Verfahrensinformation

Die beteiligten Landkreise streiten um einen jugendhilferechtlichen Kostenerstattungsanspruch in Höhe von über 250 000 € für die Heimunterbringung von vier Kindern in den Jahren 2004 und 2005.


Das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht hat die Revision zur Klärung der in der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte umstrittenen Auslegung des „Beginns der Leistung" im Sinne der maßgeblichen Zuständigkeitsvorschrift (des § 86 Sozialgesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe - SGB VIII) zugelassen.


Urteil vom 19.10.2011 -
BVerwG 5 C 25.10ECLI:DE:BVerwG:2011:191011U5C25.10.0

Leitsatz:

Beginn der Leistung im Sinne von § 86 SGB VIII ist das Einsetzen der Hilfegewährung und damit grundsätzlich der Zeitpunkt, ab dem die konkrete Hilfeleistung tatsächlich gegenüber dem Hilfeempfänger erbracht wird.

  • Rechtsquellen
    SGB VIII § 86 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 und 5; § 86c Abs. 1;
    § 89c Abs. 1 Satz 1
    SGB X §§ 18, 105 Abs. 1 Satz 1

  • Schleswig-Holsteinisches OVG - 14.07.2010 - AZ: OVG 2 LB 10/10
    VG Schleswig - 11.02.2010 - AZ: VG 15 A 229/08

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 19.10.2011 - 5 C 25.10 - [ECLI:DE:BVerwG:2011:191011U5C25.10.0]

Urteil

BVerwG 5 C 25.10

  • Schleswig-Holsteinisches OVG - 14.07.2010 - AZ: OVG 2 LB 10/10
  • VG Schleswig - 11.02.2010 - AZ: VG 15 A 229/08

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 19. Oktober 2011
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer, Dr. Häußler
und Dr. Fleuß
für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 14. Juli 2010 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Der Kläger und der Beklagte sind Landkreise und örtliche Träger der Jugendhilfe. Als solcher begehrt der Kläger vom Beklagten die Erstattung von Kosten in Höhe von 264 672,68 €, die er in den Jahren 2004 und 2005 für die Heimerziehung von vier Kindern einer Familie aufgewandt hat.

2 Die Familie lebte ursprünglich in einem gemeinsamen Haushalt in der beigeladenen Stadt. Im Verlauf des Jahres 2001 erhielt das Jugendamt der Beigeladenen davon Kenntnis, dass die Kinder nicht ausreichend versorgt wurden und die familiäre Situation durch starke Spannungen zwischen den Eltern geprägt war. Die Eltern lehnten es jedoch ab, einen Antrag auf Gewährung von Jugendhilfeleistungen zu stellen.

3 Mit Schreiben vom 5. März 2002 beantragte das Jugendamt der Beigeladenen bei dem Amtsgericht, den Eltern im Wege einer einstweiligen Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Recht zur Beantragung von Hilfe zur Erziehung zu entziehen und diese Befugnisse dem Jugendamt zu übertragen. Diesem Antrag entsprach das Amtsgericht mit Beschluss vom 8. März 2002.

4 Am 11. März 2002 kam es wegen massiver Auseinandersetzungen der Eheleute in ihrer Wohnung zu einem Polizeieinsatz. Die Mutter der Kinder verließ die Ehewohnung und zog zu ihrem Freund nach M.

5 Als gerichtlich bestellter Pfleger beantragte das Jugendamt der Beigeladenen am 25. März 2002, den vier Kindern Hilfe zur Erziehung in Form einer sozialpädagogischen Familienhilfe zu gewähren. Die Beigeladene erbrachte diese Hilfe in der Zeit vom 26. März 2002 bis zum 18. Juli 2002, ohne dass sich damit die familiäre Situation der Kinder, die weiter bei ihrem Vater wohnten, wesentlich verbessern ließ.

