Verfahrensinformation

Die Klägerin ist nigerianische Staatsangehörige, sie hat eine nach Einreise in Deutschland im Oktober 2002 geborene Tochter. Der Asylantrag der Klägerin wurde bestandskräftig als offensichtlich unbegründet abgelehnt; ebenso wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen für einen Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht vorliegen. Das Verwaltungsgericht hat der Klägerin Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG gewährt: Es vermochte nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass die Tochter der Klägerin "schwersten, insbesondere gesundheitlichen Gefahren" ausgesetzt sein könne, wenn sie als hilfloses kleines Kind mit ihrer Mutter nach Nigeria zurückkehren müsste. Der Verwaltungsgerichtshof hat demgegenüber die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 AuslG verneint. Die Grundsatzrevision soll der Klärung der Frage dienen, ob der Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG ein Individualrecht ist, das nur mit Umständen begründet werden kann, die dem Ausländer selbst im Zielland der Abschiebung drohen oder ob im Wege einer "Gesamtbetrachtung" auch etwaige einem Kind des Ausländers drohende Gefahren einzubeziehen sind.


Pressemitteilung Nr. 30/2004 vom 16.06.2004

Abschiebungsschutz für Kleinkind erfordert individuelles Verfahren

Abschiebungsschutz nach § 53 Absatz 6 Ausländergesetz (AuslG) kann auch im Familienverband nur wegen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit gewährt werden, die dem einzelnen Familienmitglied selbst im Zielland der Abschiebung drohen. Beruft sich die Mutter eines Kleinkindes auf dessen Schutzbedürfnis, muss dies in einem eigenständigen Verfahren des Kindes geprüft werden. Ein ausschließlich zugunsten der Mutter eingeleitetes Verfahren reicht hierfür nicht. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschieden.


Der Entscheidung des Gerichts lag der Fall einer 33jährigen Nigerianerin zugrunde, die nach Einreise nach Deutschland im Oktober 2002 eine Tochter zur Welt brachte. Den Antrag der Nigerianerin auf Gewährung von Asyl und Abschiebungsschutz lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ab und drohte ihr die Abschiebung nach Nigeria an. Einen Antrag auf Gewährung von Abschiebungsschutz für ihre Tochter stellte die Ausländerin nicht. Auf ihre Klage gegen die ablehnende Behördenentscheidung gewährte ihr das Verwaltungsgericht Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG und begründete dies mit dem Schutzbedürfnis für ihre Tochter. Mutter und Tochter wurden vom erstinstanzlichen Gericht im Hinblick auf den begehrten Abschiebungsschutz als Einheit gesehen. Dem sind der Bayerische Verwaltungsgerichtshof und nunmehr auch das Bundesverwaltungsgericht entgegen getreten.


Das Bundesverwaltungsgericht hält an seiner Rechtsprechung fest, dass Abschiebungshindernisse wegen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit eines Ausländers nach § 53 Abs. 6 AuslG individuelle Rechtspositionen darstellen, die auch im Familienverband für jedes Familienmitglied gesondert zu prüfen sind. Dadurch entsteht selbst für von der Mutter abhängige Kleinkinder keine Schutzlücke. Liegt bei einem Kind ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG vor, kann dies in einem eigenständigen Verfahren geltend gemacht werden. Würde ein solches Abschiebungshindernis für die Tochter der Klägerin festgestellt - was bisher nicht der Fall ist - wäre dies von der Ausländerbehörde bei ihrer Entscheidung über die Abschiebung der ausreisepflichtigen Mutter zu berücksichtigen. Die grundrechtlich geschützte Familieneinheit ist dann ein wesentlicher Gesichtspunkt, der der Abschiebung der Mutter entgegensteht.


BVerwG 1 C 27.03 - Urteil vom 16.06.2004


Urteil vom 16.06.2004 -
BVerwG 1 C 27.03ECLI:DE:BVerwG:2004:160604U1C27.03.0

Leitsatz:

Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG kann nur bei Gefahren gewährt werden, die dem Ausländer selbst im Abschiebezielstaat drohen. Das Schutzbedürfnis eines nahen Familienangehörigen (hier: Tochter) führt nicht zu einer eigenen Rechtsposition des Ausländers nach § 53 Abs. 6 AuslG.

Urteil

BVerwG 1 C 27.03

  • VGH München - 29.09.2003 - AZ: VGH 1 B 03.30247 -
  • Bayerischer VGH München - 29.09.2003 - AZ: VGH 1 B 03.30247

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juni 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht H u n d und R i c h t e r , die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 29. September 2003 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

I


Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass ihrer Abschiebung nach Nigeria Hindernisse gemäß § 53 Abs. 6 AuslG entgegenstehen.
Die 1971 geborene Klägerin ist nigerianische Staatsangehörige. Nach ihren Angaben reiste sie im Januar 2002 nach Deutschland ein. Sie hat eine im Oktober 2002 in Deutschland geborene Tochter. Ihren Asylantrag lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 19. Februar 2002 als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht gegeben sind und dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Zugleich drohte es ihr die Abschiebung nach Nigeria an.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht das Bundesamt mit Urteil vom 13. Januar 2003 zur Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG verpflichtet. Im Übrigen hat es die gegen den Bescheid des Bundesamtes gerichtete Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, der Klägerin sei wegen ihrer im Oktober 2002 in Deutschland geborenen Tochter Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren. Zwar sei die Tochter nicht Partei des Verfahrens. Die Klägerin und ihre Tochter seien im Hinblick auf die Gewährung von Abschiebungsschutz aber als Einheit anzusehen. Angesichts der schwierigen Verhältnisse, denen allein stehende Frauen in Nigeria ausgesetzt seien, erscheine es zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke gerechtfertigt, der Klägerin - und damit auch ihrer Tochter - Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren. Es lasse sich nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass die Tochter als hilfloses kleines Kind schwersten, insbesondere gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt würde, wenn sie mit ihrer Mutter nach Nigeria zurückkehren müsste.
Auf die Berufung der Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat er ausgeführt, die Klägerin habe keinen eigenen Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG. Es sei nicht zu befürchten, dass sie persönlich bei einer Rückkehr nach Nigeria einer extremen Gefahrensituation ausgesetzt sein würde, die geeignet wäre, die Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG zu überwinden. Da es um ein Individualrecht gehe, könne die Klägerin für sich auch keinen Abschiebungsschutz aus Gründen erhalten, die ihre Tochter beträfen.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision. Die angefochtene Entscheidung verletze ihre Rechte aus Art. 2 GG, da sie als allein erziehende Mutter mit einer nichtehelichen kleinen Tochter in Nigeria besonderen Schwierigkeiten beim Finden einer Unterkunft und Arbeit ausgesetzt und nicht auszuschließen sei, dass ihrer Tochter dort schwerste gesundheitliche Gefahren drohten.
Die Beklagte verteidigt die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs.

II


Die Revision ist unbegründet. Das angefochtene Urteil steht mit Bundesrecht im Einklang (§ 137 Abs. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat mit Recht einen Anspruch der Klägerin auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG verneint.
Das Berufungsgericht hat einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Abschiebungsschutz deshalb versagt, weil nicht zu befürchten sei, dass sie persönlich bei einer Rückkehr nach Nigeria einer individuellen konkreten Gefahr im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG oder einer extremen allgemeinen Gefahrensituation ausgesetzt sein würde, die geeignet wäre, die Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG zu überwinden. Gegen die dieser Bewertung zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen hat die Revision keine Einwände erhoben (§ 137 Abs. 2 VwGO). Soweit sie sich darauf beruft, dass die Klägerin als allein stehende Mutter mit einer nichtehelichen kleinen Tochter besonderen existenziellen Schwierigkeiten ausgesetzt sei, vermag dies jedenfalls ein Abschiebungsverbot nach § 53 Abs. 6 AuslG nicht zu begründen. Ein solches setzt voraus, dass die Klägerin im Falle ihrer Abschiebung nach Nigeria gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde (vgl. Urteil vom 12. Juli 2001 - BVerwG 1 C 5.01 - BVerwGE 115, 1 <7> m.w.N.). Eine derartige extreme Gefährdung der Klägerin hat das Berufungsgericht indes gerade nicht festgestellt.
Mit Recht ist das Berufungsgericht auch zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG nicht wegen Gefährdungen erlangen kann, die ihre Tochter betreffen. Der Anspruch auf Schutzgewährung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG begründet eine individuelle Rechtsposition, die nur auf Gefahren gestützt werden kann, die dem Ausländer selbst drohen. Das Berufungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass schon nach dem Wortlaut des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG Abschiebungsschutz nur gewährt werden kann, wenn eine Gefahr "für diesen Ausländer" besteht. Auch der Zweck der gesetzlichen Regelungen zielt auf den Schutz vor individuell-konkreten Gefahren, die dem betroffenen Ausländer selbst im Zielland seiner Abschiebung drohen (vgl. Gesetzesbegründung der Bundesregierung zu § 53 Abs. 6 AuslG, BTDrucks 11/6321 S. 75; Urteil vom 11. November 1997 - BVerwG 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322 <325>). Deshalb vermag - auch schon nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - eine Gefährdung von Kindern kein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG für die Eltern zu begründen (Urteil vom 8. November 1999 - BVerwG 9 C 13.99 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 26; Beschluss vom 27. April 2000 - BVerwG 9 B 153.00 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 35). Eine lediglich vom Recht eines nahen Familienangehörigen auf Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG abgeleitete Berechtigung, ebenfalls Abschiebungsschutz nach dieser Vorschrift zu erhalten, gibt es nicht. Sie lässt sich namentlich nicht aus einer entsprechenden Anwendung der Regelung des Familienasyls in § 26 AsylVfG herleiten (so zum Abschiebungsschutz nach § 51 AuslG: Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 1.94 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 173 S. 20; allgemein zu § 53: Treiber, in: GK-AuslR § 53 Rn. 121.1). Denn es besteht - anders als die Revision meint - keine verfassungswidrige Schutzlücke. Liegt bei einem Kind ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG vor, so kann und muss dies in einem gesonderten Verfahren für das Kind geltend gemacht werden. Würde ein solches Abschiebungshindernis hier für die Tochter der Klägerin festgestellt - was bisher nicht der Fall ist -, wäre dies von der Ausländerbehörde bei ihrer Entscheidung über den Vollzug der Abschiebung der Klägerin zu berücksichtigen (vgl. Urteil vom 8. November 1999, a.a.O., S. 34; Urteil vom 9. Dezember 1997 - BVerwG 1 C 19.96 - BVerwGE 106, 13 <16 f.>). Der Schutz der Familieneinheit nach Art. 6 Abs. 1 GG wäre dann ein wesentlicher Gesichtspunkt, der der Abschiebung der Klägerin entgegenstehen könnte. Einer Erweiterung des Schutzbereiches des § 53 Abs. 6 AuslG bedarf es insofern nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 83 b Abs. 2 AsylVfG.