Beschluss vom 17.07.2002 -
BVerwG 7 B 48.02ECLI:DE:BVerwG:2002:170702B7B48.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 17.07.2002 - 7 B 48.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2002:170702B7B48.02.0]

Beschluss

BVerwG 7 B 48.02

  • VG Chemnitz - 15.11.2001 - AZ: VG 9 K 589/96

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Juli 2002
durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts
Dr. F r a n ß e n und die Richter am Bundesverwaltungs-
gericht K l e y und H e r b e r t
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 15. November 2001 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 120 665 € festgesetzt.

Die Klägerin wendet sich gegen einen Änderungsbescheid des Beklagten, mit dem er einen von ihm erlassenen Widerspruchsbescheid zurückgenommen und die vermögensrechtliche Berechtigung der Rechtsvorgängerin des Beigeladenen festgestellt hat. Das Verwaltungsgericht hat der Anfechtungsklage der am Restitutionsverfahren nicht beteiligten Klägerin gegen den Änderungsbescheid stattgegeben. Die Revision gegen sein Urteil hat es nicht zugelassen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beigeladenen hat keinen Erfolg.
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Beschwerde hält für klärungsbedürftig, "ob das Ermessen der Behörde bei der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes gemäß § 48 Abs. 1 VwVfG grundsätzlich 'auf Null' reduziert ist, soweit sie einen begründeten Widerspruch wegen Verfristung als unzulässig zurückgewiesen hat und nachträglich ... erkennt, dass ihr bei der Fristberechnung ein Fehler unterlaufen ist". Das Beschwerdevorbringen zielt auf die entscheidungstragende Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass der Änderungsbescheid rechtswidrig sei, weil der Beklagte von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen sei und damit entgegen § 48 Abs. 1 VwVfG kein Ermessen ausgeübt habe. Ob die dabei vom Verwaltungsgericht vorausgesetzte Annahme zutrifft, dass die Widerspruchsbehörde zur Rücknahme ihres Widerspruchsbescheids befugt war, erscheint zwar fraglich (vgl. Beschluss vom 19. Juni 2000 - BVerwG 7 B 8.00 - Buchholz 428 § 37 VermG Nr. 27); insoweit macht die Beschwerde jedoch aus nahe liegenden Gründen keinen Zulassungsgrund geltend. Die von ihr aufgeworfene Frage rechtfertigt jedenfalls nicht die Zulassung der Revision, weil sie sich, soweit sie auf die Auslegung des § 48 Abs. 1 VwVfG zielt, anhand der dazu ergangenen Rechtsprechung ohne weiteres beantworten lässt. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt zurückgenommen werden. Die Rücknahme steht hiernach also im Ermessen der zuständigen Behörde. Das entspricht dem Zweck der Regelung, im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände einen sachgerechten Ausgleich zwischen dem einer Aufhebung entgegenstehenden Rechtssicherheitsinteresse und dem einer Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Verwaltungsakts zuwiderlaufenden Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu ermöglichen.
Einer solchen Abwägung der für und gegen die Rücknahme sprechenden Gründe bedarf es ausnahmsweise dann nicht, wenn jede andere Entscheidung als eine Aufhebung des Verwaltungsakts rechtswidrig, die Ablehnung der Rücknahme also durch keinerlei tragfähige Umstände zu rechtfertigen wäre. Allein die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts und die Kenntnis der Behörde von den zur Rücknahme berechtigenden Voraussetzungen reicht für die Annahme einer Ermessensreduktion auf eine einzige Alternative jedoch schon deswegen nicht aus, weil andernfalls die Rechtsbehelfsfristen unterlaufen und damit die Bestandskraft des Verwaltungsakts der Sache nach aufgelöst würde. Aus diesem Grund muss auch ein Verwaltungsakt, der unter behördlicher Verkennung der Fristvorschriften einen Rechtsbehelf als unzulässig verworfen und von einer sachlichen Prüfung des geltend gemachten Anspruchs abgesehen hat, nicht immer und notwendigerweise aufgehoben werden. Auch der Rücknahme eines derart rechtswidrigen Verwaltungsakts können vertretbare Ermessensgesichtspunkte entgegenstehen, z.B. der Zeitablauf, ein schutzwürdiges Interesse Dritter an dessen Bestand oder der Umfang der damit verbundenen Belastung des Betroffenen. Ob das Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Urteil eine Ermessensreduktion auf Null zu Recht verneint hat, ist eine Frage des Einzelfalls, die für eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung ohne Belang ist.
Die in der Beschwerdeerwiderung des Beklagten aufgeworfene Frage ist für die Zulassung der Revision schon deswegen unerheblich, weil der Beklagte selbst keine Beschwerde eingelegt hat.
2. Die Revision ist auch nicht wegen der von der Beschwerde geltend gemachten Verfahrensfehler zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Die Rüge, das Verwaltungsgericht habe unter Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht den genannten Ermessensfehler angenommen sowie eine Verwirkung des Klagerechts der Klägerin verneint, liegt neben der Sache. Behördliche Erklärungen sind in entsprechender Anwendung des § 133 BGB unter Berücksichtigung ihres Wortlauts, erkennbarer Begleitumstände und der Verständnismöglichkeit des Empfängers nach einem objektiven Maßstab auszulegen. Entscheidend ist nicht die Ermittlung des inneren Willens der Behördenbediensteten, sondern der durch normative Auslegung zu ermittelnde objektive Erklärungswert ihres Handelns. Darum musste es sich dem Verwaltungsgericht - anders als die Beschwerde meint - nicht aufdrängen, die Mitglieder des Widerspruchsausschusses zur Frage der Ermessensausübung sowie den zuständigen Sachbearbeiter der Klägerin und den früheren Verfahrensbevollmächtigten des Beigeladenen zum aktenkundigen Inhalt der die Auszahlung des Veräußerungserlöses betreffenden Erklärungen zu vernehmen. Die Auslegung solcher Erklärungen durch das Tatsachengericht kann das Bundesverwaltungsgericht nur darauf überprüfen, ob allgemeine Erfahrungssätze, Denkgesetze oder verbindliche Auslegungsregeln verletzt sind. Abgesehen davon, dass diese Grundsätze dem materiellen Recht zugeordnet sind und deswegen die Verfahrensrüge regelmäßig nicht eröffnen, macht die Beschwerde Verstöße dieser Art nicht geltend.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 13 Abs. 1 Satz 1 und § 73 Abs. 1 Satz 2 GKG.