Beschluss vom 14.07.2004 -
BVerwG 9 B 99.03ECLI:DE:BVerwG:2004:140704B9B99.03.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 14.07.2004 - 9 B 99.03 - [ECLI:DE:BVerwG:2004:140704B9B99.03.0]

Beschluss

BVerwG 9 B 99.03

  • VGH Baden-Württemberg - 26.06.2003 - AZ: VGH 2 S 81/03

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 14. Juli 2004
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S t o r o s t ,
Prof. Dr. R u b e l und Prof. Dr. E i c h b e r g e r
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 26. Juni 2003 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 053,46 € festgesetzt.

Die Beschwerde ist zulässig, jedoch unbegründet. Die zu ihrer Begründung angeführten Gesichtspunkte rechtfertigen die Zulassung der Revision nicht.
1. Ein für das angefochtene Urteil erheblicher Verfahrensmangel, der zur Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO führen könnte, ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen nicht.
Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Einhaltung der daraus entstehenden verfahrensmäßigen Verpflichtungen ist nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter eine aus seiner Sicht fehlerhafte Verwertung des vorliegenden Tatsachenmaterials rügt, aus dem er andere Schlüsse ziehen will als das angefochtene Urteil. Denn damit wird ein (vermeintlicher) Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung angesprochen. Solche Fehler sind revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen und können einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO deshalb grundsätzlich nicht begründen (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 18 f.). Eine Ausnahme hiervon kommt allerdings bei einer aktenwidrigen, gegen die Denkgesetze verstoßenden oder sonst von objektiver Willkür geprägten Sachverhaltswürdigung in Betracht (vgl. BVerwGE 84, 271 ff.; Beschlüsse vom 2. November 1995 a.a.O., vom 3. April 1996 - BVerwG 4 B 253.95 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 269 und vom 19. November 1997 - BVerwG 4 B 182.97 - Buchholz 406.11 § 153 BauGB Nr. 1). Bei der Beurteilung, ob die gerichtliche Sachverhaltswürdigung hier an einem solchen (Verfahrens-)Mangel leidet, ist von der materiellrechtlichen Auffassung des Berufungsgerichts auszugehen, dass eine Änderung des für eine Erschließungsstraße maßgeblichen Bauprogramms nur in der Form erfolgen könne, in der das Bauprogramm aufgestellt worden ist, und dass wie die Aufstellung des Bauprogramms auch dessen Änderung durch das dafür zuständige Gemeindeorgan zu erfolgen habe. Ausgehend davon hat das Berufungsgericht den von ihm festgestellten Sachverhalt dahin gewürdigt, dass das dem Ortsbauplan "B." von 1962 zu entnehmende Bauprogramm für den Ausbau der L. Straße in der Zeit bis 1971 nicht geändert worden sei, weil die - in jenem Zeitraum zahlreich festzustellenden - Beschlüsse des Gemeinderats erkennbar nicht auf eine Änderung dieses Bauprogramms ausgerichtet gewesen seien, sondern sich nur mit dem technischen Ausbau befasst hätten.
Soweit der Kläger hierin einen Verstoß gegen Denkgesetze sieht, kann ihm nicht gefolgt werden. Von einem solchen Verstoß kann nur dann gesprochen werden, wenn das Gericht einen Schluss gezogen hat, der schlechterdings nicht gezogen werden kann, nicht dagegen schon dann, wenn eine Schlussfolgerung nicht zwingend oder nicht überzeugend oder sogar unwahrscheinlich sein sollte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1996 - BVerwG 8 B 98.96 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 270 m.w.N.). Dass die Sachverhaltswürdigung des Berufungsgerichts in diesem Sinne schlechterdings unhaltbar ist, ist nicht ersichtlich. Der Kläger behauptet selbst nicht, es gebe eine ausdrückliche Erklärung des Gemeinderats über eine Änderung des Bauprogramms in dem genannten Zeitraum. Er hält lediglich die Annahme für zwingend, dass es im Jahre 1967 für die Billigung der damals durchgeführten, von einem Bauunternehmen angebotenen Baumaßnahmen eine Beschlussfassung gegeben haben müsse, die nicht mehr auffindbar sei. Dass diese Beschlussfassung auf die Änderung des Bauprogramms ausgerichtet gewesen sein muss, ergibt sich daraus jedoch nicht. Vielmehr hält der Kläger den Schluss für geboten, es liege ein Fall der Unaufklärbarkeit einer entscheidungserheblichen Tatsache vor, während das Berufungsgericht zu Unrecht angenommen habe, der Gemeinderat habe keine Änderung des Bauprogramms beschlossen.
Diese Ansicht geht jedoch fehl. Die Annahme des Berufungsgerichts beruht auf seinen tatsächlichen Feststellungen über den Inhalt der zahlreichen ihm vorgelegten Beschlüsse des Gemeinderats zu Ausbaumaßnahmen an der in Rede stehenden Straße und auf seiner tatrichterlichen Würdigung, dass diese "Beschlusslage" keine Anhaltspunkte dafür erkennen lasse, dass der Gemeinderat der Rechtsvorgängerin der Beklagten eine Änderung des Bauprogramms beschlossen habe. Die denkgesetzliche Eignung dieser Indizien, die genannte Annahme innerhalb des durch § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO gezogenen Rahmens freier Beweiswürdigung zu tragen, wird nicht schon dadurch in Frage gestellt, dass der Kläger die abstrakte Möglichkeit aufzeigt, aus einem weiteren, jedoch nicht mehr auffindbaren Indiz könnten sich Anhaltspunkte für die gegenteilige Annahme ergeben.
2. Eine die Revisionszulassung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO rechtfertigende Abweichung des angefochtenen Urteils von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen ebenfalls nicht. Eine solche Abweichung liegt nur dann vor, wenn sich das Berufungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einem in der angezogenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Widerspruch gesetzt hat (stRspr; vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 21. Juli 1988 - BVerwG 1 B 44.88 - Buchholz 130 § 8 RuStAG Nr. 32 und vom 12. Dezember 1991 - BVerwG 5 B 68.91 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 302). Daran fehlt es hier.
Der dem angefochtenen Urteil entnommene Rechtssatz, ein Beweis für die Änderung eines vorhandenen Bauprogramms mit der Folge der endgültigen Herstellung einer Erschließungsanlage schon vor dem Zeitpunkt, den die Gemeinde aufgrund des vorhandenen Bauprogramms als maßgeblich angesehen hat, werde nicht im Wege der Beweislastverteilung der Gemeinde aufgegeben werden dürfen, sondern obliege dem Grunde nach dem eine solche Änderung einwendenden Kläger, war für das Urteil nicht tragend. Denn das Berufungsgericht hat seine Entscheidung in erster Linie darauf gestützt, dass aufgrund der von ihm vorgenommenen Beweiswürdigung keine Ungewissheit darüber bestehe, dass das dem Ortsbauplan "Birkfeld" von 1962 zu entnehmende Bauprogramm bis zu den der Beitragserhebung zugrunde gelegten Baumaßnahmen im Jahre 1996/1997 maßgeblich war. Unter diesen Umständen kam es auf die Beweislastverteilung, die einen Fall der Unaufklärbarkeit entscheidungserheblicher Tatsachen und damit hier eine Ungewissheit über das maßgebliche Bauprogramm voraussetzt, nicht an.
3. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt auch nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Dieser Zulassungsgrund liegt vor, wenn für die Entscheidung des Berufungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechtsfrage von Bedeutung war, deren noch ausstehende höchstrichterliche Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (vgl. BVerwGE 13, 90 <91 f.>). Die vom Kläger in der Beschwerdebegründung bezeichneten Fragen erfüllen diese Anforderungen nicht.
a) Die zunächst aufgeworfene Frage,
wer die materielle Beweislast dafür trägt, dass ein (weiteres) abänderndes Programm existiert, das ein bestehendes Bauprogramm abändert,
war für die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht von Bedeutung. Denn dieses hat - wie dargelegt - eine Ungewissheit über die Maßgeblichkeit des Bauprogramms von 1962 verneint und angenommen, dieses Bauprogramm sei vor dem von der Beklagten zugrunde gelegten Zeitpunkt nicht geändert worden. Unter diesen Umständen kam es auf die Beweislastverteilung nicht an.
b) Die vom Kläger weiter gestellte Frage,
ob eine jahrzehntelange Untätigkeit einer Gemeinde (nach Durchführung von Baumaßnahmen zur Herstellung einer funktionstüchtigen Erschließungsstraße) die Vermutung begründet, die Gemeinde habe die ursprüngliche Baumaßnahme als eine ihrem Willen entsprechende endgültige Herstellung der Erschließungsanlage angesehen,
war für die Entscheidung des Berufungsgerichts ebenfalls nicht von Bedeutung. Es ging im vorliegenden Fall weder um die im mit der Beschwerde in Bezug genommenen Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Mai 1971 - III A 160/69 - (Gemeindetag 1971, S. 356 f.) erörterte Frage, ob der jahrzehntelange unveränderte Zustand einer Straße eine (widerlegbare) Vermutung dafür begründen kann, dass er nach dem damaligen Willen der Gemeinde die "erste Einrichtung" im Sinne des § 15 des preußischen Fluchtliniengesetzes vom 2. Juli 1875 (GS S. 561) bilden sollte, noch um die sich bei Ungewissheit über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB möglicherweise stellende Frage, ob aus dem Zeitablauf nach Durchführung von Baumaßnahmen eine (widerlegbare) Vermutung für die Erfüllung eines (im Übrigen nicht ermittelten) Bauprogramms abgeleitet werden kann. Vielmehr ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass der Gemeinderat im Ortsbauplan "B." hier ein Bauprogramm aufgestellt hatte, das nur durch einen Gemeinderatsbeschluss hätte geändert werden können; ein solcher Beschluss sei jedoch nicht ergangen. Auf die Frage, ob der Kläger sich bei im Übrigen nicht ermitteltem Bauprogramm oder bei Ungewissheit über dessen Änderung auf eine durch Zeitablauf begründete Vermutung hätte berufen können, kam es hiernach nicht an. Abgesehen davon wäre eine solche Vermutung nach der vom Berufungsgericht vorgenommenen Beweiswürdigung hier als widerlegt anzusehen.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung aus § 13 Abs. 2, § 14 GKG a.F.