6 Mit Beschluss vom 18. Juli 2002 entzog das Amtsgericht den Eltern das Sorgerecht für ihre vier Kinder. Am selben Tag brachte das Jugendamt der Beigeladenen die Kinder in einem Kinderheim in der benachbarten Stadt R. unter, wo sie fortan verblieben. Am 30. Juli 2002 wurde das Jugendamt der Beigeladenen zum Vormund der Kinder bestellt.

7 Mitte März 2003 zog der Vater der Kinder in den Zuständigkeitsbereich des Klägers. Ab dem 24. September 2003 übernahm der Kläger den Hilfefall und gewährte für die vier Kinder Hilfe zur Erziehung in Form von vollstationärer Heimunterbringung.

8 Im November 2003 zog der Vater der Kinder in den Zuständigkeitsbereich des beklagten Kreises.

9 Nachdem der Kläger den Beklagten vergeblich zur Kostenerstattung aufgefordert hatte, verfolgte er dieses Begehren im Klagewege weiter. Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben. Dem Kläger stehe für die von ihm in den Jahren 2004 und 2005 gemachten Aufwendungen ein Kostenerstattungsanspruch nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zu. Der Beklagte sei ab November 2003 gemäß § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII der örtlich zuständige Jugendhilfeträger gewesen, weil der gewöhnliche Aufenthalt des Vaters maßgeblich sei. Die Mutter habe bereits mit ihrem Auszug aus der Ehewohnung am 11. März 2002 einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in M. begründet, so dass die Eltern bereits vor Beginn der Leistung - dies sei hier die Beantragung der Leistung am 25. März 2002 gewesen - verschiedene gewöhnliche Aufenthalte gehabt hätten.

10 Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Dem Kläger stehe ein Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nicht zu. Es fehle bereits an dem von der Vorschrift vorausgesetzten Wechsel der örtlichen Zuständigkeit. Der Kläger sei gemäß § 86 Abs. 5 SGB VIII selbst zuständig geblieben. Die Regelung des § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII greife nicht ein, weil der Beginn der Leistung bereits am 5. März 2002 gewesen sei und zu diesem Zeitpunkt noch beide Elternteile ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich der Beigeladenen gehabt hätten. Für den Leistungsbeginn sei es maßgeblich, wann ein konkretes Leistungsbegehren an den Träger der öffentlichen Jugendhilfe herangetragen werde. „Beginn der Leistung“ sei der Zeitpunkt, zu dem das zuständige Jugendamt die formellen und materiellen Leistungsvoraussetzungen prüfe, indem es zum Beispiel zur Klärung des individuellen Bedarfs Hilfeplangespräche aufnehme oder Anträge auf Sorgerechtsentzug stelle.

11 Mit der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren auf Kostenerstattung weiter. Er rügt eine Verletzung des § 86 SGB VIII im Hinblick auf den Begriff des Beginns der Leistung. Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts sei - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt habe - für den Beginn der Leistung allein der Zeitpunkt maßgeblich, zu dem die Gewährung einer Leistung im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB VIII beantragt werde. Mit dem Antrag beim Amtsgericht am 5. März 2002 sei hier lediglich ein anderes Verwaltungsverfahren abgeschlossen worden, das auf den teilweisen Entzug des Sorgerechts gerichtet gewesen sei und damit der Erfüllung einer anderen Aufgabe der Jugendhilfe im Sinne von § 2 Abs. 3 SGB VIII gedient habe.

12 Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.

II

13 Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das Oberverwaltungsgericht hat im Ergebnis im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) entschieden, dass dem Kläger kein Kostenerstattungsanspruch gegen den Beklagten zusteht. Soweit das Oberverwaltungsgericht den Beginn der Leistung im Sinne von § 86 SGB VIII mit dem Beginn des Verwaltungsverfahrens (im Sinne von § 18 SGB X) bzw. mit dem Zeitpunkt gleichsetzt, zu dem eine Prüfung der örtlichen Zuständigkeit erstmals stattfindet, ist dies zwar mit Bundesrecht nicht vereinbar. Dies wirkt sich aber im Ergebnis nicht aus, weil sich die Entscheidung aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO). Ein Kostenerstattungsanspruch des Klägers folgt weder aus § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (1.) noch aus § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X (2.).

14 1. Nach der Regelung des § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, die sowohl die Vorinstanzen wie auch die Beteiligten allein als Rechtsgrundlage in Erwägung gezogen haben, sind die Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist. Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

15 Der Kläger hat zwar als örtlicher Träger der Jugendhilfe im maßgeblichen Zeitraum von 2004 bis 2005 für die vier Kinder der Familie Hilfe zur Erziehung in Form der vollstationären Heimerziehung (§§ 27, 34 SGB VIII) erbracht und dafür die Kosten getragen. Auch die Höhe der in dem genannten Zeitraum angefallenen Kosten steht nicht im Streit.

16 Der Kläger ist aber nicht anspruchsberechtigt nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, weil er die Kosten nicht im Rahmen einer Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewandt hat. § 86c Satz 1 SGB VIII verpflichtet den bisher zuständigen örtlichen Träger, die Leistung solange zu gewähren, bis der infolge des Wechsels der örtlichen Zuständigkeit nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Der Kläger ist jedoch nicht der bisher zuständige Träger, der trotz Wechsels der örtlichen Zuständigkeit (auf den Beklagten) weiter geleistet hat. Vielmehr ist weder der Kläger noch der Beklagte örtlich zuständig geworden, weil die Beigeladene bereits zu Beginn der Leistung der örtlich zuständige Jugendhilfeträger war (1.1) und dies auch in dem hier im Streit stehenden Zeitraum von 2004 bis 2005 geblieben ist (1.2).

17 1.1 Beginn der Leistung im Sinne von § 86 SGB VIII war hier jedenfalls und spätestens das tatsächliche Einsetzen der Hilfe zur Erziehung in Form der sozialpädagogischen Familienhilfe am 26. März 2002 (a). Die Beigeladene war zu diesem Zeitpunkt nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII oder nach § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII örtlich zuständig (b).

18 a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist „Beginn der Leistung“ im Sinne von § 86 SGB VIII das Einsetzen der Hilfegewährung und damit grundsätzlich der Zeitpunkt, ab dem die konkrete Hilfeleistung tatsächlich gegenüber dem Hilfeempfänger erbracht wird (vgl. Urteile vom 29. Januar 2004 - BVerwG 5 C 9.03 - BVerwGE 120, 116 <119>, vom 7. Juli 2005 - BVerwG 5 C 9.04 - Buchholz 436.511 § 86 KJHG/SGB VIII Nr. 3 und vom 25. März 2010 - BVerwG 5 C 12.09 - BVerwGE 136, 185 <192>; ebenso nunmehr OVG Lüneburg, Beschluss vom 15. April 2010 - 4 LC 266/08 - FEVS 62, 110 ff. = juris Rn. 42; Kunkel, in: ders. <Hrsg.>, SGB VIII, Lehr- und Praxiskommentar, 4. Aufl. 2011, § 86 Rn. 9; DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2008, 582).

19 Daran hält der Senat fest. Er vermag sich nicht der Rechtsansicht des Oberverwaltungsgerichts (UA S. 13 f.) anzuschließen, soweit es sich im Anschluss an eine in Rechtsprechung und Schrifttum verbreitete Auffassung dafür ausspricht, den Begriff des Beginns der Leistung auf das Vorfeld der tatsächlichen Leistungsgewährung auszudehnen und auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem ein Antrag auf Jugendhilfeleistungen gestellt bzw. die örtliche Zuständigkeit vom Leistungsträger erstmals geprüft wird (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 27. Januar 2010 - 12 B 1717/09 - juris Rn. 6, Urteil vom 6. Juni 2008 - 12 A 576/07 - NDV-RD 2009, 51; VGH München, Urteil vom 20. Mai 2009 - 12 B 08.20 07 - juris Rn. 29; Schindler, in: Münder/Meysen/Trenczek <Hrsg.>, Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 6. Aufl. 2009, § 86 Rn. 11 m.w.N. zum Streitstand).

