Beschluss vom 26.05.2003 -
BVerwG 8 B 76.03ECLI:DE:BVerwG:2003:260503B8B76.03.0

Beschluss

BVerwG 8 B 76.03

  • VG Potsdam - 14.01.2003 - AZ: VG 11 K 5810/97

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 26. Mai 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. M ü l l e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht K r a u ß und P o s t i e r
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des
  2. Verwaltungsgerichts Potsdam vom 14. Januar 2003 wird zurückgewiesen.
  3. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 255 645,94 € festgesetzt.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die allein geltend gemachte Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) rechtfertigt eine Zulassung der Revision nicht.
Der Kläger sieht als klärungsbedürftig die Stichtagsregelung in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 REAO sowie die Kausalitätsvermutung zwischen Verfolgung und Vermögensverlust an. Es sei die Frage zu beantworten,
ob die starre, auf den 15. September 1935 anzuwendende Stichtagsregelung auch in den Fällen gilt, in denen zwar der Kaufvertrag kurze Zeit nach dem Stichtag notariell beurkundet, jedoch die wesentlichen mündlichen Vereinbarungen, Zahlungen und Abwicklungsmaßnahmen des Kaufvertrages bereits im Vorfeld und vor dem Stichtag stattfanden.
Ferner müsse Berücksichtigung finden können, dass Anlass für den Veräußerungsentschluss nicht die Verfolgung, sondern die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Verkäufers gewesen seien. Die Antwort auf diese Fragen ergibt sich aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und muss nicht erst in einem Revisionsverfahren gefunden werden.
1. Die am klaren Wortlaut von § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG i.V.m. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 REAO anknüpfende Auslegung der Norm führt zu einem eindeutigen Ergebnis: Hiernach geht von jeder Veräußerung im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 Buchst. b REAO zwischen dem 15. September 1935 und 8. Mai 1945 die (gesteigerte) Vermutung ungerechtfertigter Entziehung von Vermögensgegenständen aus, die nur nach dort bestimmten Maßgaben widerlegt werden kann. Dabei wird unter "Veräußerung" - entsprechend der rückerstattungsrechtlichen Rechtsprechung - jedes Rechtsgeschäft verstanden, das den Vermögensverlust unmittelbar bewirkt (Urteil vom 16. Dezember 1998 - BVerwG 8 C 14.98 - BVerwGE 108, 157 = Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 167). Vorvertragliche Verhandlungen und vorbereitende Maßnahmen bezieht das Gesetz aus Gründen der Beweiserleichterung für die Betroffenen bewusst nicht ein; denn falls es auf sie doch entscheidend ankäme, fänden nachfolgende, bis zur Aufgabe des Vermögensgegenstandes noch eintretende Zwangslagen keine Berücksichtigung. Dies könnte zu einer Wiedergutmachungslücke führen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es dem Gesetzgeber durch Art. 3 Abs. 1 GG nicht verwehrt, zur Regelung bestimmter Sachverhalte Stichtage einzuführen, obwohl jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt (vgl. BVerfGE 3, 58 <148>; 3, 288 <337>; 13, 31 <38>). Die Stichtagsregelung von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 REAO ist im Sinne dieser Rechtsprechung "überhaupt und in der Wahl ihres Zeitpunkts am gegebenen Sachverhalt orientiert und somit sachlich vertretbar" (vgl. BVerfGE 29, 283 <299>). Zutreffend hält das Verwaltungsgericht die Wahl des Stichtages (15. September 1935) gegenüber dem Vorwurf der Willkür für hinreichend gerechtfertigt, "da sich die bereits mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 bestehende Verfolgungssituation der Juden nach In-Kraft-Treten der Nürnberger Rassegesetze am 15. September 1935 erheblich verschärfte und damit der ab diesem Zeitpunkt weiter gesteigerte Verfolgungsdruck die Annahme der Verfolgungsbedingtheit eines Veräußerungsgeschäftes noch wahrscheinlicher machte" (UA S. 10).
2. Die gesetzliche Vermutung von Verfolgungsmaßnahmen gemäß § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG i.V.m. Art. 3 REAO kann nicht durch Besonderheiten des Einzelfalles ausgeschlossen werden. Die Vermutung kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur durch die in Art. 3 Abs. 2 und 3 REAO vorgesehenen Beweise widerlegt werden (vgl. Urteile vom 16. Dezember 1998 - BVerwG 8 C 14.98 - a.a.O. und vom 24. Februar 1999 - BVerwG 8 C 15.98 - BVerwGE 108, 301 = Buchholz 428 § 1 Abs. 6 VermG Nr. 1). Dieses Verhältnis von gesetzlicher Vermutung und Widerlegungsmöglichkeit ist sachgerecht. Ließe man den direkten Gegenbeweis zu, würde nur ein verfolgungsbedingter Anlass der Veräußerung, nicht aber eine verfolgungsbedingte Kondition des Rechtsgeschäfts geschützt. Auch bei einem "neutralen" Anlass - Liquidation, Erbauseinandersetzung o.ä. - können aber die konkreten Bedingungen des Rechtsgeschäfts wegen der Zwangslage des Veräußerers für ihn schlechter gewesen sein als für einen nichtverfolgten Veräußerer (Urteil vom 30. April 2003 - BVerwG 8 C 9.02 - zur Veröffentlichung bestimmt).
3. Schließlich wirft die von der Beschwerde hervorgehobene Tatsache keinen weitergehenden Klärungsbedarf auf, dass zum Familienverband des Erwerbers eine jüdische Bürgerin gehört hatte. § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG i.V.m. Art. 3 Abs. 3 Buchst. a REAO lässt die Widerlegung der gesetzlichen Vermutung eines Zwangsverkaufs bei Rechtsgeschäften nach dem 15. September 1935 - wie hier - nur zu, wenn außer der Angemessenheit des Kaufpreises und dessen freier Verfügbarkeit zusätzlich bewiesen wird, dass das Rechtsgeschäft auch ohne Herrschaft des Nationalsozialismus abgeschlossen worden wäre. Entgegen der in der Beschwerde anklingenden Auffassung schließen familiäre Beziehungen die Kausalität zwischen dem nationalsozialistischen Verfolgungsdruck und der Veräußerung des Vermögenswertes weder aus noch haben sie eine - ohnehin für Art. 3 Abs. 3 REAO nicht ausreichende - erhebliche indizielle Bedeutung zugunsten der Widerlegung der Vermutung (Beschluss vom 15. Oktober 2001 - BVerwG 8 B 139.01 - Buchholz 428 § 1 Abs. 6 VermG Nr. 11).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes aus §§ 13, 14 GKG.