt in der Bitte des Vorsitzenden des 3. Senats des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg im Schreiben vom 26. September 2003 an das Bundeskanzleramt wegen Übersendung der Unterlagen.
Der Antragsteller wird aber nach dem Ergebnis der im vorliegenden Verfahren allein möglichen summarischen Prüfung durch die Sperrerklärung der Antragsgegnerin deswegen nicht in seinen Rechten verletzt, weil die Anforderungen, die das Gesetz an eine solche Erklärung stellt, erfüllt sind.
Gemäß § 96 StPO darf die Vorlegung von Akten oder anderen in amtlicher Verwahrung befindlichen Schriftstücken durch die Behörde nicht gefordert werden, wenn deren oberste Dienstbehörde erklärt, dass das Bekanntwerden des Inhalts dieser Akten oder Schriftstücke dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde. Diese Erklärung der obersten Dienstbehörde bewirkt ein gesetzliches Beiziehungshindernis und stellt die Behörde von der Verpflichtung zur Vorlegung der vom Strafgericht angeforderten Akten frei (Beschluss vom 10. Februar 2003 - BVerwG 6 VR 3.03 -).
Der Senat ist bei der Prüfung, ob die Verweigerung der Aktenvorlage durch die Antragsgegnerin nach diesen Grundsätzen berechtigt ist, auf die ihm vorliegenden Angaben und Unterlagen der Antragsgegnerin beschränkt. Die Vorgänge, auf die sich die Sperrerklärung bezieht und anhand deren das Vorbringen der Antragsgegnerin am ehesten auf seine Stichhaltigkeit überprüft werden könnte, sind ihm von der Antragsgegnerin nicht vorgelegt worden. Diese Entscheidung der Antragsgegnerin beruht auf § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO, wonach im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten die zuständige oberste Aufsichtsbehörde die Vorlage von Akten verweigern kann, wenn das Bekanntwerden des Inhalts der Akten dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde. Die Gründe, aus denen die Antragsgegnerin die umstrittenen Akten dem Senat nicht vorgelegt hat, sind offenkundig die gleichen, die auch für die Verweigerung der Aktenvorlage an das Oberlandesgericht maßgeblich sind. Den in derartigen Fällen auf Grund von § 99 Abs. 2 Satz 1 bis 3 VwGO möglichen Antrag auf Einleitung eines besonderen gerichtlichen Überprüfungsverfahrens, für das gemäß § 99 Abs. 2 Satz 4 i.V.m. § 189 VwGO beim Bundesverwaltungsgericht ein besonderer Spruchkörper gebildet ist und das gemäß § 99 Abs. 2 Satz 7 VwGO den Vorschriften des materiellen Geheimschutzes unterliegt (sog. "in-camera-Verfahren"), hat der Antragsteller nicht gestellt.
Die von dem Antragsteller beantragte einstweilige Anordnung kann nicht ergehen, weil die Verweigerung der Aktenvorlage nach den für den Senat derzeit tatsächlich nutzbaren Erkenntnismöglichkeiten berechtigt erscheint.
Die Antragsgegnerin hat die Geheimhaltungsbedürftigkeit der einschlägigen Akten in ihrer Sperrerklärung vom 20. Oktober 2003 und in ihrer Antragserwiderung vom 25. November 2003 damit begründet, dass die Informationen, auf die der Antragsteller zugreifen wolle, dem Bundesnachrichtendienst von einem Nachrichtendienst der Vereinigten Staaten zur Verfügung gestellt worden seien, allerdings unter der strikten Beschränkung, dass sie allein durch Nachrichtendienste oder Sicherheitsbehörden ausgewertet werden dürften.
Diese Auflage würde missachtet, wenn die Unterlagen in ein gerichtliches Verfahren eingebracht würden. Dort hätten zwangsläufig auch Privatpersonen wie der Angeklagte die Möglichkeit der Kenntnisnahme.
Eine solche Missachtung der Auflage hätte für die Zusammenarbeit von deutschen und US-amerikanischen Sicherheitsbehörden nicht abschätzbare negative Folgen, wie im Einzelnen dargelegt wird.