20 Ausgangspunkt für die Frage nach dem „Beginn“ der Leistung ist der Begriff der Leistung (im Sinne von § 86 SGB VIII) selbst. Unter einer Leistung, an deren Beginn § 86 Abs. 2 Satz 2 bis 4 und Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB VIII für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit anknüpfen, sind unabhängig von der Hilfeart und -form im Rahmen einer Gesamtbetrachtung alle zur Deckung eines qualitativ unveränderten, kontinuierliche Hilfe gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlichen Maßnahmen und Hilfen zu verstehen, sofern sie ohne Unterbrechung gewährt worden sind (stRspr, vgl. Urteile vom 29. Januar 2004 a.a.O. S. 116 und vom 25. März 2010 a.a.O. S. 192 Rn. 22). Das Abstellen auf die vom jugendhilferechtlichen Bedarf abhängigen Maßnahmen und Hilfen beim Leistungsbegriff ist auch bei der Bestimmung, was als Beginn der Leistung anzusehen ist, zu berücksichtigen. Bereits aus diesem Zusammenhang folgt, dass es auf das Beginnen bzw. tatsächliche Einsetzen der die Leistung ausmachenden Maßnahmen und Hilfen gegenüber dem Bedürftigen ankommt.

21 Dieses Verständnis wird sowohl durch den Wortlaut als auch die mit dem Leistungsbeginn verbundene Zwecksetzung bestätigt. Der Begriff der Leistung und damit der ihres Beginns ist im Sinne einer zweckgerichteten Zuwendung auf die Erbringung einer Hilfe gegenüber einem Empfänger zugeschnitten. Hinsichtlich der Erbringung der Leistung ist maßgeblich auf den Leistungsempfänger, d.h. auf denjenigen abzustellen, der die Leistung erhält und dessen Interesse sie nach der Konzeption des Sozialgesetzbuches Achtes Buch zu dienen bestimmt ist. Leistungs- oder Hilfeempfänger ist danach das Kind oder der Jugendliche. Denn die Leistungserbringung ist - unabhängig von der Anspruchsinhaberschaft - stets auf das Kind oder den Jugendlichen ausgerichtet, dessen Wohl (vgl. § 1 Abs. 1 und 3 SGB VIII) Ausgangspunkt und Ziel jeder Jugendhilfemaßnahme ist (Urteil vom 12. Mai 2011 - BVerwG 5 C 4.10 - NVwZ-RR 2011, 768 Rn. 21).

22 Mit der Beantragung einer Leistung beginnt diese - insbesondere aus der Sicht des (potenziellen) Leistungsempfängers - noch nicht. Vielmehr wird damit regelmäßig nur die Prüfung durch das Jugendamt in Gang oder fortgesetzt, ob eine solche und - wenn ja - welche konkrete Leistung der Jugendhilfe zu gewähren ist. Gleiches gilt, wenn ein Jugendhilfeträger davon Kenntnis erlangt, dass ein jugendhilferechtlicher Bedarf besteht und infolgedessen seine Zuständigkeit und Leistungsverpflichtung prüft. Auch in diesem Fall ist die Leistungsgewährung (oder -versagung) erst das Ergebnis der Prüfung durch das Jugendamt.

23 Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts kann deshalb der Beginn der Leistung nicht mit dem Beginn des Verwaltungsverfahrens (im Sinne von § 18 SGB X) oder mit dem Zeitpunkt gleichgesetzt werden, zu dem eine Prüfung der örtlichen Zuständigkeit erstmals stattzufinden hat. Dem Argument für diese (und jede andere) „Vorverlagerung“, ansonsten könne eine verzögerte Behandlung des Falles durch das Jugendamt dazu führen, dass sich der zuständigkeitsbestimmende Zeitpunkt (etwa bei einem bevorstehenden Umzug der maßgeblichen Personen) verschieben lasse (vgl. Schindler, a.a.O. m.w.N.), vermag der Senat nicht zu folgen. Die Möglichkeit des Missbrauchs im Einzelfall kann es jedenfalls nicht rechtfertigen, dem Begriff des Leistungsbeginns generell einen mit seinem Wortlaut nicht zu vereinbarenden Sinn zuzuschreiben, zumal es für die Notwendigkeit einer derartig weiten Vorverlagerung des Leistungsbeginns auch in den Gesetzesmaterialien keinen Anhalt gibt (vgl. BTDrucks 12/2866 S. 22 ff.).

24 Ob für den Fall, dass eine objektive Verzögerung der Leistungsbewilligung bzw. eine im Anschluss an eine Bewilligung verzögerte tatsächliche Gewährung durch den Jugendhilfeträger feststellbar ist und dies zu einer anderen Zuständigkeit bzw. Kostenträgerschaft führen würde, von dem grundsätzlich maßgeblichen Zeitpunkt der tatsächlichen Leistungsgewährung eine Ausnahme zu machen ist, bedarf hier keiner Klärung. Ebenso wenig ist abschließend zu prüfen, ob als Einsetzen der Hilfegewährung und damit als Beginn der Leistung die Bewilligung bzw. der Zugang des Bewilligungsbescheids oder stets die tatsächliche Erbringung der Hilfe maßgeblich ist. Denn hier liegt ein Fall einer (die Zuständigkeit beeinflussenden) Verzögerung nicht vor. Vielmehr ist die am 25. März 2002 beantragte Hilfe zur Erziehung in Form der sozialpädagogischen Familienhilfe bereits ab dem 26. März 2002 tatsächlich erbracht worden.

25 b) Zu diesem Zeitpunkt des Beginns der Leistung war die Beigeladene der örtlich zuständige Jugendhilfeträger, ohne dass es auf die zwischen den Beteiligten umstrittene, aber vom Oberverwaltungsgericht in tatsächlicher Hinsicht nicht geklärte Frage ankommt, ob die Mutter der Kinder zu dieser Zeit noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Ehewohnung im Bereich der Beigeladenen hatte oder ob sie diesen - wovon das Verwaltungsgericht ausgegangen ist - bereits am 11. März 2002 durch einen Umzug nach M. aufgegeben und dort neu begründet hat.

26 Sofern mit dem Beklagten davon auszugehen wäre, dass die Mutter der Kinder zu dieser Zeit noch keinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, sondern ihren bisherigen gewöhnlichen Aufenthalt (in der Ehewohnung) im Zuständigkeitsbereich der beigeladenen Stadt noch bis zum 26. März 2002 beibehalten hat, ergäbe sich die örtliche Zuständigkeit der Beigeladenen für die Leistungsgewährung aus § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Denn dann hätten zu Beginn der Leistung noch beide Elternteile ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich der Beigeladenen gehabt.

27 Nimmt man dagegen an, dass die Mutter der Kinder bereits am 11. März 2002 oder jedenfalls noch vor dem 26. März 2002 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich der Beigeladenen aufgegeben und einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in M. begründet hat, so ergibt sich die örtliche Zuständigkeit der Beigeladenen für die ab 26. März 2002 gewährte Jugendhilfeleistung aus § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII. Danach richtet sich, wenn die Elternteile (bei Beginn der Leistung) verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben und ihnen - wie hier noch am 26. März 2002 - die Personensorge gemeinsam zusteht, die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Weil die vier Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt zuletzt bei dem in der Familienwohnung verbliebenen Vater hatten, ist dessen gewöhnlicher Aufenthalt für die örtliche Zuständigkeit maßgeblich und damit die Beigeladene örtlich zuständig.

28 1.2 Auch in der Folgezeit ist die örtliche Zuständigkeit - jedenfalls bis zum Ablauf des hier streitbefangenen Leistungszeitraums von Anfang 2004 bis Ende 2005 - nicht auf den Kläger oder den Beklagten übergegangen. Vielmehr ist die Beigeladene gemäß § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII zuständig geblieben. Nach dieser Regelung bleibt im Falle verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der Eltern nach Beginn der Leistung die bisherige Zuständigkeit bestehen, solange keinem Elternteil die elterliche Sorge zusteht. Ein Zuständigkeitswechsel ist hier weder dadurch eingetreten, dass den vier Kindern ab dem 18. Juli 2002 Hilfe zur Erziehung in Form der Heimunterbringung gewährt worden ist (a) und den Eltern an diesem Tag das Sorgerecht entzogen wurde (b), noch dadurch, dass der Vater der Kinder im Jahre 2003 seinen gewöhnlichen Aufenthalt zunächst in den Bereich des Klägers und dann in den des Beklagten verlegt hat (c).

29 a) Die Umstellung der Hilfe auf die Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung (§§ 27, 34 SGB VIII) hat als solche die Zuständigkeitsfrage nicht neu aufgeworfen. Denn dabei handelte es sich nicht um eine zuständigkeitsrechtlich andere oder neue Leistung.

30 Für den Begriff der „Leistung“ im Sinne von § 86 SGB VIII ist - wie bereits ausgeführt - eine Gesamtbetrachtung der verschiedenen Maßnahmen und Hilfen zugrunde zu legen, die zur Deckung eines qualitativ unveränderten jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlich sind. Dabei beginnt eine zuständigkeitsrechtlich „neue“ Leistung bei einer geänderten Hilfegewährung im Rahmen eines einheitlichen, ununterbrochenen Hilfeprozesses nicht allein deswegen, weil die geänderte oder neu hinzutretende Jugendhilfemaßnahme oder ein Teil davon einer anderen Nummer des § 2 Abs. 2 SGB VIII zugeordnet ist (Urteile vom 29. Januar 2004 a.a.O. S. 116, 123 f. und vom 25. März 2010 a.a.O. Rn. 22). Das gilt erst recht, wenn sich der Wechsel der Hilfeform innerhalb derselben Ziffer des § 2 Abs. 2 SGB VIII vollzieht. So liegt es hier, weil sowohl die bis zum 18. Juli 2002 gewährte Hilfe zur Erziehung in Form der sozialpädagogischen Familienhilfe als auch die seither gewährte Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung von § 2 Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII erfasst werden.

31 Eine Gesamtbetrachtung ergibt, dass die Beigeladene mit der Umstellung auf die Heimerziehung ab dem 18. Juli 2002 keine neue Leistung im vorgenannten Sinne gewährt hat, weil die neue Hilfe nahtlos an die bisherige anknüpfte und ein unveränderter jugendhilferechtlicher Bedarf bestand. Dieser Bedarf war nicht qualitativ neu oder verändert. An der tatsächlichen Lebenssituation der Kinder, die bis dahin noch bei dem mit der Erziehung überforderten Vater gelebt hatten, und ihrem Hilfebedarf hatte sich nichts geändert. Vielmehr war das Jugendamt der Beigeladenen zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorangehende Hilfe zur Erziehung in Form der sozialpädagogischen Familienhilfe nicht genügte, um diesen weiter bestehenden Bedarf zu decken.

32 b) Ein Zuständigkeitswechsel ist auch nicht dadurch eingetreten, dass den Eltern am 18. Juli 2002 das Sorgerecht entzogen worden ist. Die Eltern der Kinder hatten jedenfalls zu diesem Zeitpunkt - und damit nach Beginn der Leistung - verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründet (aa), so dass sich an der Zuständigkeit der Beigeladenen durch den Sorgerechtsentzug gemäß § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII nichts geändert hat (bb).

33 aa) Die Mutter der Kinder hatte - wovon auch die Beteiligten, wie in der mündlichen Verhandlung erörtert, übereinstimmend ausgehen - jedenfalls noch vor dem Entzug des Sorgerechts am 18. Juli 2002 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich der Beigeladenen aufgegeben und einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in M. begründet, während der Vater der Kinder mit diesen im Bereich der Beigeladenen verblieben war. Ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 86 SGB VIII hat eine Person an dem Ort oder in dem Gebiet, an oder in dem sie sich bis auf Weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen hat (stRspr, vgl. etwa Urteil vom 25. März 2010 a.a.O. Rn. 25). Über vier Monate nach ihrem Auszug aus der Ehewohnung am 11. März 2002 sprach nichts mehr dafür, dass der Aufenthalt der Mutter bei ihrem Freund in M. nur in der Weise als vorübergehend angelegt war, dass sie noch vorhatte, in die Familienwohnung oder sonst in den Bereich der Beigeladenen zurückzukehren.

34 bb) Der Entzug des elterlichen Sorgerechts nach Beginn der Leistung warf zwar die Zuständigkeitsfrage neu auf; er führte aber dazu, dass die Zuständigkeit der Beigeladenen gemäß § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII bestehen blieb.

35 Nach der Rechtsprechung des Senats erfasst § 86 Abs. 5 SGB VIII alle Fallgestaltungen, in denen die Eltern nach Leistungsbeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen (Urteile vom 30. September 2009 - BVerwG 5 C 18.08 - BVerwGE 135, 58 <Rn. 22 ff.>, vom 9. Dezember 2010 - BVerwG 5 C 17.09 - DVBl 2011, 236 ff. = NVwZ-RR 2011, 203 ff. Rn. 21 und vom 12. Mai 2011 a.a.O. Rn. 17). Der Anwendungsbereich des § 86 Abs. 5 SGB VIII ist dabei nicht auf Fälle beschränkt, in denen die Eltern erstmals nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen und gegebenenfalls im Anschluss daran ihren Aufenthalt unter Aufrechterhaltung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte erneut verändern. Vielmehr greift die Vorschrift des § 86 Abs. 5 SGB VIII entsprechend ihrem Charakter als umfassende Regelung für verschiedene gewöhnliche Aufenthalte der Eltern nach Leistungsbeginn auch ein, wenn die Eltern bereits vor bzw. bei Leistungsbeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben und solche während des Leistungsbezugs beibehalten. Satz 1 ist dabei anwendbar, wenn die elterliche Sorge einem Elternteil zusteht, Satz 2 regelt die Fälle gemeinsamer oder fehlender Personensorge. Die zeitliche Abfolge der zuständigkeitsrelevanten Kriterien („Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte“ oder „gemeinsame oder fehlende Personensorge beider Elternteile“) hat auf die Bestimmung der Zuständigkeit nach § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII keinen Einfluss.

36 Nach diesen Grundsätzen kommt es für die Anwendbarkeit des § 86 Abs. 5 SGB VIII hier nicht darauf an, ob die Eltern der vier Kinder bereits vor Leistungsbeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten oder ob sie diese erst danach begründeten. Weil es sich bei dem Entzug des Sorgerechts am 18. Juli 2002 um eine Veränderung nach Beginn der Leistung handelt, ist nicht mehr die Regelung des § 86 Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII anzuwenden, bei der es auf die Zeit vor Beginn der Leistung ankommt, sondern die grundsätzlich für alle Fallgestaltungen nach Leistungsbeginn heranzuziehende Regelung des § 86 Abs. 5 SGB VIII. Da beiden Elternteilen das Sorgerecht entzogen wurde, greift Satz 2 dieser Vorschrift ein. Dies hat zur Folge, dass die bisherige Zuständigkeit der Beigeladenen, die sich bis zum Sorgerechtsentzug aus § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII ergab, bestehen geblieben ist.

37 Nach der Rechtsprechung des Senats endet die durch den beiderseitigen Sorgerechtsentzug nach Beginn der Leistung bedingte Anwendbarkeit des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII erst, wenn einem der Elternteile wieder die elterliche Sorge übertragen wird (dann wäre bei verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalten der Eltern nach Leistungsbeginn § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII anzuwenden), wenn die Leistung eingestellt oder eine zuständigkeitsrechtlich neue Leistung gewährt wird (und deshalb bei verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalten der Eltern wiederum eine neue, auf die Zeit vor Beginn dieser Leistung abstellende Zuständigkeitsprüfung nach § 86 Abs. 2 bzw. Abs. 3 SGB VIII vorzunehmen ist) oder wenn die Eltern nach Leistungsbeginn (erneut) einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt begründen und damit § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII als Zuständigkeitsregelung, die sowohl für die Zeit vor als auch nach Beginn der Leistung einschlägig ist, zur Anwendung gelangt (vgl. Urteile vom 30. September 2009 a.a.O. Rn. 24, vom 9. Dezember 2010 a.a.O. Rn. 22 ff. und vom 12. Mai 2011 a.a.O. Rn. 25 f.).

38 An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest (vgl. ablehnend, aber maßgeblich zu anderen Fallgestaltungen Eschelbach, JAmt 2011, 233 und Jung, JAmt 2011, 383). Gerade in Fällen, in denen - wie hier - die Erziehungsverantwortung infolge des Entzugs der elterlichen Sorge nicht mehr bei den Eltern liegt (vgl. § 1626 Abs. 1, § 1631 Abs. 1 BGB), besteht keine Notwendigkeit mehr, die örtliche Zuständigkeit weiterhin an den (künftigen) gewöhnlichen Aufenthalt eines Elternteils zu binden und sie mit diesem „mitwandern“ zu lassen. Für eine Festschreibung der Zuständigkeit am letzten Aufenthaltsort der Eltern bzw. des maßgeblichen Elternteils spricht in diesen Fällen auch, dass in der Praxis häufig - wie auch im vorliegenden Fall - das dortige Jugendamt nach Entzug des Sorgerechts zum Vormund bestellt wird. Im Übrigen ist, worauf der Senat ebenfalls bereits hingewiesen hat (Urteil vom 30. September 2009 a.a.O. Rn. 26) nach gegenwärtiger Gesetzeslage eine für alle Fallgestaltungen gleichermaßen gerecht erscheinende Zuständigkeits- und Kostenverteilung durch Auslegung des § 86 SGB VIII nicht zu erreichen.

39 c) Der Umzug des Vaters der Kinder in den Zuständigkeitsbereich des Klägers am 15. März 2003 und die damit verbundene Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts hat nicht zu einem Wechsel der Zuständigkeit auf den Kläger geführt. Da die Personensorge zum Zeitpunkt des Umzugs des Vaters keinem Elternteil zustand, blieb nach § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII die bisherige Zuständigkeit bestehen. Mit der „bisherigen Zuständigkeit“ im Sinne dieser Vorschrift ist die Zuständigkeit gemeint, die vor dem Zeitpunkt, zu dem eine Prüfung und gegebenenfalls Neubestimmung der örtlichen Zuständigkeit veranlasst ist, zuletzt bestanden hat.

40 Auch der Umstand, dass der Vater im November 2003 im Zuständigkeitsbereich des Beklagten einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, ändert daran nichts. Als Folge der Festschreibung („solange…“) der bisherigen Zuständigkeit der Beigeladenen nach § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII ist auch diese zeitlich nachfolgende Aufenthaltsänderung des Vaters der Hilfeempfänger zuständigkeits- und damit auch kostenerstattungsrechtlich unbeachtlich.

41 2. Ein Kostenerstattungsanspruch des Klägers gegen den Beklagten ergibt sich auch nicht aus § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X.

42 Zwar hat der Kläger - wie es diese Vorschrift voraussetzt - als unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, weil im streitbefangenen Zeitraum nicht er, sondern die Beigeladene für die Erbringung der Jugendhilfeleistung örtlich zuständig war. Ein Erstattungsanspruch des Klägers aus § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X scheidet jedoch aus, weil der Beklagte - wie dargelegt - in diesem Zeitraum nicht für die Leistungserbringung zuständig gewesen ist.

43 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, weil dies nicht der Billigkeit gemäß § 162 Abs. 3 VwGO entspricht. Die Beigeladene hat keinen Sachantrag gestellt und sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO). Gerichtskostenfreiheit besteht nach § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht.