Beschluss vom 23.07.2003 -
BVerwG 5 B 280.02ECLI:DE:BVerwG:2003:230703B5B280.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 23.07.2003 - 5 B 280.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:230703B5B280.02.0]

Beschluss

BVerwG 5 B 280.02

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 05.09.2002 - AZ: OVG 2 A 4070/01

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Juli 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht S c h m i d t und Dr. F r a n k e
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. September 2002 wird zurückgewiesen.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 16 000 € festgesetzt.

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts bleibt ohne Erfolg; die Rechtssache hat nicht die von der Beklagten geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
1. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil, in dem die Beklagte zur Erteilung eines Aufnahmebescheides an die Klägerin zu 1 und zur Einbeziehung der Kläger 2 bis 4 verurteilt worden ist, im Wesentlichen mit der Begründung zurückgewiesen, der Wirksamkeit des von der Klägerin zu 1 mit dem Passeintrag als "Deutsche" in ihrem 1995 ausgestellten russischen Inlandspass abgegebenen Bekenntnisses zum deutschen Volkstum im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG stehe nicht entgegen, dass nach Angaben der Klägerin zu 1 in ihrem ersten im Jahre 1956 ausgestellten sowjetischen Inlandspass die russische Nationalität eingetragen gewesen sei. Es lägen erhebliche Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin zu 1 nicht - wie im sowjetischen Passrecht vorgeschrieben - eine Forma Nr. 1 ausgefüllt habe, sondern der Pass nach Angaben der Mutter gegenüber der Kommandanturverwaltung ausgestellt worden sei; es sei nicht auszuschließen, dass das vorgeschriebene Verfahren von den Behörden im Einzelfall nicht (vollständig) eingehalten worden sei. Selbst wenn die Klägerin aber in der Forma Nr. 1 eine Erklärung zur russischen Nationalität abgegeben habe, sei diese ihr unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG nicht zuzurechnen, wenn das Bekenntnis zum deutschen Volkstum mit Gefahr für Leib und Leben oder schwerwiegenden beruflichen Nachteilen verbunden gewesen wäre. Von einer derartigen Unzumutbarkeit der Erklärung zur deutschen Nationalität und damit zumindest von einer Erklärung ohne Willen zur russischen Nationalität sei für die Klägerin zu 1 auch (noch) für den Anfang des Jahres 1956 auszugehen gewesen. Die Klägerin zu 1 und ihre Mutter hätten damals noch unter Kommandantur gestanden und die für deutsche Volkszugehörige in der ehemaligen Sowjetunion bestehenden allgemein bekannten schwierigsten Umstände hätten damals noch fortgedauert. Zwar sei der nicht veröffentlichte Erlass über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und ihrer Familienangehörigen vom 13. Dezember 1955, der den rechtlich-politischen Status der Deutschen erheblich verbessert habe, bereits ergangen gewesen, doch sei dies der Klägerin zu 1, die auch nach Ergehen des Erlasses noch unter Kommandantur gestanden habe, nicht bekannt gewesen; sie habe deshalb bei Passbeantragung noch davon ausgehen müssen, dass sie bei einer Eintragung als deutsche Volkszugehörige weiterhin unter Kommandantur stehen würde. Soweit die Beklagte behaupte, die Eintragung einer nicht deutschen Nationalität hätte keine Auswirkung auf die Kommandantur gehabt, sei dies durch nichts belegt. Die Klägerin zu 1 und ihre Mutter hätten damals auch in der Angst gelebt, die Klägerin zu 1 könne bei Eintragung der deutschen Nationalität erhebliche Nachteile erleiden; nach der von der Klägerin zu 1 vor dem Verwaltungsgericht gegebenen Schilderung hätten die Klägerin und ihre Mutter Angst gehabt, weil man den Deutschen die Kinder weggenommen habe. Diese hätten "in die Steine arbeiten", also Zwangsarbeit leisten müssen. Da der Eintragung der russischen Nationalität im ersten Inlandspass der Klägerin zu 1 somit kein ihr zuzurechnendes Gegenbekenntnis zugrunde liege, könne auch nach der Neufassung des Bundesvertriebenengesetzes in der die spätere Änderung des Nationalitäteneintrages herbeiführenden Erklärung ein wirksames Bekenntnis zum deutschen Volkstum gesehen werden.
2. Mit der Grundsatzrüge macht die Beschwerde geltend, "der Bedeutungsgehalt der Vorschrift des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG und ihr Verhältnis zu § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG (seien) höchstrichterlich noch nicht abschließend geklärt", präzisiert die ihrer Ansicht nach grundsätzlich klärungsbedürftige Rechtsfrage dahingehend, die Vorinstanz habe für die Beurteilung der zu Beginn des Jahres 1956 bestehenden Situation keine konkreten Feststellungen zu einer Gefahr für Leib oder Leben oder schwerwiegende berufliche Nachteile getroffen, sondern lediglich an die Fortdauer der allgemein schwierigen Situation der deutschen Bevölkerung angeknüpft; das Berufungsgericht habe damit die Zumutbarkeit einer Erklärung der deutschen Nationalität nicht aus heutiger Rückschau auf die später bekannt gewordenen Umstände beurteilt, sondern den damaligen Informationsstand berücksichtigt. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. August 1995 - BVerwG 9 C 391.94 - (BVerwGE 99, 133, 142) komme es jedoch nicht auf die subjektiven Befürchtungen der Kläger an, vielmehr sei auf der Grundlage der im Aussiedlungsgebiet herrschenden Verhältnisse ein objektiver Maßstab anzulegen. Eine grundsätzliche Bedeutung geht aus diesen Darlegungen, die im Wesentlichen auf eine Rüge fehlerhafter Rechtsanwendung hinauslaufen, jedoch nicht hervor. Dies gilt auch, soweit die Beschwerde rügt, das Berufungsgericht habe nicht mitgeteilt, aus welcher Quelle es seine Erkenntnisse über die Kommandanturaufsicht bei Kindern aus gemischt-nationalen Ehen beziehe, und die konkrete Situation der Klägerin zu Beginn des Jahres 1956 nicht aufgeklärt; die Klägerin habe sich über Ereignisse in ihrem Heimatdorf gerade nicht geäußert und das Berufungsgericht habe auch nicht festgestellt, worin die mit einem Bekenntnis zur deutschen Nationalität verbundenen schwerwiegenden beruflichen Nachteile bei der Klägerin, die als Köchin gearbeitet habe, tatsächlich hätten liegen können. Diese Ausführungen betreffen die Tatsachenfeststellung und -würdigung im Einzelfall, ohne dass eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung erkennbar würde. Das Berufungsgericht geht von der Ende 1955/Anfang 1956 objektiv bestehenden Situation noch fortbestehender Kommandanturaufsicht aus und sieht die Befürchtungen der Klägerin zu 1 in diesem Zusammenhang, berücksichtigt dabei allerdings nicht die bald darauf für die deutsche Bevölkerung der Sowjetunion eingetretenen Erleichterungen. Es bedarf indes nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren, dass für die Beurteilung der Unzumutbarkeit einer Erklärung zur deutschen Nationalität auf die Verhältnisse im maßgeblichen Zeitpunkt, nicht aber auf die erst später sichtbar gewordene Verbesserung der Lebensverhältnisse der deutschen Bevölkerung abzustellen ist.
Auch soweit die Beschwerde darauf hinweist, die Anwendung des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG setze voraus, dass "aufgrund der Gesamtumstände der Wille unzweifelhaft (sei), der deutschen Volksgruppe und keiner anderen anzugehören", und vorbringt, dies müsse auch im Falle einer erst später - im Falle der Klägerin im Jahre 1995 - abgegebenen Erklärung zur deutschen Nationalität gelten, besteht kein grundsätzlicher Klärungsbedarf. Ist ein an sich nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG schädliches Gegenbekenntnis in entsprechender Anwendung des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG unschädlich und liegt - wie bei der Klägerin - ein wirksames Bekenntnis zum deutschen Volkstum für einen späteren Zeitpunkt vor, so ist § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG genügt. Nicht erforderlich ist, dass die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG bis zur Aussiedlung vorliegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 13 Abs. 1 Satz 2, § 14 GKG.