Diesen dem Bund drohenden Nachteilen stünden keine erkennbaren wesentlichen Vorteile für den Antragsteller gegenüber. Es sei äußerst zweifelhaft, ob die dem Bundesnachrichtendienst verfügbaren Unterlagen überhaupt den angestrebten Beweiszweck erfüllen könnten, verwertbare Erkenntnisse für das vorliegende Strafverfahren zu erbringen. Die Unterlagen entstammten nämlich keiner strafrechtlichen Vernehmung, sondern gäben Äußerungen aus nachrichtendienstlichen Befragungen wieder, welche Fragen beantworteten, die nicht zur Erforschung eines strafrechtlich relevanten Sachverhalts gestellt worden seien. Außerdem seien die einschlägigen, dem Bundesnachrichtendienst vorliegenden Unterlagen erkennbar unvollständig. Wenn aber der Erkenntniswert der Unterlagen mehrfach beschränkt sei, erscheine es auch unter Berücksichtigung der Schwere des konkreten Tatvorwurfs - Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Beihilfe zum Mord - und der dem Angeklagten drohenden Höchststrafe nicht verhältnismäßig, jene schweren Nachteile in Kauf zu nehmen, die der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland durch eine Offenlegung drohten.
Diese Erwägungen der Antragsgegnerin lassen keinen Rechtsfehler erkennen und erscheinen plausibel. Die Antragsgegnerin hat nicht verkannt, dass auch die für die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland tätigen Behörden grundsätzlich verpflichtet sind, ihre Akten dem Strafgericht auf dessen Ersuchen vorzulegen, und sich dieser Vorlagepflicht nicht schon mit dem Hinweis auf die von ihnen wahrzunehmenden Aufgaben entziehen können (vgl. BVerwGE 75, 1, 10). Dementsprechend hat sie unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falles das Bestehen eines konkreten Geheimhaltungsbedürfnisses geprüft und festgestellt. Zu den Schutzgütern des § 96 StPO gehört auch die Zusammenarbeit der deutschen Sicherheitsbehörden mit anderen Behörden (vgl. BVerwGE 75, 1, 14); das gilt zumal dann, wenn die Zusammenarbeit auf die Abwehr drohender Anschläge und die Bekämpfung der Produktion und Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln und damit auf den Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen gerichtet ist. Denkbare künftige Entwicklungen hinsichtlich der Bereitschaft, nachrichtendienstliche Erkenntnisse auch Gerichten in bestimmter Weise zugänglich zu machen, berühren angesichts ihrer Unabsehbarkeit die gegenwärtigen Geheimhaltungsinteressen nicht.
Zutreffend sieht die Antragsgegnerin die Geheimhaltungsbedürfnisse nicht durch Veröffentlichungen in dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" als beeinträchtigt an. In Heft 44 aus 2003 vom 27. Oktober 2003 waren angebliche Aussagen von Ramzi Binalshibh aus den geheimen Unterlagen zitiert. Ungeachtet des Umstandes, dass die Veröffentlichung erst nach der streitgegenständlichen Sperrerklärung erfolgte, hat die Antragsgegnerin auf die Zweifelhaftigkeit einer Übereinstimmung des streitbefangenen Geheimdienstmaterials mit den im "Spiegel" ausgewerteten Quellen hingewiesen. Ohne Benennung des dort verwandten Quellenmaterials lässt sich nicht einmal schlüssig dartun, dass es sich um Erkenntnisse aus dem Bundesnachrichtendienst vorliegenden Materialien handelt. Im Übrigen liegt es in der Logik geheim gehaltener Unterlagen, dass der Wahrheitsgehalt von Parallelveröffentlichungen weder bestätigt noch bestritten werden kann. Darauf hat die Antragsgegnerin hinsichtlich der genannten Presseveröffentlichung ausdrücklich hingewiesen. Dementsprechend kann nicht davon ausgegangen werden, das Geheimhaltungsbedürfnis sei entfallen, weil das geschützte Wissen bereits allgemein bekannt sei.
Die Antragsgegnerin hat ferner den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entsprechend und mit einem nachvollziehbaren Ergebnis das von ihr festgestellte öffentliche Interesse an der Geheimhaltung der umstrittenen Akten gegen das öffentliche Interesse an der Wahrheitsermittlung im Strafprozess und gegen das private Interesse des Antragstellers, sich von dem gegen ihn erhobenen Anklagevorwurf zu entlasten, abgewogen. Angesichts der nicht eingeschränkten Auflage des US-Geheimdienstes kam auch eine teilweise Freigabe nicht in Betracht.
2. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe sowie auf die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist mangels hinreichender Erfolgsaussicht des Begehrens nach einstweiligem Rechtsschutz ebenfalls abzulehnen (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 121 ZPO).
3. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 13 Abs. 1 Satz 2, § 20 GKG.