Beschluss vom 20.10.2006 -
BVerwG 6 B 67.06ECLI:DE:BVerwG:2006:201006B6B67.06.0

Beschluss

BVerwG 6 B 67.06

  • Bayerischer VGH München - 04.04.2006 - AZ: VGH 7 BV 05.388

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. Oktober 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Bardenhewer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier
und Dr. Bier
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. April 2006 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde, die sich auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (1.) und des Verfahrensmangels (2.) stützt, hat keinen Erfolg.

2 1. Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift kommt einer Rechtssache nur zu, wenn eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Die grundsätzliche Bedeutung ist gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO darzulegen; dies verlangt die Bezeichnung einer konkreten Rechtsfrage, die für die Revisionsentscheidung erheblich sein wird, und einen Hinweis auf den Grund, der ihre Anerkennung als grundsätzlich bedeutsam rechtfertigen soll (Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26). Diese Voraussetzungen erfüllt die Beschwerde nicht.

3 Die Klägerin möchte geklärt wissen, ob Art. 48 BayVwVfG „den Anforderungen vom Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes gemäß Art. 20 Abs. 3 GG (genügt), wenn die Rücknahme einer Promotionsentscheidung Gegenstand des Verfahrens ist“. Sie bemängelt, dass Art. 89 Abs. 1 des Bayerischen Hochschulgesetzes - BayHSchG - in der hier noch anwendbaren Fassung vom 2. Oktober 1998 (GVBl S. 741), zuletzt geändert durch Gesetz vom 9. Juli 2003 (GVBl S. 427), die Entziehung des Doktorgrades - abgesehen von dem Fall der Unwürdigkeit - nicht regele und auch die Promotionsordnung der Juristischen Fakultät der Beklagten keine einschlägigen Normen enthalte. Den Rückgriff auf die allgemeine Vorschrift über die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte (Art. 48 BayVwVfG) hält sie im Hinblick auf den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz und das Wesentlichkeitsprinzip, insbesondere wegen des Eingriffs in die Freiheit der Berufsausübung, für unzureichend.

4 Die Frage, die die Beschwerde aufwirft, lässt sich ohne weiteres beantworten, ohne dass es dafür der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass die Anwendung der lange erprobten allgemeinen Rücknahmeregelungen dem Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes grundsätzlich genügt. Der verfassungsrechtlichen Forderung nach einem Tätigwerden des Gesetzgebers wird regelmäßig schon dann entsprochen, wenn eine gesetzliche Regelung vorhanden ist, die nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung den in Frage stehenden Sachverhalt erfasst und inhaltlich die verfassungsrechtlichen Anforderungen erfüllt. In diesem Sinne besteht mit Art. 48 BayVwVfG eine Regelung, in der das Ermessen der Verwaltung durch ein rechtsstaatliches Abwägungsprogramm zwischen Vertrauensschutz und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung begrenzt wird (BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 - 2 BvR 669/04 - NVwZ 2006, 807 Rn. 77 ff.). Nach der sogenannten Wesentlichkeitstheorie verpflichten zwar das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip den Gesetzgeber, wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Verwaltung zu überlassen. Die Grundentscheidung über die Rücknahme von Verwaltungsakten ist aber in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder hinreichend getroffen. Selbst bei statusbegründenden, auf lange Dauer angelegten Verwaltungsakten - wie dem der Einbürgerung - gelten unter dem Gesichtspunkt der Wesentlichkeit keine gesteigerten Anforderungen an die gesetzliche Ausgestaltung einer Rücknahme (BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 a.a.O. Rn. 85).

5 Die Beschwerde zeigt in Anbetracht dieser höchstrichterlich geklärten Grundsätze keine Besonderheiten auf, die bei der Entziehung des Doktorgrades den Rückgriff auf Art. 48 BayVwVfG ausschließen. Sie meint, die allgemeine Rücknahmevorschrift gehe von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes aus, lasse aber nicht erkennen, wie diese im Falle der Rücknahme einer Promotion zu ermitteln sei; insbesondere bedürfe die Frage, inwieweit in das Verfahren der Aberkennung des Doktorgrades Gutachter einzuschalten seien, einer speziellen Ausgestaltung in der jeweiligen Promotionsordnung. Dem kann sich der Senat nicht anschließen. Bereits in dem Urteil des Verwaltungsgerichts (S. 14 f.), auf das das Berufungsgericht zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen hat, ist zutreffend dargelegt, dass die ohnehin nur seltenen Fälle der Rücknahme von Promotionsentscheidungen zu vielfältig sind, um die Einzelheiten für alle in Betracht kommenden Konstellationen über die allgemeinen Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Verwaltungsverfahren insbesondere in Art. 10, 24 und 26 BayVwVfG hinaus normativ festzulegen. Unter den hier gegebenen Umständen hatte die Beklagte zu beurteilen, ob und inwieweit die Klägerin bei der Anfertigung ihrer Dissertation der Verpflichtung zuwidergehandelt hat, die Herkunft wörtlich oder sinngemäß aus Schrifttum und Rechtsprechung übernommener Stellen zu bezeichnen (siehe § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a der Promotionsordnung). In einem solchen Fall geht es nicht um eine inhaltliche (Neu-)Bewertung der Dissertation - im Zusammenhang mit einem derartigen „Überdenken“ könnten spezielle Regelungen über eine vorrangige Beteiligung der bisherigen Prüfer angezeigt sein (s. auch Urteil vom 9. Dezember 1992 - BVerwG 6 C 3.92 - BVerwGE 91, 262 <273 f.> = Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 307) -, sondern um die Klärung der Frage, ob die Dissertation wissenschaftlichen Mindeststandards i.S.d. § 8 Abs. 1 der Promotionsordnung noch genügt. Um die tatsächliche Grundlage für die Beantwortung dieser Frage zu gewinnen, war es sachgerecht, dass sich der gemäß Art. 40 Abs. 1 BayHSchG hierfür zuständige Fachbereichsrat - neben der nochmaligen Befassung des Erst- und des Zweitberichterstatters - der Hilfe eines externen Gutachters bediente. Inwiefern dieses Verfahren nach besonderen Regelungen verlangen soll, macht die Beschwerde nicht deutlich und ist auch sonst für den Senat nicht erkennbar.

6 Die Beschwerde meint, Art. 48 Abs. 3 BayVwVfG trage bei der Rücknahme von Verwaltungsakten, die wie die Verleihung des Doktorgrades nicht auf Geld- oder teilbare Sachleistungen gerichtet seien, dem Vertrauensschutz nur durch die Möglichkeit einer materiellen Entschädigung Rechnung; demgegenüber bedürfe die Promotion im Hinblick auf das mit ihr verbundene berufliche Ansehen eines darüber hinausgehenden, besonderen Schutzes, den die allgemeine Rücknahmevorschrift nicht vermitteln könne. Damit geht die Beschwerde von einer unzutreffenden Voraussetzung aus. Sie verkürzt das rechtsstaatliche Abwägungsprogramm zwischen Vertrauensschutz und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, welches Art. 48 BayVwVfG bei verfassungskonformer Auslegung insgesamt prägt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 2006, a.a.O. Rn. 79). Bei der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes i.S.d. Art. 48 Abs. 3 BayVwVfG, der nicht auf eine Geld- oder teilbare Sachleistung gerichtet ist, hat die Behörde im Rahmen ihrer gebotenen Ermessensausübung den Schutz des Vertrauens auf den Bestand des Verwaltungsaktes mit dem öffentlichen Interesse an seiner Rücknahme abzuwägen (siehe Beschluss vom 30. September 2003 - BVerwG 2 B 10.03 - Buchholz 237.7 § 20 NWLPG Nr. 1 für die Rücknahme einer Prüfungsentscheidung). Die in Art. 48 Abs. 2 BayVwVfG getroffene Wertung über die Schutzwürdigkeit des Vertrauens, die sich ihrem Wortlaut nach nur auf die dort genannten Geld- und Sachleistungsverwaltungsakte bezieht, ist dabei im Rahmen der Ausübung des Rücknahmeermessens zu berücksichtigen (vgl. auch Urteil vom 3. Juni 2003 - BVerwG 1 C 19.02 - BVerwGE 118, 216 <222, 226>). In diese Abwägung sind bei der Entziehung eines Doktorgrades die für den Betroffenen damit verbundenen beruflichen Erschwernisse einzustellen, die als vorhersehbare und in Kauf genommene Nebenfolgen den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG berühren; auch dies ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt (Beschluss vom 25. August 1992 - BVerwG 6 B 31.91 - Buchholz 421.11 § 4 GFaG Nr. 3). Damit übereinstimmend hat das Berufungsgericht die Ermessensausübung der Beklagten deshalb gebilligt, weil deren wissenschaftlicher Ruf und das Ansehen der Rechtswissenschaft insgesamt das Interesse der Klägerin an ihrem beruflichen Ansehen überwiege. Auf der Grundlage dieser Ausführungen und der tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts gibt es keinen Anhalt dafür, dass die Beklagte die Folgen ihrer Entscheidung für die berufliche Betätigung der Klägerin nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht in ihre Erwägungen einbezogen hat. Einen darüber hinausgehenden allgemeinen Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde nicht auf.

7 2. Die Revision ist auch nicht deshalb zuzulassen, weil ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Ein Verfahrensmangel ist nur dann i.S.v. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (Beschluss vom 19. August 1997 a.a.O.). Daran fehlt es hier.

8 Die Beschwerde wirft dem Berufungsgericht einen Verstoß gegen die Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) vor. Sie meint, das Berufungsgericht hätte ihr Vorbringen, sie sei bei Anfertigung ihrer Dissertation schwer krank gewesen, nicht für unglaubhaft halten dürfen, ohne hierüber ein medizinisches Gutachten einzuholen. Damit kann sie nicht durchdringen. Denn ein entsprechender Beweisantrag wurde ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 4. April 2006 nicht gestellt, und die Beschwerde legt weder dar, dass bereits im Verfahren vor dem Berufungsgericht auf die Vornahme einer Sachverhaltsaufklärung bezüglich des Gesundheitszustandes der Klägerin hingewirkt worden ist, noch, inwiefern sich dem Berufungsgericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen. Zwar weist sie in dem - erst nach Ablauf der Frist des § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO eingegangenen - Schriftsatz vom 17. Oktober 2006 darauf hin, dass das Berufungsgericht Erkenntnisse über eine bei der Klägerin vorliegende Depression und über die Einnahme von Antidepressiva gehabt habe. Diesbezügliche Nachforschungen mussten sich ihm dennoch nicht aufdrängen, zumal die Klägerin, wie das Berufungsurteil vermerkt, in dem fraglichen Zeitraum immerhin zwei Staatsprüfungen abgelegt und den Referendardienst absolviert hat.

9 Ebenso wenig lassen die Darlegungen der Beschwerde darauf schließen, dass das angefochtene Urteil auf einem Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) beruht. Der Überzeugungsgrundsatz wird verletzt, wenn das Gericht von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen (Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <208 f.> = Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 174 S. 27 ff.). Das Berufungsgericht ist im Hinblick auf die ordnungsgemäße Ausübung des Rücknahmeermessens der Beklagten davon ausgegangen, dass die Klägerin entweder bei Anfertigung ihrer Dissertation nicht (schwer) krank gewesen ist oder das Promotionsverfahren bis zu ihrer Genesung hätte unterbrechen können. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass sich dem Berufungsgericht eine andere Annahme über den Gesundheitszustand der Klägerin hätte aufdrängen müssen. Die nunmehr aufgrund der ärztlichen Untersuchung vom 14. Juli 2006 gestellte Diagnose konnte das Berufungsgericht schon deshalb nicht in seine eigenen Erwägungen einbeziehen, weil sie erst nach Erlass des Berufungsurteils gestellt worden ist. Abgesehen davon geht die Beschwerde nicht darauf ein, inwieweit der damalige Gesundheitszustand der Klägerin im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung der Ermessensausübung der Beklagten überhaupt entscheidungserheblich ist. Die weder bei der Anhörung der Klägerin (Art. 28 BayVwVfG) noch im Widerspruchsverfahren, sondern erstmals mit der Klage geltend gemachten gesundheitlichen Gesichtspunkte konnten von der Beklagten bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigt werden, und zwar auch dann nicht, wenn der inzwischen an einer anderen Universität lehrende Erstberichterstatter von ihnen Kenntnis gehabt haben sollte.

10 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 18.6 des Streitwertkataloges (NVwZ 2004, 1327).