Beschluss vom 21.07.2010 -
BVerwG 10 B 41.09ECLI:DE:BVerwG:2010:210710B10B41.09.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 21.07.2010 - 10 B 41.09 - [ECLI:DE:BVerwG:2010:210710B10B41.09.0]

Beschluss

BVerwG 10 B 41.09

  • Hessischer VGH - 10.09.2009 - AZ: VGH 3 A 126/07.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Juli 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann, sowie die Richterinen am Bundesverwaltungsgericht Beck und Fricke
beschlossen:

  1. Das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 10. September 2009 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  3. Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe

1 Die Beschwerde der Kläger hat mit der Verfahrensrüge der Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Beschwerdebegründung IV S. 17 ff.) Erfolg (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG). Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der ihm nach § 133 Abs. 6 VwGO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen.

2 Wie die Beschwerde der Sache nach zu Recht rügt, hat das Berufungsgericht bei der Prüfung des Anspruchs auf Flüchtlingsanerkennung den Vortrag der Kläger, sie seien konvertierte Christen, die vom muslimischen zum christlichen Glauben übergetreten seien, und hätten als solche bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan Verfolgungsmaßnahmen durch staatliche Behörden oder auch muslimische Extremisten zu befürchten, nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt. Es hat damit den Anspruch der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Hierauf kann die angefochtene Entscheidung beruhen.

3 Das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, verpflichtet die Gerichte, entscheidungserhebliche Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht den ihm unterbreiteten Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen einbezogen hat, auch wenn es sich in den Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich mit jedem Gesichtspunkt auseinandergesetzt hat. Etwas anderes gilt aber, wenn es auf den wesentlichen Kern des Vorbringens der Beteiligten nicht eingeht. Das ist hier hinsichtlich des Vorbringens der Kläger, dass sie als zum Christentum konvertierte ehemalige Muslime Verfolgung zu befürchten hätten, der Fall.

4 Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob die Kläger - wie von ihnen geltend gemacht - vor ihrer Ausreise aus Aserbaidschan bereits wegen ihrer Aktivitäten für die evangelisch-lutherische Erlösergemeinde in Baku (vor-)verfolgt worden sind. Denn selbst wenn man dies zu ihren Gunsten unterstelle, drohe ihnen zum jetzigen Zeitpunkt auch bei Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs und damit auch unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 - sog. Qualifikationsrichtlinie - keine Verfolgung mehr wegen ihrer religiösen Überzeugung. Nachdem die Gemeinde inzwischen (seit Februar 2002) vom aserbaidschanischen Staat registriert sei und auch die damaligen innergemeindlichen Auseinandersetzungen beendet seien, lasse sich der Auskunftslage nichts über Behinderungen der freien Religionsausübung dieser Gemeinde entnehmen. Entgegen dem Vorbringen der Kläger ergebe sich eine Rückkehrgefährdung auch nicht daraus, dass sie konvertierte ehemalige Muslime seien. Dieses Vorbringen treffe nicht zu, da die Kläger nach ihren eigenen Angaben in der Anhörung im Asylverfahren vor Gründung des aserbaidschanischen Staates (1991) in der Sowjetunion keine gläubigen Muslime gewesen seien. Die Klägerin zu 1 habe angegeben, schon immer Christin gewesen zu sein. Ihre - deutschstämmige - Mutter sei Christin. Sie selbst habe seit 1991 die Kirche besuchen dürfen und habe dies auch getan. Der Kläger zu 2 habe angegeben, früher Atheist gewesen und dann dem christlichen Glauben beigetreten zu sein. Da die Kläger nicht von einem ausgeübten muslimischen Glauben abgefallen seien und auch nach muslimischem Recht - der Auskunft des Transkaukasus-Instituts vom 17. März 2006 zufolge - nur der Abfall vom muslimischen Glauben ein Verbrechen sei, nicht aber die Zuwendung zu einem anderen Glauben, brauche nicht - wie von den Klägerin hilfsweise angeregt - weiter aufgeklärt zu werden, inwieweit konvertierte Christen, die vom muslimischen zum christlichen Glauben übergetreten seien, durch staatliche Behörden oder auch muslimische Extremisten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien (UA S. 23 f.).

5 Diese Begründung macht deutlich, dass das Berufungsgericht das Vorbringen der Kläger zu ihrer Gefährdung als zum Christentum konvertierte ehemalige Muslime nicht ernsthaft in Erwägung gezogen hat. Die Beschwerde weist zutreffend darauf hin, dass die Klägerin zu 1 ausweislich der beigezogenen Akten des Aufnahmeverfahrens beim Bundesverwaltungsamt von Anfang an stets angegeben hat, dass ihr Vater muslimischen Glaubens gewesen sei. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat sie ausdrücklich erklärt, vor 1994 sei sie (quasi automatisch) muslimischen Glaubens gewesen, weil ihr Vater als Aserbaidschaner Moslem sei. Zu Zeiten der Sowjetunion sei der Glaube aber nicht praktiziert worden (Gerichtsakte Bd. II Bl. 183). Der Kläger zu 2 stammt nach seinem Vorbringen aus einer aserbaidschanisch-muslimischen Familie und hat sich unstreitig erst zusammen mit seiner Ehefrau dem christlichen Glauben zugewandt. Die Beschwerde weist ferner zutreffend darauf hin, dass ausweislich der eigenen Ausführungen des Berufungsgerichts nach der Auskunft des Transkaukasus-Instituts vom 17. März 2006 gemeinhin als „Abfaller“ vom muslimischen Glauben auch eine Person angesehen werde, die selbst nie einen muslimischen Glauben gehabt und sich einem anderen Glauben zugewandt habe, deren männliche Vorfahren aber einen muslimischen Glauben gehabt hätten. Dies werde etwa von Trägern muslimischer Namen und von aserbaidschanischen Volkszugehörigen regelmäßig angenommen (UA S. 20). Angesichts dieser Umstände hätte das Berufungsgericht sich ausdrücklich mit dem Vorbringen der Kläger befassen müssen, sie würden schon deswegen als zum Christentum konvertierte ehemalige Muslime angesehen, weil ihre Väter aserbaidschanische Volkszugehörige muslimischen Glaubens gewesen seien. Es hätte jedenfalls nicht ohne Absicherung durch eine verlässliche Auskunftslage von sich aus ohne Weiteres annehmen dürfen, dass die Kläger mangels „ausgeübten“ muslimischen Glaubens keine zum Christentum konvertierten ehemaligen Muslime seien und in Aserbaidschan auch nicht als solche angesehen würden. Es kann daher unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles nicht davon ausgegangen werden, dass das Berufungsgericht das entsprechende Vorbringen der Kläger ernsthaft erwogen hat. Darin liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Kläger.

6 Auf dieser Gehörsverletzung kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen. Denn das Berufungsgericht hat die hilfsweise Beweisanregung der Kläger zu ihrer Gefährdung als konvertierte Christen allein mit der Begründung abgelehnt, dass sie nicht zu dieser Personengruppe gehörten. Dazu, ob die Kläger anderenfalls unter Berücksichtigung von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie Verfolgung wegen ihrer Religion zu befürchten hätten, hat das Berufungsgericht keine Feststellungen getroffen. Eine solche Gefährdung erscheint, wie die Beschwerde dargelegt hat, angesichts der bisherigen Auskunftslage jedenfalls auch nicht von vornherein ausgeschlossen, da es nach der Auskunft des Transkaukasus-Instituts vom 17. März 2006 zumindest in Einzelfällen in diesem Zusammenhang zu verschiedenen Nachteilszufügungen, insbesondere Haft- oder Geldstrafen, gekommen sei.

7 Auf die weiteren Verfahrensrügen sowie auf die Grundsatzrügen der Beschwerde kommt es danach nicht mehr an. Insbesondere kann ohne ausreichende Feststellungen des Berufungsgerichts über etwaige Verfolgungsgefahren für die Kläger in Anknüpfung an ihre Religion nicht beurteilt werden, ob sich eine der von der Beschwerde angeführten rechtsgrundsätzlichen Fragen (Beschwerdebegründung V S. 24) im Falle der Kläger überhaupt stellen würde.

8 Für das weitere Berufungsverfahren weist der Senat darauf hin, dass, falls der Verwaltungsgerichtshof eine Vorverfolgung der Kläger bejahen oder diese Frage wiederum offenlassen sollte, die künftige Verfolgung nunmehr allein nach Maßgabe der Beweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu beurteilen ist, d.h. dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen müssen, dass die Kläger erneut von solcher Verfolgung (in Anknüpfung an ihre Religion) bedroht sind (vgl. Urteil des Senats vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen, Leitsatz 1 und Rn. 20 ff.).