Beschluss vom 25.06.2004 -
BVerwG 1 B 230.03ECLI:DE:BVerwG:2004:250604B1B230.03.0

Beschluss

BVerwG 1 B 230.03

  • Hessischer VGH - 30.06.2003 - AZ: VGH 3 UE 956/02.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 25. Juni 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht H u n d und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 30. Juni 2003 wird verworfen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und auf Verfahrensmängel durch eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht sowie des rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 86 Abs. 1, § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie entspricht schon nicht den Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Zulassungsgründe aus § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
1. Die Beschwerde rügt zunächst eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Ablehnung von zwei Beweisanträgen (Beschwerdebegründung S. 2 ff., S. 4 ff.) dazu, dass Armenien nicht bereit sei, "Reisepässe bzw. Passersatzpapiere für armenische Volkszugehörige aus Aserbaidschan auszustellen, die zuvor Asyl in einem Drittstaat - hier Bundesrepublik Deutschland - beantragt haben," und "Transitvisa für Berg-Karabach für aserbaidschanische Staatsangehörige armenischer Volkszugehörigkeit auszustellen, die aus Aserbaidschan in die Bundesrepublik Deutschland geflüchtet sind". Die Beschwerde macht hierzu geltend, die Ausführungen im Berufungsurteil zur Ablehnung dieser Beweisanträge (BA S. 12 und 14) fänden im Prozessrecht keine Stütze. Hätte der Verwaltungsgerichtshof den Beweisanträgen stattgegeben, hätte sich möglicherweise ergeben, dass Armenien nicht bereit sei, für den genannten Personenkreis Reisepässe, Passersatzpapiere oder Transitvisa auszustellen. Damit hätte sich die Frage der Erreichbarkeit der vom Verwaltungsgerichtshof bejahten innerstaatlichen Fluchtalternative Berg-Karabach neu gestellt.
Mit diesem Vortrag und den hierzu gemachten Ausführungen wird eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht schlüssig gerügt. Die Beschwerde verkennt, dass das Berufungsgericht solchen Beweisanträgen nicht nachgehen muss, die es aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts - unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung - unberücksichtigt lassen darf. So verhält es sich hier. Nach der von der Beschwerde zitierten, vom Verwaltungsgerichtshof gegebenen Begründung hat er die Beweisanträge nicht für entscheidungserheblich gehalten. Die Beschwerde zeigt nicht auf, inwiefern diese Ablehnungsbegründung auf der Grundlage der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts prozessrechtlich fehlerhaft sein und deshalb das rechtliche Gehör verletzen soll. In Wahrheit wendet sich die Beschwerde mit ihren Rügen gegen die in der Ablehnungsbegründung zum Ausdruck kommende Auffassung des Berufungsgerichts zur tatsächlichen Erreichbarkeit der von ihm angenommenen inländischen Fluchtalternative Berg-Karabach. Damit lässt sich die behauptete Gehörsverletzung indessen nicht begründen.
2. Die Revision sieht als grundsätzlich bedeutsam die Frage an, "ob Flüchtlinge aserbaidschanischer Staatsangehörigkeit generell auf eine Fluchtalternative in Berg-Karabach verwiesen werden können, da die Republik Aserbaidschan in dieser Region ihre Gebietsgewalt nicht nur vorübergehend verloren hat aufgrund der Tatsache, dass der Staat, der ursprünglich die Gebietsherrschaft über dieses Gebiet ausgeübt hat, seit über 10 Jahren dort keinerlei Gebietsherrschaft mehr ausübt und auch nicht annähernd absehbar ist, dass dies wieder der Fall sein könnte". Es sei klärungsbedürftig, ob nach einem so langen Zeitraum faktischer Gebietsaufgabe und nicht absehbarer völkerrechtlicher Regelung faktisch nicht mehr von einer "inländischen Fluchtalternative", sondern von einer "ausländischen Fluchtalternative" auszugehen sei.
Mit dieser Frage zielt die Beschwerde nicht auf eine vom Revisionsgericht zu klärende rechtsgrundsätzliche Frage, sondern auf die den Tatsachengerichten vorbehaltene Feststellung und Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse in Aserbaidschan, insbesondere in Berg-Karabach. Im Übrigen ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bereits geklärt, dass als Ort einer inländischen Fluchtalternative auch ein Teilgebiet eines Staates in Betracht kommt, in dem dieser seine Gebietsgewalt vorübergehend faktisch nicht mehr ausüben kann, und dass es insoweit nicht darauf ankommt, ob in diesem Teilgebiet eine andere staatliche oder staatsähnliche Friedensordnung besteht (vgl. Urteil vom 8. Dezember 1998 - BVerwG 9 C 17.98 - BVerwGE 108, 84 <88 bis 90>). Ferner ist geklärt, dass dann, wenn der Staat in einer Region die Gebietsherrschaft - etwa durch Annexion oder Sezession - endgültig verliert, diese asylrechtlich nicht mehr als inländische Fluchtalternative anzusehen ist (BVerwG, a.a.O., S. 88). Hiervon ist auch das Berufungsgericht ausgegangen. Die Frage, ob und wann im Einzelfall der endgültige Verlust der Gebietsherrschaft eines (Verfolger)Staates in einer Region eingetreten ist, ist von den Tatsachengerichten nach den jeweiligen tatsächlichen Umständen im Einzelfall zu ermitteln und zu würdigen und entzieht sich einer weitergehenden abstrakten rechtsgrundsätzlichen Klärung. Soweit die Beschwerde mit dem Schriftsatz vom 12. Februar 2004 neu - und im Übrigen auch nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist - geltend macht, Berg-Karabach habe durch die Volksabstimmung am 10. Dezember 1991 sowohl nach damaligem Recht der UdSSR als auch nach dem Völkerrecht eine wirksame Sezession von Aserbaidschan vollzogen, und sich hierfür auf Vorträge von Prof. Dr. Otto Luchterhand und Dr. Dittmar Schorkowitz beruft, kann dies schon deshalb im Revisionszulassungsverfahren nicht berücksichtigt werden, weil es sich um neuen Tatsachenvortrag handelt. Denn auch die Ermittlung und Auslegung ausländischen Rechts - wie etwa des Rechts der damaligen UdSSR - ist den Tatsachengerichten vorbehalten (§ 173 VwGO i.V.m. § 293 ZPO) und keine Frage des revisiblen Rechts. Die Beschwerde greift mit ihrer Rüge in Wahrheit die ihrer Ansicht nach unzutreffende Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts an, das einen dauerhaften Verlust der Gebietsherrschaft der Republik Aserbaidschan über das Territorium von Berg-Karabach angesichts der noch offenen Verhandlungssituation verneint hat (BA S. 12 f.). Hierauf kann die Zulassung einer Grundsatzrevision aber nicht gestützt werden.
Entsprechendes gilt für die von der Beschwerde weiter aufgeworfene Frage, ob es "einem aserbaidschanischen Staatsangehörigen armenischer Volkszugehörigkeit, der nicht aus Berg-Karabach stammt und der dort auch keine Verwandten hat, möglich bzw. zumutbar <ist>, von der Bundesrepublik Deutschland nach Armenien zu gelangen, dort bei einer karabachischen Behörde ein Einreisevisum für Karabach zu erhalten und anschließend über aserbaidschanisches Gebiet nach Karabach einzureisen sowie dort ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erhalten". Auch diese Frage betrifft die Feststellung und Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse der Einreise und des Aufenthalts der fraglichen Personengruppe in Berg-Karabach und ist als solche einer Klärung im Revisionsverfahren nicht zugänglich.
3. Die von der Beschwerde erhobene Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht genügt ebenfalls nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Die Beschwerde macht insoweit geltend, "das Berufungsgericht hätte aufklären müssen, ob die angebliche innerstaatliche Fluchtalternative Berg-Karabach für armenische Volkszugehörige aus Aserbaidschan von Deutschland aus tatsächlich erreichbar ist". Das Berufungsgericht führe hierzu unter Zitierung einer Entscheidung des OVG Schleswig lapidar aus, dass die Einreise nach Berg-Karabach über Armenien möglich sei. Als Beleg würden dabei Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 17. August 2000 und vom 23. Mai 2002 sowie eine gutachterliche Stellungnahme vom 7. Mai 2002 angeführt. Diese Erkenntnismittel beschäftigten sich jedoch "nicht ausdrücklich mit der Einreisemöglichkeit, sondern nur mit der Möglichkeit, sich in Berg-Karabach aufzuhalten". Die Erreichbarkeit Berg-Karabachs von Deutschland aus werde "nicht thematisiert". Im Gegensatz hierzu habe sich der Kläger auf eine Stellungnahme des UNHCR vom 12. November 1999 berufen, nach der Armenien nicht bereit sei, armenische Volkszugehörige aus Aserbaidschan, die in Deutschland einen Asylantrag gestellt hätten, allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit aufzunehmen, da Deutschland in diesen Fällen als Erstasylland gelte. Diese Stellungnahme, die der Kläger in das Verfahren eingeführt habe und die nie widerrufen worden sei, hätte für das Gericht Veranlassung sein müssen, den Sachverhalt der tatsächlichen Erreichbarkeit Berg-Karabachs für diesen Personenkreis von Deutschland aus weiter aufzuklären. Dann hätte sich möglicherweise ergeben, dass Berg-Karabach für den betroffenen Personenkreis von Deutschland aus tatsächlich nicht zu erreichen sei.
Mit diesem Vorbringen ist eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht nicht dargetan. Hierzu bedarf es der Darlegung, hinsichtlich welcher entscheidungserheblicher Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen, die zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis geführt hätten, voraussichtlich getroffen worden wären. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken - auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung - von sich aus hätten aufdrängen müssen. Daran fehlt es hier. Die Beschwerde legt bereits nicht dar, welche konkreten weiteren Aufklärungsmaßnahmen mit welchen Beweisthemen ihrer Ansicht nach in Betracht gekommen wären und zu welchem Ergebnis sie im Einzelnen geführt hätten, insbesondere woraus sich danach die tatsächliche Unmöglichkeit (oder Unzumutbarkeit) einer Einreise nach Berg-Karabach von Deutschland aus ergeben hätte. Sie macht ferner nicht geltend, dass der Kläger bereits im Berufungsverfahren auf die jetzt vermisste Sachaufklärung hingewirkt und einen entsprechenden, auf die tatsächliche Unmöglichkeit (oder Unzumutbarkeit) einer Einreise nach Berg-Karabach von Deutschland aus bezogenen Beweisantrag gestellt hat. Dass sich bei dieser Sachlage (auch unter Berücksichtigung der oben erwähnten Beweisanträge, die nur das Ausweis- und Transitvisumsproblem erfassen, und deren Ablehnungsbegründung) dem Gericht - ausgehend von seiner materiellen Rechtsauffassung - eine weitere Aufklärung zur Erreichbarkeit des Gebiets von Berg-Karabach hätte aufdrängen müssen, zeigt die Beschwerde nicht auf. Auch die Angriffe gegen die als wörtliches Zitat übernommenen Ausführungen (BA S. 12, S. 13/14) des Oberverwaltungsgerichts Schleswig in dessen Urteil vom 12. Dezember 2002, die sich gegen die Verwertung der dort verarbeiteten Erkenntnisquellen richten, sind nicht geeignet, die Aufklärungsrüge zu begründen. Die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17. August 2000 an das Verwaltungsgericht Augsburg wird auch vom Oberverwaltungsgericht Schleswig nicht als Beleg für die tatsächliche Erreichbarkeit Berg-Karabachs für aserbaidschanische Asylbewerber von Deutschland aus angeführt. Es wird hierzu lediglich dargelegt, warum aus dieser Auskunft nicht geschlossen werden könne, dass nicht aus Berg-Karabach stammenden armenischen Volkszugehörigen die Einreise oder der Aufenthalt in diesem Gebiet verwehrt werde. Das Oberverwaltungsgericht Schleswig stützt seine tatrichterliche Einschätzung - zu Einreise und Aufenthalt - vielmehr auf "sämtliche neueren Auskünfte und Gutachten", aus denen sich nach seiner Auffassung keine Einschränkungen für eine Zuzugsmöglichkeit in das Gebiet von Berg-Karabach für den betroffenen Personenkreis ergeben. Weshalb das Oberverwaltungsgericht Schleswig und ihm folgend das Berufungsgericht diese Schlussfolgerungen aus den weiter verwerteten Erkenntnismitteln (neben den von der Beschwerde angeführten noch ein Gutachten der Deutsch-Armenischen Gesellschaft vom 3. August 2002) nicht ziehen durften, ohne den Sachverhalt von sich aus weiter aufzuklären, lässt sich der Beschwerde nicht entnehmen. Damit ist auch nicht schlüssig dargelegt, warum sich dem Berufungsgericht bei dieser Sachlage noch weitere Aufklärungsmaßnahmen hätten aufdrängen müssen.
Zur Vermeidung von Missverständnissen bemerkt der Senat, dass es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwar in erster Linie Sache des Asylbewerbers ist, substantiiert Tatsachen vorzutragen, die ausnahmsweise eine Rückkehr in verfolgungsfreie Orte des Heimatstaates dauerhaft als unmöglich oder unzumutbar erscheinen lassen können (vgl. zuletzt Urteil vom 16. Januar 2001 - BVerwG 9 C 16.00 - BVerwGE 112, 345 <349> in Anknüpfung an das Urteil vom 16. November 1999 - BVerwG 9 C 4.99 - BVerwGE 110, 74 <77> m.w.N.). Das entbindet die Gerichte aber nicht davon, den Sachverhalt insoweit bei geltend gemachten Zweifeln ggf. auch von Amts wegen weiter aufzuklären. Wie sie dabei indes die vorhandenen Erkenntnismittel werten und ob sie anhand der danach gewonnenen tatrichterlichen Überzeugung über die eingeführten Erkenntnisquellen hinaus weitere Ermittlungen für entbehrlich halten, betrifft zunächst die dem Tatsachengericht vorbehaltene Feststellung und Tatsachenwürdigung, die das Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich nicht, sondern nur auf Verfahrensmängel überprüfen kann. Hält der Tatrichter - wie hier - die vorliegenden Erkenntnismittel trotz der substantiierten Zweifel des Asylbewerbers für ausreichend, um die Erreichbarkeit einer inländischen Fluchtalternative aus anderen Gründen zu bejahen, dann liegt allein darin kein Verfahrensmangel. Ob die der Beweiswürdigung und Subsumtion zugrunde liegende Rechtsansicht des Berufungsgerichts den bundesrechtlichen Maßstäben und Vorgaben entspricht, kann das Bundesverwaltungsgericht nur auf eine hierauf bezogene fallübergreifende Grundsatzrüge oder eine Abweichungsrüge hin nachprüfen. Bei Einwänden, wie sie der Kläger im Berufungsverfahren und mit der Beschwerde erhoben hat, ist ferner allein der Hinweis auf eine entgegenstehende ausländische Rechts- oder Gesetzeslage nicht ausreichend, um eine faktische Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit anzunehmen. Vielmehr ist - wie auch sonst bei der Prüfung von asylerheblichen Gefahren aufgrund der Handhabung ausländischer Gesetze - auf die konkrete Rechtspraxis des ausländischen Staates abzustellen. Dabei könnte im Übrigen im vorliegenden Zusammenhang zusätzlich zu berücksichtigen sein, ob der Ort der inländischen Fluchtalternative legal (oder nach der Rechtspraxis jedenfalls tatsächlich für den Einzelnen gefahrlos) nicht auch mit in Deutschland ausgestellten Reisepapieren erreichbar ist (vgl. etwa früher zum Nordirak Urteil vom 16. Januar 2001 a.a.O. BVerwGE 112, 345 <350>).
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG.