Beschluss vom 10.01.2012 -
BVerwG 4 B 33.11ECLI:DE:BVerwG:2012:100112B4B33.11.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 10.01.2012 - 4 B 33.11 - [ECLI:DE:BVerwG:2012:100112B4B33.11.0]

Beschluss

BVerwG 4 B 33.11

  • Bayerischer VGH München - 19.05.2011 - AZ: VGH 2 B 11.353

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. Januar 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp und Dr. Bumke
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Mai 2011 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 50 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

2 1. Die Rechtssache hat nicht die von der Beschwerde geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung.

3 Die Beschwerde möchte rechtsgrundsätzlich geklärt wissen, ob die Variationsbreite der genehmigten Nutzung eines Altenwohnheims/einer Einrichtung des Betreuten Wohnens überschritten wird, sofern die Bewohner der Einrichtung - teilweise - aufgrund des jeweils individuellen Alterungsprozesses nicht mehr dauerhaft zur Führung eines eigenen Haushalts und einer eigenverantwortlichen Lebensplanung in der Lage sind und Leistungen der Betreuung oder/und der Pflege in Anspruch nehmen müssen. Damit ist eine klärungsbedürftige Frage des revisiblen Rechts nicht bezeichnet. Der Verwaltungsgerichtshof ist davon ausgegangen, dass eine genehmigungspflichtige Nutzungsänderung im Sinne von Art. 62 Satz 1 BayBO 1998 bzw. Art. 55 Abs. 1 BayBO 2008 vorliegt, wenn durch die Verwirklichung eines Vorhabens die einer jeden Art von Nutzung eigene „Variationsbreite“ verlassen wird und wenn für die geänderte Nutzung andere bauordnungs- oder bauplanungsrechtliche Anforderungen in Betracht kommen als für die bisherige Nutzung (UA Rn. 31). Auch wenn er sich hierfür u.a. auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Begriff der Nutzungsänderung im Sinne von § 29 Abs. 1 BauGB berufen hat, hat der Verwaltungsgerichtshof insoweit nicht Bundesrecht, sondern die nicht revisible Bayerische Bauordnung ausgelegt. Bei der Bestimmung der Variationsbreite der genehmigten Nutzung hat er zwar auf die im Heimrecht entwickelten Heimtypen zurückgegriffen; als bundesrechtlich gebunden bei der Auslegung der Bayerischen Bauordnung hat er sich insoweit jedoch nicht angesehen. Ausgangspunkt seiner Auslegung war vielmehr die in der Baugenehmigung vom 6. Juli 1987 genehmigte Nutzung des Gebäudes als „Seniorenwohnheim“ (UA Rn. 32).

4 Die Frage, ob das Belassen von Bewohnern bzw. das Unterlassen der Kündigung einer Bewohnergruppe ein Vorhaben im Sinne von § 29 Abs. 1 BauGB darstellt oder ob darin lediglich eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse und damit keine Nutzungsänderung im Sinne dieser Vorschrift liegt (Beschwerdebegründung S. 11), wäre in einem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich. Der Verwaltungsgerichtshof hat die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit der derzeitigen Nutzung des Gebäudes (§§ 29 ff. BauGB) nicht geprüft. Als zweifelhaft hat er ihre Genehmigungsfähigkeit lediglich im Hinblick auf die landesrechtlichen Anforderungen des Brandschutzes und die Zahl der nachzuweisenden Stellplätze angesehen. Soweit die Beschwerde fragt, ob das weite Verständnis des „Vorhabens“ des Verwaltungsgerichtshofs im Rahmen der bauordnungsrechtlichen Beurteilung gegen Bundes- und Verfassungsrecht, im Einzelnen gegen § 29 BauGB, § 36 SGB XI, § 37 SGB V, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und 2, Art. 3 Abs. 1 GG sowie gegen Art. 19 und Art. 22 Abs. 1 der Behindertenrechtskonvention verstößt (Beschwerdebegründung S. 11 f.), legt sie einen Klärungsbedarf in Bezug auf die genannten Normen des Bundesrechts nicht hinreichend dar. Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ist es nicht mit dem Vortrag getan, die vorinstanzliche Auslegung und Anwendung einer nach § 173 VwGO i.V.m. § 560 ZPO nicht revisiblen Vorschrift des Landesrechts sei von einem fehlerhaften Verständnis des Bundesrechts (einschließlich des Bundesverfassungsrechts) geprägt. Vielmehr muss dargelegt werden, dass der bundesrechtliche Maßstab selbst einen die Zulassung der Revision rechtfertigenden Klärungsbedarf aufweist (Beschlüsse vom 8. März 1998 - BVerwG 8 BN 6.97 - NVwZ 1998, 952 und vom 16. Januar 2008 - BVerwG 4 B 4.08 - juris). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerde nicht. Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof das Vorliegen einer Nutzung im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften im Sinne von Art. 82 Satz 2 BayBO 1998 bzw. Art. 76 Satz 2 BayBO (UA Rn. 30) nicht an eine bestimmte, die Schwelle zur Nutzungsänderung überschreitende Handlung geknüpft, sondern an die tatsächliche Nutzung des Heims, die sich nicht mehr im Rahmen der der genehmigten Nutzungsform Altenwohnheim eigenen Variationsbreite hält (UA Rn. 37).

5 2. Die geltend gemachten Verfahrensmängel liegen nicht vor.

6 2.1 Die Beschwerde meint, der Verwaltungsgerichtshof habe seine Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt. Er habe die vertraglichen Regelungen zwischen der Klägerin und den Bewohnern ihrer Einrichtung nicht zur Kenntnis genommen. Von ihr werde etwas rechtlich Unmögliches verlangt, denn sie habe nicht die Möglichkeit, den betroffenen Bewohnern zu kündigen und damit der Anordnung der Beklagten nachzukommen. Bestimmte Bewohner seien im Übrigen Eigentümer ihrer Wohnungen; mit ihnen habe sie lediglich einen Betreuungsvertrag abgeschlossen.

7 Damit ist ein Aufklärungsmangel nicht dargelegt. Aufklären muss das Gericht nur den nach seiner materiellen Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Sachverhalt. Die Beklagte und ihr folgend der Verwaltungsgerichtshof sind davon ausgegangen, dass die Klägerin unabhängig von den vertraglichen Regelungen im Einzelfall nach den Vorschriften des Privatrechts berechtigt ist, die bestehenden Miet- und Betreuungsverträge zu kündigen, wenn ihr unanfechtbar untersagt ist, Personen, die aufgrund ihres körperlichen und/oder geistigen Zustands dauerhaft zur Führung eines eigenen Haushalts und einer eigenverantwortlichen Lebensplanung nicht mehr in der Lage sind, in das Wohnheim aufzunehmen bzw. diese dort zu belassen. Auf den Inhalt der vertraglichen Regelungen zwischen der Klägerin und den Bewohnern und seine nähere Aufklärung kam es danach nicht an. Ob sich aus der bauaufsichtlichen Verfügung im privaten Rechtsverhältnis zwischen der Klägerin und den von ihr betreuten Personen tatsächlich ein Kündigungsgrund ergibt, können im Übrigen weder die Beteiligten des vorliegenden Rechtsstreits noch die Verwaltungsgerichte, sondern im Falle des Bestreitens durch die Mieter und/oder betreuten Personen nur die ordentlichen Gerichte entscheiden. Eine privatrechtsgestaltende Wirkung kommt der bauaufsichtlichen Verfügung nicht zu (vgl. Urteil vom 24. Mai 2006 - BVerwG 4 C 9.04 - BVerwGE 126, 104 Rn. 32 zum Sanierungsrecht). Sollte die bauaufsichtliche Verfügung nach den Vorschriften des Privatrechts nicht zur Kündigung berechtigen, wäre sie insoweit nicht vollziehbar; rechtlich Unmögliches würde von der Klägerin auch in diesem Fall nicht verlangt.

8 2.2 Die Beschwerde meint weiter, der Verwaltungsgerichtshof habe nicht ihren hilfsweise gestellten Antrag ablehnen dürfen, zum Beweis der Tatsache, dass die auf der Basis des Brandschutzkonzepts vom 2. Februar 2004 verwirklichten Brandschutzmaßnahmen dem Standard eines Sicherheitstreppenraums entsprechen, einen Sachverständigen einzuvernehmen. Die Einvernahme eines Sachverständigen sei für die Würdigung der Erforderlichkeit der bauaufsichtlichen Verfügung notwendig gewesen (Beschwerdebegründung S. 15 f.).

9 Eine Verletzung der Aufklärungspflicht liegt auch insoweit nicht vor. Bei der Prüfung, ob der Vorinstanz ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, ist von deren materiellrechtlichen Rechtsauffassung auszugehen, selbst wenn diese verfehlt sein sollte (Urteil vom 25. März 1987 - BVerwG 6 C 10.84 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 183). Der Verwaltungsgerichtshof hat angenommen, dass mit der Nutzungsuntersagung die Gefahr, die im Brandfall für alle Bewohner des Anwesens bestehe, nicht beseitigt werde; jedoch werde das Risiko deutlich reduziert, weil die besonders gefährdete Personengruppe der bewegungsunfähigen, stark gehbehinderten, dauernd bettlägerigen und desorientierten Bewohner sich nicht mehr in dem Gebäude befinde; die damit erreichte Risikoreduzierung rechtfertige die Verfügung (UA Rn. 58). Er ist davon ausgegangen, dass, wenn die verwirklichten Brandschutzmaßnahmen - wie hier (UA Rn. 47 - 53) - nicht offensichtlich zur Genehmigungsfähigkeit der derzeitigen Nutzung führen, die Frage, ob diese Maßnahmen möglicherweise doch ausreichend sind, nur in einem Baugenehmigungsverfahren geklärt werden kann. Ausgehend hiervon war der beantragte Beweis nicht nur für die Genehmigungsfähigkeit (UA Rn. 50), sondern auch für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Nutzungsuntersagung im Übrigen (UA Rn. 58) unerheblich.

10 2.3 Die Beschwerde meint schließlich, der Verwaltungsgerichtshof sei bei der Kontrolle des Ermessens (UA Rn. 59) von einem unvollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen (Beschwerdebegründung S. 16 f.). Das Schreiben der Beklagten vom 11. August 2004 an die Eigentümergemeinschaft sei ihr nicht bekannt gegeben worden. Im Übrigen hätte berücksichtigt werden müssen, dass die Beklagte sich treuwidrig verhalten habe, überaus lange untätig geblieben sei, gegenüber der Wohnungseigentümergemeinschaft andere Anforderungen aufstelle, sie praktisch zu einer Betriebseinstellung gezwungen werde und der geforderte Umzug für die betroffenen Bewohner eine nicht tragbare Belastung darstelle.

11 Ein Verfahrensmangel ergibt sich aus diesem Vorbringen nicht. Warum sich dem Verwaltungsgerichtshof hätte aufdrängen sollen, der Bekanntgabe des Schreibens vom 11. August 2004 an die Klägerin nachzugehen, ist nicht ersichtlich. Die Beklagte hatte sich bereits in ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung vom 8. Januar 2010 (Seite 4) auf das Schreiben berufen, die Klägerin die fehlende Bekanntgabe nicht gerügt. Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof ein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin nicht nur im Hinblick auf das Schreiben, sondern auf den gesamten Sachverhalt (vgl. UA Rn. 6 ff.) verneint. Die übrigen Angriffe richten sich gegen die Würdigung des Sachverhalts durch den Verwaltungsgerichtshof. Die gerügten Fehler wären, wenn sie denn vorlägen, nicht dem Verfahrensrecht, sondern der Anwendung des materiellen Rechts zuzuordnen.

12 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertentscheidung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.