Beschluss vom 25.03.2015 -
BVerwG 9 B 66.14ECLI:DE:BVerwG:2015:250315B9B66.14.0

Beschluss

BVerwG 9 B 66.14

  • VG Schwerin - 16.10.2009 - AZ: VG 8 A 853/09
  • OVG Greifswald - 16.06.2014 - AZ: OVG 1 L 43/10

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 25. März 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Korbmacher und Steinkühler
beschlossen:

  1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 16. Juni 2014 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  2. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2 420,68 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde ist begründet. Die Klägerin sieht zu Recht einen Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO darin, dass ihre Klage als unzulässig verworfen wurde. Auf diesem Verfahrensmangel kann der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts auch beruhen. Der Senat macht zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung von der Möglichkeit Gebrauch, den Beschluss im Beschlusswege aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).

2 Das Oberverwaltungsgericht hat zu Unrecht den form- und fristgerecht gestellten Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt. Die Klägerin hatte glaubhaft gemacht, dass sie kein Verschulden daran trifft, dass sie die fristgerecht erhobene Beschwerde nicht innerhalb der einmonatigen Frist des § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO begründet hat.

3 Der als Einzelanwalt tätige Prozessbevollmächtigte der Klägerin hatte mit dem Wiedereinsetzungsantrag unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung seiner über einen Abschluss als Rechtsfachwirtin verfügenden Kanzleikraft K. vorgetragen, dass er am Tag des Fristablaufs für die Berufungsbegründung seine bisher stets zuverlässige Angestellte angewiesen habe, einen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist zu fertigen. Ein entsprechender Schriftsatz sei ihm daraufhin mit der übrigen Ausgangspost kurz vor 14:00 Uhr zur Unterzeichnung vorgelegt worden. Er habe nach Unterzeichnung des Schriftstücks Frau K. unter Hinweis auf den Fristablauf an diesem Tage ausdrücklich angewiesen, den Antrag rechtzeitig im Lauf des Nachmittags vorab per Fax an das Oberverwaltungsgericht zu versenden. Frau K. habe dies zugesichert, woraufhin er um 14:00 Uhr die Kanzlei wegen eines Besprechungstermins in Leipzig für diesen Tag verlassen habe. Am nächsten Tag habe ihm Frau K. mitgeteilt, dass sie den Schriftsatz nicht versandt habe, da sie gegen 15:00 Uhr einen Anruf ihrer Mutter erhalten habe, dass ihre vierjährige Tochter von einem Klettergerüst gefallen sei, stark aus dem Mund blute und sich nicht beruhigen lasse. Daraufhin habe sie sofort die Kanzlei verlassen, sei zu dem Spielplatz gefahren und habe dort ihre Tochter in Empfang genommen und nach Hause gebracht. Dort habe sie ihre Tochter versorgt und festgestellt, dass sie sich auf die Zunge gebissen habe. Sie habe sich den ganzen Nachmittag, den Abend und die Nacht um ihre Tochter gekümmert. In der Aufregung habe sie nicht mehr an den abzusendenden Schriftsatz gedacht.

4 Damit hatte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin glaubhaft gemacht, dass ihn kein Verschulden an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist trifft (§ 60 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 VwGO). Bei der Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes per Fax an das Gericht handelt es sich um eine einfache technische Verrichtung, die ein Rechtsanwalt einer hinreichend geschulten und überwachten Kanzleikraft überlassen darf (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 1988 - 9 C 271.86 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 155 S. 8 und Beschluss vom 4. August 2000 - 3 B 75.00 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 235 S. 23). Der Anwalt ist aber gehalten, Fehlerquellen bei der Behandlung von Fristsachen soweit wie möglich auszuschließen. Entscheidend ist, ob die vom Anwalt allgemein oder im konkreten Fall gegebenen Anweisungen nach Maßgabe der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ausreichen, um den rechtzeitigen Zugang des Schriftstücks beim Empfänger sicherzustellen (BVerwG, Beschluss vom 28. April 2008 - 4 B 48.07 - juris Rn. 2). Gibt der Anwalt einer bisher zuverlässigen und fachlich qualifizierten Kanzleikraft eine konkrete mündliche Einzelanweisung über die rechtzeitige Übermittlung eines fristwahrenden Schriftsatzes, darf er grundsätzlich darauf vertrauen, dass sie befolgt wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Juni 2004 - VI ZB 10/04 - NJW-RR 2004, 1361 <1362> und vom 4. April 2007 - III ZB 85/06 - NJW-RR 2007, 1430 Rn. 9). Auf allgemeine organisatorische Vorkehrungen für die Fristwahrung kommt es in diesem Fall nicht an (BGH, Beschluss vom 10. September 2013 - VI ZB 61/12 - NJW-RR 2013, 1467). Dieser Grundsatz gilt aber nicht ausnahmslos. Betrifft die Einzelanweisung - wie hier - einen solch wichtigen Vorgang wie die Wahrung einer Rechtsmittelbegründungsfrist und wird sie nur mündlich erteilt, müssen in der Kanzlei ausreichende organisatorische Vorkehrungen dagegen getroffen sein, dass die Anordnung im Drange der Geschäfte in Vergessenheit gerät und die Frist dadurch versäumt wird. Wird nicht unmissverständlich die sofortige Versendung angeordnet, sondern der Kanzleikraft - wie hier - ein Spielraum von mehreren Stunden zur Erledigung der aufgetragenen Arbeit eingeräumt, bedeutet das Fehlen jeder Sicherung einen Organisationsmangel (BGH, Beschlüsse vom 22. Juni 2004 - VI ZB 10/04 - NJW-RR 2004, 1361 <1362>, vom 4. April 2007 - III ZB 85/06 - NJW-RR 2007, 1430 Rn. 9 und vom 15. November 2007 - IX ZB 219/06 - NJW 2008, 526 Rn. 10 ff.).

