Beschluss vom 22.04.2003 -
BVerwG 8 B 28.03ECLI:DE:BVerwG:2003:220403B8B28.03.0

Beschluss

BVerwG 8 B 28.03

  • VG Gera - 07.11.2002 - AZ: VG 5 K 580/97 GE

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. April 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. M ü l l e r , den Richter am Bundesverwaltungsgericht K r a u ß und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht
Dr. von H e i m b u r g
beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Gera vom 7. November 2002 wird dieses Urteil aufgehoben.
  2. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 40 903,35 € festgesetzt.

Die Beschwerde ist begründet. Zwar wird eine Abweichung (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) des verwaltungsgerichtlichen Urteils von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht prozessordnungsgemäß dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO vgl. 1.). Es liegt aber ein geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Dies führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht (§ 133 Abs. 6 VwGO).
1. Der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) ist nur dann hinreichend bezeichnet (vgl. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (stRspr, vgl. u.a. Beschluss vom 1. September 1997 - BVerwG 8 B 144.97 - Buchholz 406.11 § 128 BauGB Nr. 50 S. 7 <11>). Die Beschwerde muss also die angeblich widersprüchlichen abstrakten Rechtssätze einander gegenüberstellen. Daran fehlt es hier.
Dem Beschwerdevorbringen lässt sich weder ausdrücklich noch sinngemäß ein vom Verwaltungsgericht aufgestellter Rechtssatz entnehmen, mit dem dieses einem vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Rechtssatz widersprochen haben könnte.
2. Die von der Beschwerde geltend gemachte Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) liegt vor. Auf diesem Verfahrensfehler kann die angefochtene Entscheidung beruhen (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die "Freiheit", die dieser so genannte Überzeugungsgrundsatz dem Tatsachengericht zugesteht, bezieht sich auf die Bewertung der für die Feststellung des Sachverhalts maßgebenden Umstände. Der Überzeugungsgrundsatz kann aber nicht für eine Würdigung in Anspruch genommen werden, die im Vorgang der Überzeugungsbildung an einem Fehler leidet (stRspr, vgl. u.a. Urteil vom 25. Mai 1984 - BVerwG 8 C 108.82 - Buchholz 448.0 § 11 WPflG Nr. 35 S. 6 <15 f.>). Ein solcher Fehler liegt beispielsweise vor, wenn das Verwaltungsgericht möglicherweise entscheidungserhebliche ihm bekannte Tatsachen bei der Überzeugungsbildung überhaupt nicht berücksichtigt oder von einem aktenwidrigen Sachverhalt ausgeht. So verhält es sich hier.
Am 1. April 1992 erließ das Vermögensamt einen Abhilfebescheid in dem es feststellte, der aus Frau Q. und der Klägerin bestehenden Erbengemeinschaft stehe - aufgrund des Ausschlusses der Rückübertragung des Eigentums an dem Grundstück S.-Straße 40 in J. - der Anspruch auf den Erlös aus dem Verkauf dieses Grundstücks zu (vgl. BA I Bl. 40).
Auf den Widerspruch von Frau Q. und der Klägerin hin erließ das Vermögensamt am 24. November 1993 einen neuen Abhilfebescheid. Darin wurde der Bescheid vom 1. April 1992 aufgehoben und das streitgegenständliche Grundstück an Frau Q. und die Klägerin zurückübertragen (vgl. BA I Bl. 98 f.).
Mit Rücknahmebescheid vom 15. Juni 1995 (BA I Bl. 193) wurde dann der Abhilfebescheid vom 24. November 1993 zurückgenommen und der Antrag auf Rückübertragung des Eigentums an dem streitbefangenen Grundstück abgelehnt.
In dem Tatbestand des verwaltungsgerichtlichen Urteils wird der Bescheid vom 1. April 1992 unzutreffenderweise als "ablehnender Bescheid" bezeichnet. Darauf dass dieser Bescheid einen Anspruch auf Erlösauskehr zuerkannte und damit inzident auch eine Berechtigtenfeststellung enthält, geht das Verwaltungsgericht weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen seines Urteils ein. Zu Unrecht von einem ablehnenden Bescheid ausgehend prüft das Verwaltungsgericht dann nicht, welchen Inhalt der Rücknahmebescheid aus dem Jahre 1995 im Einzelnen hat. Nach dem Wortlaut des Rücknahmebescheids lebt mit Aufhebung des Bescheids aus dem Jahre 1993 der Bescheid aus dem Jahre 1992 - und damit die Berechtigtenfeststellung - wieder auf. Dagegen spricht allerdings, dass in dem Rücknahmebescheid die Rückübertragung des Grundstücks und eine Entschädigung abgelehnt werden. Deshalb hätte das Tatsachengericht im Rahmen der ihm obliegenden Sachverhalts- und Beweiswürdigung prüfen müssen, welchen Inhalt der Rücknahmebescheid hat und gegebenenfalls, ob ein Ermessensfehler vorliegt, weil die Behörde übersehen hat, dass bereits der Bescheid vom 1. April 1992 die Berechtigung festgestellt hatte. Dass das Verwaltungsgericht stillschweigend davon ausgeht, dass der Rücknahmebescheid auch eine - als solche nicht kenntlich gemachte - Aufhebung des Bescheids aus dem Jahre 1992 enthält, kann angesichts der Bezeichnung des Bescheids als ablehnenden Bescheid nicht ausgegangen werden. Wird die Rechtmäßigkeit eines Rücknahmebescheids geprüft, obwohl verkannt wird, welcher begünstigende Verwaltungsakt zurückgenommen wurde, leidet die Überzeugungsbildung an einem Fehler.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 13 und 14 GKG.