Beschluss vom 22.04.2002 -
BVerwG 4 B 9.02ECLI:DE:BVerwG:2002:220402B4B9.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 22.04.2002 - 4 B 9.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2002:220402B4B9.02.0]

Beschluss

BVerwG 4 B 9.02

  • VGH Baden-Württemberg - 24.09.2001 - AZ: VGH 8 S 1492/01

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. April 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. P a e t o w und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. Dr. B e r k e m a n n und Dr. J a n n a s c h
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 24. September 2001 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 7 500 € festgesetzt.

Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision bleibt ohne Erfolg.
1. Die Rechtssache hat nicht die rechtsgrundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde beimisst.
1.1 Der Kläger wirft sinngemäß die Frage auf, ob ein Gericht bei der Prüfung, ob der Tatbestand des § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO erfüllt ist, die Grundvoraussetzungen offen lassen und umgehend zur Überprüfung der Ermessensentscheidung der Behörde übergehen kann. Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision.
Nach § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO in der hier noch heranzuziehenden Fassung vom 1. Oktober 1977 können in Gewerbebetrieben Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter ausnahmsweise zugelassen werden (vgl. § 31 Abs. 1 BauGB). Erforderlich ist eine funktionale Zuordnung solcher Wohnungen zum jeweiligen Betrieb. Diese Zuordnung besteht, soweit es sich um Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonal handelt, wenn diese Personen wegen der Art des Betriebes oder zur Wartung von Betriebseinrichtungen oder aus Sicherheitsgründen ständig erreichbar sein müssen, und deswegen das Wohnen solcher Personen nahe dem Betrieb erforderlich ist. Für Betriebsleiter und Betriebsinhaber können wegen ihrer engen Bindungen an den Betrieb Wohnungen auf oder nahe dem Betriebsgrundstück auch dann zulässig sein, wenn der Betrieb ihre ständige Einsatzbereitschaft nicht zwingend erfordert; aber auch dann muss ihr Wohnen auf oder nahe dem Betriebsgrundstück mit Rücksicht auf Art und Größe des Betriebes aus betrieblichen Gründen objektiv sinnvoll sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. März 1984 - BVerwG 4 C 50.80 - NVwZ 1984, 511 = BRS 42 Nr. 73 = ZfBR 1984, 148 und Beschluss vom 22. Juni 1999 - BVerwG 4 B 46.99 - Buchholz 406.12 § 8 BauNVO Nr. 16 = BRS 62 Nr. 78 = ZfBR 1999, 282). Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, kommt die Erteilung einer Baugenehmigung (oder wie vorliegend eines Bauvorbescheids) von vornherein nicht in Betracht. Aber auch wenn der Tatbestand erfüllt wird, steht die Entscheidung im Ermessen der Baurechtsbehörde. Die Ermessensentscheidung hat sich an der genannten Zielsetzung der Regelung zu orientieren.
Vorliegend ist das Berufungsgericht zu der Einschätzung gelangt, es bestünden bereits Bedenken, ob es sich bei den zur Genehmigung gestellten Wohneinheiten um betriebsbezogene Wohnungen handele. Auch nach dem Vortrag in der mündlichen Verhandlung sei zweifelhaft, ob vernünftige, auf den konkreten Betrieb bezogene Gründe vorlägen, die eine Betriebswohnung notwendig erscheinen ließen. In einer derartigen Situation ist ein Tatsachengericht nicht gehindert, die genannte Frage letztlich offen zu lassen, wenn die von ihm im Anschluss daran überprüfte Ermessensentscheidung der Behörde keinen rechtlichen Bedenken begegnet. Bei dieser Überprüfung fallen die genannten Bedenken nicht unter den Tisch. Wenn die Beschwerde insofern von einer Wechselwirkung spricht, kann dem durchaus beigepflichtet werden: Je mehr bereits Bedenken hinsichtlich der Erfüllung des Tatbestands bestehen, umso sorgfältiger muss die Behörde erwägen, ob die Erteilung einer Ausnahme nicht im Rahmen der Ermessensentscheidung zu versagen ist. Dies entbindet die Behörden nicht von der Verpflichtung, zunächst den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln und vorrangig zu prüfen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind oder ob dies nicht der Fall ist. Einen weiterführenden Klärungsbedarf vermag auch die Beschwerde nicht darzulegen. Soweit sie in diesem Zusammenhang auf die Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls eingeht, kann eine grundsätzliche Bedeutung von vornherein nicht aufgezeigt werden.
1.2 Die Beschwerde wirft ferner die Frage auf, ob das Gericht an Stelle der Ermessenserwägungen der Behörde eigene selbständige Ermessenserwägungen anstellen darf. Damit legt die Beschwerde einen Sachverhalt zu Grunde, den der Verwaltungsgerichtshof nicht festgestellt hat. Denn dieser referiert in seinem Urteil (S. 9) im Einzelnen die Erwägungen, von denen die Beklagte sich hat leiten lassen. Dieser Wortlaut macht deutlich, dass das Berufungsgericht in seiner Entscheidung die Ermessenserwägungen der Behörde überprüft und sie nicht lediglich durch eigene ersetzt hat.
Im Anschluss daran fragt die Beschwerde ergänzend, in welchem Umfang das Gericht "Ermessensandeutungen" ausweiten oder vertiefen dürfe, um abschließend deren Rechtmäßigkeit zu bejahen. Auch damit wird keine Frage aufgeworfen, die einer grundsätzlichen Klärung zugänglich wäre. Es versteht sich von selbst, dass die Entscheidungen der zuständigen Behörden der Auslegung und interpretierenden Würdigung zugänglich sind. Wann die Grenze für eine zulässige "Ausweitung und Vertiefung" von Erwägungen der Behörde überschritten ist, entzieht sich jedoch einer grundsätzlichen Klärung.
1.3 Die Beschwerde wirft ferner mit mehreren Formulierungen sinngemäß die Frage auf, welche Bedeutung entgegenstehenden Belangen bei der nach § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO zu treffenden Ermessensentscheidung zukommt. Dabei bezieht sie sich in erster Linie auf die Bedeutung der Störungen und Belästigungen, die im vorliegenden Fall von einer vorhandenen bestandsgeschützten Gaststätte ausgehen, die nur wenige Meter vom geplanten Vorhaben entfernt ist. Hierzu hat das Berufungsgericht ausgeführt, im Rahmen des Ausnahmeermessens dürften auch Störungen und Belästigungen berücksichtigt werden, die noch nicht die Schwelle eines Verstoßes gegen § 15 Abs. 1 BauNVO erreichen. Dieser Grundsatz begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Das sieht die Beschwerde offenbar nicht anders. Sie hebt jedoch insbesondere hervor, die vorhandene Gaststätte genieße nur Bestandsschutz, gehöre aber eigentlich nicht in ein Gewerbegebiet. Ausbaumaßnahmen, die jetzt zum Konflikt beitrügen, seien erst nach In-Kraft-Treten des Bebauungsplans erfolgt. Auch dies ändert jedoch nichts daran, dass sich die Behörde im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen gegen den von der Klägerin gewünschten Standort entscheiden durfte. Denn die vorhandene Gaststätte genießt in formeller Hinsicht Bestandsschutz, so dass auch auf ihren Betrieb Rücksicht zu nehmen ist. Im Übrigen beruft sich die Beschwerde mit ihren Fragestellungen auf die Besonderheiten des vorliegenden Falls, die einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich sind.
1.4 Die Beschwerde möchte ferner sinngemäß die Frage geklärt wissen, ob einer Bescheidungsklage stets dann stattzugeben ist, wenn sich eine tragende Ermessenserwägung der Behörde als fehlerhaft erweist. Hintergrund ist, dass sich die Beklagte auch darauf berufen hat, es stehe der Klägerin frei, das bestehende und ihr gehörende Wohngebäude an der Marktstraße zu belegen. Der Verwaltungsgerichtshof geht darauf nur im Zusammenhang mit seiner Würdigung ein, die Erwägung der Beklagten, Betriebswohnungen allenfalls entlang dieser Straße und damit am Rande des Gewerbegebiets zuzulassen, sei rechtlich nicht zu beanstanden. Er hat damit die Frage, ob der Hinweis der Beklagten auf das vorhandene Wohngebäude rechtlichen Bedenken begegnet, keineswegs im Sinne der Klägerin verneint sondern im Wesentlichen unbeantwortet gelassen. Er ist damit offensichtlich zu dem Ergebnis gelangt, bereits die Erwägungen der Beklagten zu den von der Gaststätte ausgehenden Störungen sowie zur Auswahl der für Wohngebäude allenfalls in Betracht kommenden Standorte - nämlich entlang der Straße - reichten aus, um die Ermessenserwägungen als rechtmäßig anzusehen. Demgegenüber geht die Beschwerde von einem gänzlich anderen Ansatz aus. Die von ihr gestellte Frage wäre somit in einem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich. Davon abgesehen kann die Zulassung einer Ausnahme nach § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO durchaus daran scheitern, dass auf oder nahe dem Betriebsgrundstück bereits Wohnungen vorhanden sind, die für den angestrebten Zweck genutzt werden können (BVerwG, Urteil vom 16. März 1984 a.a.O.). Auch insoweit kommt es auf die Einzelheiten an, die sich einer grundsätzlichen Klärung entziehen.
1.5 Soweit die Beschwerde schließlich anführt, es dürfe nicht zu einem generellen Verbot von Betriebswohnungen kommen, rechtfertigt dies eine Zulassung der Revision ebenfalls nicht. Denn sowohl die Beklagte als auch das Berufungsgericht verweisen in jeweils unterschiedlichem Zusammenhang darauf, dass Wohnnutzung am Rande des Gewerbegebiets bereits unter anderem in einem der Klägerin gehörenden Gebäude stattfindet.
2. Soweit die Beschwerde in mehreren Punkten - Vernehmung eines Zeugen und Einnahme eines Augenscheins - einen Verstoß gegen die Pflicht zur Sachaufklärung rügt, bleibt sie ebenfalls ohne Erfolg. Der insoweit geltend gemachte Verfahrensmangel ist nur dann im Sinne von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. November 1992 - BVerwG 3 B 52.92 - Buchholz 303 § 314 ZPO Nr. 5). Hinsichtlich des von der Beschwerde behaupteten Aufklärungsmangels hätte dementsprechend substantiiert dargelegt werden müssen, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären; weiterhin hätte dargelegt werden müssen, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, entweder auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen. Denn die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz, vor allem das Unterlassen der Stellung von Beweisanträgen, zu ersetzen (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 23. Mai 1986 - BVerwG 8 C 10.84 - BVerwGE 74, 222 <223>). Lediglich schriftsätzlich angekündigte Beweisanträge genügen den letztgenannten Anforderungen nicht (vgl. Beschluss vom 6. März 1995 - BVerwG 6 B 81.94 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265). Diesen Anforderungen entspricht das Beschwerdevorbringen nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes auf § 13 Abs. 1 Satz 1, § 14 Abs. 3 und § 73 Abs. 1 GKG.