5 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hätte das Oberverwaltungsgericht der Klägerin Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Berufung gewähren müssen. Zwar trifft es zu, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nicht dargelegt hat, welche allgemeinen organisatorischen Anweisungen er zur Sicherstellung einer wirksamen täglichen Ausgangskontrolle für fristgebundene Schriftsätze festgelegt hat. Dem Oberverwaltungsgericht ist auch darin zu folgen, dass der Prozessbevollmächtigte bei Erteilung der Einzelweisung keine ausreichenden Vorkehrungen gegen das Vergessen des Auftrages getroffen hat. Weder das eine noch das andere Versäumnis ist allerdings kausal für die Nichteinhaltung der Frist geworden. Nach der eidesstattlichen Versicherung seiner Angestellten K. hat diese nach der Nachricht über den Unfall und die Verletzung ihrer erst vier Jahre alten Tochter alles stehen und liegen lassen und ist zu ihrer Tochter geeilt. Auch in den folgenden Nachmittags- und Abendstunden hat sie in Sorge um ihre Tochter die Kanzleiangelegenheiten aus den Augen verloren. Bei dieser Sachlage hätte auch eine allgemeine oder im Einzelfall gegebene Anweisung, etwa dergestalt, dass unmittelbar nach der mündlichen Anweisung ein entsprechender Vermerk in den Fristenkalender einzutragen und erst nach Erledigung zu löschen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 4. April 2007 - III ZB 85/06 - NJW-RR 2007, 1430 Rn. 9), die Ausführung des Auftrages nicht sichern können. Es hat sich mit dem durch die Unfallnachricht veranlassten sofortigen Aufbruch der Kanzleikraft des Prozessbevollmächtigten der Klägerin ein anderes Risiko verwirklicht als das, vor dem die unterlassenen organisatorischen Vorkehrungen hätten schützen sollen. Die Angestellte des Prozessbevollmächtigten der Klägerin hat nicht im Drange der Geschäfte die Erledigung der ihr übertragenen Aufgabe vergessen, sondern sie hat vom Moment des Verlassens der Kanzlei bis in den späten Abend hinein den noch anstehenden Arbeiten aus Sorge um ihr Kind keine Beachtung mehr geschenkt. Vorsorge auch gegen ein solches mit dem normalen Geschäftsablauf einer Kanzlei nicht im Zusammenhang stehendes Risiko zu treffen, war der Prozessbevollmächtigte nicht verpflichtet. Es würde nicht zuletzt angesichts des Verfassungsbezugs des Wiedereinsetzungsrechts zu Art. 103 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG eine Überspannung der individuellen Sorgfaltspflichten bedeuten, wollte man von einem als Einzelanwalt tätigen Rechtsanwalt, der nur eine Kanzleikraft beschäftigt, umfassende organisatorische Vorkehrungen auch gegen solche außerhalb seines Einwirkungsbereichs liegende Zwischenfälle verlangen. Dies käme dem Ansinnen gleich, generell auf nicht sofort auszuführende Einzelweisungen zu verzichten.

6 Die Kostenentscheidung ist der Schlussentscheidung vorzubehalten. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG.