Beschluss vom 22.10.2008 -
BVerwG 1 B 5.08ECLI:DE:BVerwG:2008:221008B1B5.08.0

Beschluss

BVerwG 1 B 5.08

  • Bayerischer VGH München - 20.03.2008 - AZ: VGH 10 BV 07.1856

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. Oktober 2008
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 20. März 2008 wird verworfen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde ist unzulässig. Sie legt die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und eines Verfahrensmangels wegen Verstoßes gegen das Gebot zur Gewährung rechtlichen Gehörs (Verfahrensmangel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise dar.

2 1. Die Beschwerde hält die Frage für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig, ob Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie - UBR) auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige Anwendung findet (Beschwerdebegründung Ziffer 1). Sie verweist auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Februar 2008 (2 BvR 2575/07), der ausführt, dass die oberverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage uneinheitlich ist. Die Entscheidungserheblichkeit der Frage im vorliegenden Fall leitet die Beschwerde daraus ab, dass beim Kläger in Bezug auf Gewalt- und Sexualstraftaten gerade keine konkrete Wiederholungsgefahr bestehe und seine Ausweisung damit trotz seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten nicht durch zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Art. 28 Abs. 3 UBR gerechtfertigt sei.

3 Aus dem Beschwerdevorbringen lässt sich jedoch nicht ableiten, dass die aufgeworfene Rechtsfrage entscheidungserheblich ist. Die Beschwerde selbst weist darauf hin, dass der Verwaltungsgerichtshof die Abweisung der gegen die Ausweisung gerichteten Klage nicht nur auf die nach Auffassung des Gerichts fehlende Anwendbarkeit des Art. 28 Abs. 3 UBR auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige gestützt hat (UA Rn. 27), sondern auch darauf, dass im Fall der Anwendbarkeit dieser Vorschrift die Ausweisung rechtmäßig wäre (UA Rn. 28 - 30). Der Verwaltungsgerichtshof ist im Rahmen seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung zu dem Ergebnis gekommen, dass im Fall des Klägers weiterhin eine konkrete Wiederholungsgefahr für die Begehung von Gewalt- und Sexualstraftaten besteht und daher auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Ausweisung nach Art. 28 Abs. 3 UBR aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt ist (UA Rn. 30). Gegen diese Bewertung sind keine durchgreifenden Verfahrensrügen erhoben worden (dazu im Folgenden unter 2.), so dass das Revisionsgericht daran gebunden wäre. Ist insoweit aber von der Würdigung des Berufungsgerichts auszugehen, kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf die von der Beschwerde aufgeworfene Rechtsfrage nicht an. Mit den erhobenen Einwänden gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung lässt sich die Zulassung der Revision nicht erreichen.

4 2. Die Beschwerde rügt als Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), dass der Verwaltungsgerichtshof den in der mündlichen Verhandlung am 19. März 2008 gestellten Beweisantrag (Sachverständigenbeweis) fehlerhaft behandelt habe (Beschwerdebegründung Ziffer 2). Der Antrag war auf die Einholung eines ärztlichen Prognosegutachtens zum Beweis der Tatsache gerichtet, dass vom Kläger nach Entlassung aus der Haft keine Gefahr der Wiederholung strafbarer Handlungen mehr ausgehe. Der Verwaltungsgerichtshof habe nicht darlegen können, dass er über eine ausreichende Sachkunde zur Beurteilung der Wiederholungsgefahr verfügte. Außerdem finde die Ablehnung des Beweisantrags als unzulässiger Ausforschungsantrag im Prozessrecht keine Stütze.

5 Aus dem Beschwerdevorbringen lässt sich nicht entnehmen, warum die Ablehnung des Beweisantrags unter Berufung auf die eigene Sachkunde des Gerichts rechtsfehlerhaft gewesen sein soll. Soweit der Verwaltungsgerichtshof den Beweisantrag schon deswegen abgelehnt hat, weil „es sich bei dem unter Beweis gestellten Thema nicht um eine Tatsache handelt“ (Verhandlungsprotokoll vom 19. März 2008 S. 4, ähnlich UA Rn. 24), dürfte dies allerdings kein geeigneter Grund für die Ablehnung sein. Denn dass ein Sachverständigengutachten die eigene Prognoseentscheidung des Tatrichters nicht ersetzen, sondern hierfür nur eine Hilfestellung bieten kann, ändert nichts daran, dass ein Sachverständigengutachten bezüglich der Wiederholungsgefahr durchaus als geeignetes Beweismittel zur Unterstützung der letztlich maßgeblichen richterlichen Überzeugungsbildung über das Bestehen einer Wiederholungsgefahr in Betracht kommen kann. Unabhängig davon hat der Verwaltungsgerichtshof den Beweisantrag aber auch deshalb abgelehnt, weil er die Frage der Wiederholungsgefahr im Fall des Klägers aufgrund eigener Sachkunde ausreichend beurteilen könne. Inwiefern diese Begründung prozessrechtlich fehlerhaft sein soll, zeigt die Beschwerde nicht auf. Der Verwaltungsgerichtshof hat seiner Entscheidung die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde gelegt, wonach es im Rahmen des ausländerrechtlichen Ausweisungsverfahrens jedenfalls in Fällen wiederholter Straftaten nur in Ausnahmefällen - etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen - der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Beurteilung der Wiederholungsgefahr bedarf (vgl. etwa Beschlüsse vom 4. Mai 1990 - BVerwG 1 B 82.89 - Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 124 und vom 14. März 1997 - BVerwG 1 B 63.97 - Buchholz 402.240 § 45 AuslG 1990 Nr. 10 m.w.N.). Die Beschwerde legt nicht dar, dass es sich hier um einen derartigen Sonderfall handelt. Im Übrigen hat das Berufungsgericht auch im Einzelnen dargelegt, aus welchen Umständen es über hinreichende eigene Sachkunde zur Beurteilung der vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr verfügt (UA Rn. 24). Dabei hat es sich nicht nur auf seine jahrelange Befassung mit derartigen Fragen bezogen - worauf die Beschwerde sich stützt -, sondern auch auf das im Strafverfahren angefertigte nervenärztliche Gutachten, den Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt vom 11. Februar 2008 und den Beschluss der zuständigen Strafvollstreckungskammer vom 16. Januar 2008.

6 Auf die Angriffe der Beschwerde gegen die zusätzliche Begründung des Verwaltungsgerichtshofs, es habe sich „darüber hinaus“ um einen Ausforschungsantrag gehandelt, weil im vorliegenden Fall konkrete Anhaltspunkte für eine positive Sozialprognose fehlten, kommt es deshalb nicht mehr an.

7 Allerdings zeigt die Beschwerde auch insoweit nicht auf, aus welchen Umständen sich eine positive Sozialprognose trotz des vom Berufungsgericht angeführten Fehlens einer Alkohol- und Psychotherapie und trotz der aktuellen Einschätzungen der Strafvollstreckungsorgane ergeben sollte. Die von der Beschwerde als positive Tatsache angeführte „Entwicklung des Klägers während der Haft“ brauchte das Berufungsgericht angesichts der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt und der negativen Einschätzung der Strafvollstreckungskammer nicht als Umstand zu werten, der die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich machte.

8 Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

9 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG.