Beschluss vom 10.05.2006 -
BVerwG 8 B 70.05ECLI:DE:BVerwG:2006:100506B8B70.05.0

Beschluss

BVerwG 8 B 70.05

  • VG Halle - 21.04.2005 - AZ: VG 1 A 260/02 HAL

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. Mai 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Gödel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Pagenkopf und die Richterin
am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hauser
beschlossen:

  1. Die Beschwerden des Beklagten und der Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Halle vom 21. April 2005 werden zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte und die Beigeladenen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte mit Ausnahme ihrer außergerichtlichen Kosten, die sie selbst tragen.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 500 000 € festgesetzt.
  4. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Halle vom 21. April 2005 wird dahin abgeändert, dass der Wert des Streitgegenstandes für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht auf 500 000 € festgesetzt wird.

Gründe

1 Die Beschwerden bleiben ohne Erfolg. Das angegriffene Urteil beruht weder auf Verfahrensmängeln (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), noch auf der geltend gemachten Divergenz zu Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).

2 1. Die von den Beschwerdeführern erhobenen Verfahrensrügen sind teilweise unzulässig, im Übrigen unbegründet.

3 a) Der von der Beklagten und den Beigeladenen gerügte Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) liegt nicht vor.

4 Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist das Gericht verpflichtet, bei der Bildung der Überzeugung von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt auszugehen (stRspr; Urteil vom 18. Juli 1986 - BVerwG 4 C 40 - 45.82 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 181 S. 73; Urteil vom 18. Mai 1990 - BVerwG 7 C 3.90 - BVerwGE 85, 155 <158>). Nimmt das Gericht bei der Bewertung der für die Feststellung des Sachverhalts maßgebenden Umstände einzelne erhebliche Tatsachen oder Beweisergebnisse nicht zur Kenntnis oder bezieht es diese nicht in seine Erwägungen ein, ist hierin ein Verfahrensverstoß zu erblicken (vgl. Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <208 f.>). Von einer derartigen Außerachtlassung wesentlicher Umstände kann hier keine Rede sein. Es ist nicht ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht die in den Beschwerden benannten Schreiben der Jahre 1949 bis 1951 bei seiner Überzeugungsbildung unzureichend zur Kenntnis nahm. Hiergegen spricht schon der Umstand, dass der Schriftwechsel der damaligen Zeit von den Beteiligten im Verwaltungsstreitverfahren umfassend erörtert und dargelegt wurde. Die in den Beschwerdebegründungen benannten Schreiben haben hierbei mehrfache Erwähnung und inhaltliche Erörterung gefunden. Dementsprechend hat das Verwaltungsgericht auch ihre Existenz im Tatbestand des angefochtenen Urteils festgestellt (S. 3 UA unten). Dass es in den Entscheidungsgründen nicht weiter auf sie eingeht, folgt aus seiner materiellrechtlichen Auffassung, wonach es für die faktische Enteignung darauf ankomme, ob sich der Eigentümer auf Grund der staatlichen Maßnahmen endgültig aus seinem Eigentum verdrängt ansehen konnte (S. 8 UA). Dies hat das Verwaltungsgericht nicht nur anhand des Schreibens des Amtes zum Schutze von Volkseigentum vom 4. Februar 1949 bejaht. Es hat vielmehr darüber hinaus auf die Löschung der Firma im Handelsregister und die vollständige Zurückdrängung der Verfügungsbefugnisse über das Unternehmen als weitere nach außen in Erscheinung getretene Maßnahmen der Behörden abgestellt. Entscheidend war für das Verwaltungsgericht auch die Einlassung der Beigeladenen im Verwaltungsverfahren, dass das Grundstück zum Betriebsvermögen gehört habe und Frau E. es 1941 mit in die Gesellschaft eingebracht habe (S. 10 UA).

5 Das Verwaltungsgericht hat seiner Entscheidung auch keinen Sachverhalt zugrunde gelegt, der im offensichtlichen Widerspruch zu dem insoweit unstreitigen Akteninhalt steht (vgl. Beschluss vom 19. November 1997 - BVerwG 4 B 182.97 - Buchholz 406.11 § 153 BauGB Nr. 1). Das Verwaltungsgericht hat entscheidungserheblich auf die Sicht der früheren Eigentümerin abgestellt, ab wann und auf Grund welcher Maßnahmen sie sich vollständig und endgültig aus ihrer Eigentümerposition verdrängt ansehen musste. Schriftwechsel zwischen staatlichen Stellen und der NAGEMA hinsichtlich Umfang und Zeitpunkt der Enteignung steht dazu nicht im Widerspruch.

6 b) Auch die von den Beigeladenen geltend gemachte Aufklärungsrüge bleibt erfolglos. Es fehlt schon an einer prozessordnungsgemäßen Darlegung seiner Voraussetzungen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).

7 Die Aufklärungsrüge erfordert eine substantiierte Darlegung, hinsichtlich welcher Tatsachen unter Beachtung der materiellrechtlichen Auffassung des Gerichts Aufklärungsbedarf bestand, welche Beweismittel zur Verfügung standen, zu welchem Ergebnis die Beweisaufnahme voraussichtlich geführt hätte und inwiefern das verwaltungsgerichtliche Urteil auf der unterbliebenen Sachaufklärung beruhen kann (vgl. Beschluss vom 6. März 1995 - BVerwG 6 B 81.94 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265; Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328). Der vorgebrachten Rüge fehlt es insbesondere an der Benennung erreichbarer weiterer Beweismittel. Die Altakte zum Enteignungsverfahren stellt kein solches Beweismittel dar, denn das Verwaltungsgericht hatte sie, was die Beigeladenen offenbar verkennen, im gerichtlichen Verfahren bereits beigezogen und durch den Generalverweis im Tatbestand des angefochtenen Urteils zum Gegenstand der Entscheidung gemacht. Soweit die Beigeladenen in der Revisionsinstanz erstmals den Zugang des Schreibens vom 4. Februar 1949 bezweifeln, benennen sie ebenfalls keine weiteren Beweismittel.

8 Die Beschwerde nimmt vielmehr eine eigene Bewertung vor und blendet aus, dass nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts nicht Zweifel der NAGEMA bezüglich der Rechtslage die Firmenlöschung und Umschreibung im Grundbuch betreffend entscheidend waren, sondern auf Grund welcher Umstände sich die Anteilseignerin des betroffenen Unternehmens als enteignet ansehen musste. Das Verwaltungsgericht ist bei seiner Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) auch nicht von einem unrichtigen und unvollständigen Sachverhalt ausgegangen. Der von der Beschwerde zitierte Wortlaut des Schreibens des Amtes zum Schutze des Volkseigentums vom 4. Februar 1949 lässt die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Bewertung zu. Sie wird insbesondere nicht durch den Schriftwechsel zwischen der NAGEMA und der Landesregierung Sachsen-Anhalt, der Deutschen Wirtschaftskommission und der NAGEMA sowie der NAGEMA mit dem Amt zum Schutze des Volkseigentums widerlegt.

9 2. Ebenfalls greift die Divergenzrüge nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht durch. Sie setzt die Herausarbeitung eines abstrakten Rechtssatzes voraus, der die angefochtene Entscheidung trägt und einem solchen Rechtssatz in einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts widerspricht. Einen solchen abstrakten Rechtssatz in der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts Halle vermag die Beschwerde nicht zu benennen.

10 a) Die von den Beigeladenen formulierten abstrakte Rechtssätze zur Erstreckung der Enteignungen auf nicht belastete Anteilseigner und zum besatzungshoheitlichen Charakter lassen sich so schon nicht dem angefochtenen Urteil entnehmen. Das Verwaltungsgericht hat nicht allein anhand der angewandten Rechtsgrundlage den besatzungshoheitlichen Charakter der Enteignung bejaht. Es gelangt zu diesem Ergebnis vielmehr im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Umstände, der es die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zutreffend zugrunde legt. Dabei weist es insbesondere auf den Umstand hin, dass für die vollständige Enteignung der so genannten Anteilsbetriebe ein konkreter Vollzugsauftrag der Besatzungsmacht existierte (vgl. Beschluss vom 5. März 1998 - BVerwG 7 B 354.97 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 143). Trat dieser bis zur Gründung der DDR durch konkrete Maßnahmen gegenüber dem Unternehmensinhaber in Erscheinung, ist vom besatzungshoheitlichen Charakter auszugehen. Dem von der Beschwerde angeführten Urteil vom 28. Januar 1999 kann nichts anderes entnommen werden. Es bezieht sich auf Enteignungsmaßnahmen nach Gründung der DDR (Urteil vom 28. Januar 1999 - BVerwG 7 C 10.98 - Buchholz 428 § 1 Abs. 8 VermG Nr. 1). Für diesen Zeitraum ist ein fortdauernder Vollzugsauftrag nicht ohne weiteres anzunehmen.

11 Vorliegend geht das Verwaltungsgericht aber von einer Enteignung im Februar 1949 aus.

12 Dass die ursprüngliche Eigentümerin nicht zum Kreis der vom SMAD-Befehl Nr. 64 erfassten Kriegs- und Naziverbrecher gehörte, spielt für die Einordnung der Enteignung als besatzungshoheitlich keine ausschlaggebende Rolle. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass der Zurechnungszusammenhang zur Besatzungsmacht sich auf die von den deutschen Stellen geübte Enteignungspraxis erstreckt, selbst wenn die einschlägigen Rechtsgrundlagen exzessiv oder im Einzelfall fehlerhaft ausgelegt und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen willkürlich angewandt wurden (stRspr; vgl. Urteil vom 13. Februar 1995 - BVerwG 7 C 53.94 - BVerwGE 98, 1 <9 f.>; BVerfG, Urteil vom 23. April 1991 - 1 BvR 1170, 1174, 1175/90 - BVerfGE 84, 90 <115>).

13 Soweit die Beigeladenen eine Divergenz zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2000 geltend machen, übersehen sie, dass sich auch dieses Urteil mit Maßnahmen nach Gründung der DDR beschäftigt, weil bis dahin keine Zugriffsakte zu beobachten waren, die eine Enteignung in der Rechtswirklichkeit erkennbar gemacht hätten (vgl. Urteil vom 2. März 2000 - BVerwG 7 C 13.99 - Buchholz 428 § 1 Abs. 8 VermG Nr. 11). Zudem handelte es sich um den betrieblich genutzten Vermögenswert eines Dritten, der weder Inhaber noch Gesellschafter des Unternehmens war. Im angefochtenen Urteil kommt das Verwaltungsgericht in allen Punkten zu gegenteiligen Feststellungen.

14 c) Schließlich liegt auch keine Divergenz zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. November 1997 vor, wenn das Verwaltungsgericht meint, es komme nicht darauf an, ob durch die Beleihung des Grundstücks im steuer- oder handelsrechtlichen Sinne Betriebsvermögen oder wirtschaftliches Eigentum des Unternehmens entstanden ist. Entscheidend sei vielmehr die Nutzung für betriebliche Zwecke.

15 Einen abweichenden Begriff des Unternehmensvermögens lassen diese Ausführungen nicht erkennen. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Zugehörigkeit eines Vermögenswertes zum Unternehmen seine betriebliche Zweckbestimmung maßgeblich. Deshalb umfasst das Unternehmen alle im Eigentum des Unternehmensträgers stehenden Vermögensgegenstände, die dem wirtschaftlichen Zweck des Unternehmens gewidmet waren und infolge dessen bei ordnungsgemäßer Buchführung als Aktiva in die Bilanz aufzunehmen gewesen wären (Urteil vom 20. November 1997 - BVerwG 7 C 40.96 - Buchholz 428 § 2 VermG Nr. 35 S. 49 f.; Urteil vom 24. Januar 2001 - BVerwG 8 C 12.00 - Buchholz 428 § 1 Abs. 1 VermG Nr. 13 S. 35; Urteil vom 28. März 2001 - BVerwG 8 C 6.00 - Buchholz 428 § 6 VermG Nr. 42 S. 35). Für die Zuordnung zum Betriebsvermögen kommt es also nicht auf die seinerzeit tatsächlich geschehene Bilanzierung oder steuerliche Veranlagung an.

16 Wollte man dem Urteil des Verwaltungsgerichts hingegen die abstrakte Aussage entnehmen, es sei ohne Bedeutung, ob der Vermögensgegenstand bei ordnungsgemäßer Buchführung als Aktiva in die Bilanz aufzunehmen war, stünde es zwar insoweit in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Im Ergebnis bliebe die Divergenz aber ohne Folgen, weil nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts das streitgegenständliche Grundstück vor der Enteignung tatsächlich als Unternehmensvermögen bilanziert wurde und die mit ihm erzielten Pachteinnahmen in die Gewinn- und Verlustrechnung eingingen. Die Enteignung des Unternehmens musste sich deshalb aus Sicht des objektivierten Eigentümers auf das Grundstück erstrecken. Der Zugriff auf das im privaten Eigentum des Gesellschafters stehende, betrieblich genutzte Grundstück entsprach auch dem Willen der Besatzungsmacht (vgl. Urteil vom 2. März 2000 - BVerwG 7 C 13.99 - Buchholz 428 § 1 Abs. 8 VermG Nr. 11).

17 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach § 52 Abs. 1 und 4 GKG. Da die im Investitionsvorranggesetz geregelten Ansprüche ihrem Wesen nach mit denjenigen nach dem Vermögensgesetz vergleichbar sind und der Zweck der Streitwertbegrenzung - zugunsten der öffentlichen Haushalte im verwaltungsgerichtlichen Verfahren das Kostenrisiko einzuschränken (vgl. BTDrucks 12/4748, S. 152) - für beide Materien gleichermaßen gilt, ist die in § 52 Abs. 4 GKG für Ansprüche nach dem Vermögensgesetz vorgesehene Streitwertbegrenzung auf Verfahren nach dem Investitionsvorranggesetz anzuwenden (vgl. Beschluss vom 23. November 1998 - BVerwG 8 B 226.98 - Buchholz 360 § 13 GKG Nr. 102).

18 Auf die Gegenvorstellung des Beklagten war der Beschluss des Verwaltungsgerichts zum Streitwert entsprechend abzuändern.