Beschluss vom 09.07.2003 -
BVerwG 1 DB 12.02ECLI:DE:BVerwG:2003:090703B1DB12.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 09.07.2003 - 1 DB 12.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:090703B1DB12.02.0]

Beschluss

BVerwG 1 DB 12.02

  • BDiG, Kammer XII - ... -, - 05.12.2001 - AZ: BDiG XII BK 1/01 -

In dem Beschwerdeverfahren hat der 1. Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. Juli 2003
durch den Richter am Bundesverwaltungsgericht M a y e r ,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht H e e r e n und den Richter
am Bundesverwaltungsgericht Dr. H. M ü l l e r
beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde des Antragstellers werden der Beschluss des Bundesdisziplinargerichts, Kammer XII - ... -, vom 5. Dezember 2001 und der Bescheid des Leiters der Kundenniederlassung ... der Deutschen Telekom AG vom 26. Juni 2001 aufgehoben.
  2. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der dem Antragsteller hierin erwachsenen notwendigen Auslagen werden der Antragsgegnerin auferlegt.

I


1. Durch Bescheid vom 26. Juni 2001 stellte der Leiter der Kundenniederlassung ... der Deutschen Telekom AG den Verlust der Dienstbezüge des Antragstellers vom 25. Juni 2001 an bis auf weiteres wegen schuldhaft ungenehmigten Fernbleibens vom Dienst fest. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Antragsteller sei am 21. Juni 2001 über das Ergebnis der arbeitsmedizinischen Untersuchung, wonach Dienstfähigkeit gegeben sei, unterrichtet und aufgefordert worden, seinen Dienst am 25. Juni 2001 in der Aufgabengruppe Personalmanagement im Rahmen eines Arbeitsversuchs mit zunächst vier Stunden pro Arbeitstag, später steigend, wieder aufzunehmen. Er sei darauf hingewiesen worden, dass privatärztliche Krankschreibungen nicht mehr anerkannt würden. Über die Rechtsfolgen schuldhaft ungenehmigten Fernbleibens vom Dienst sei er belehrt worden. Am 25. Juni 2001 habe er den Dienst ohne Angabe von Gründen nicht aufgenommen.
2. Gegen den Verlustfeststellungsbescheid hat der Antragsteller sinngemäß Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt und geltend gemacht, er bleibe dem Dienst nicht schuldhaft fern, da er dienstunfähig sei. Das Untersuchungsergebnis des Dr. R., auf das sich die Antragsgegnerin stütze, sei, wie sich aus den Bescheinigungen des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie B. vom 17. August 2001 und der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie E. vom 27. August 2001 ergebe, medizinisch nicht haltbar. Er beantrage, seine Dienstfähigkeit durch Einholung eines vom Gericht in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachtens auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet überprüfen zu lassen.
3. Das Bundesdisziplinargericht hat durch Beschluss vom 5. Dezember 2001 den angefochtenen Feststellungsbescheid vom 26. Juni 2001 aufrechterhalten und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Zur Überzeugung der Kammer stehe fest, dass der Antragsteller nicht dienstunfähig sei. Sie folge der Begutachtung des Neurologen und Psychiaters Dr. R. vom 7. Juni 2001. Danach sei die Leistungsfähigkeit des Antragstellers zwar beeinträchtigt, Dienstunfähigkeit sei jedoch nicht gegeben. Unter Berücksichtigung der vom Antragsteller vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen der Neurologen und Psychiater B. und E. sei bei ihm zwar aufgrund der zweifelsohne bestehenden Gesundheitsstörungen seine Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Es gebe jedoch keinen Grund, die Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit des Antragstellers als so gravierend anzusehen, dass er entgegen der Auffassung des Neurologen und Psychiaters Dr. R. dienstunfähig sei. Bei dieser Sachlage bestehe kein Anlass, zusätzlich noch ein neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen.
4. Gegen diesen Beschluss hat der Antragsteller rechtzeitig Beschwerde eingelegt. Er verweist auf aktuelle Befundberichte der Neurologin E. vom 15. April 2002 und des Neurologen B. vom 25. April 2002 und auf die Notwendigkeit der Einholung eines Sachverständigengutachtens.
Der Bundesdisziplinaranwalt hat sich in einer Stellungnahme vom 29. Juli 2002 ebenfalls dafür ausgesprochen, ein gerichtliches Sachverständigengutachten einzuholen. Aufgrund der Befunde der den Antragsteller langjährig behandelnden Neurologen B. und E. beständen zumindest begründete Zweifel an der erstinstanzlich angenommenen Maßgeblichkeit der Feststellungen des Neurologen Dr. R., der dem Antragsteller aufgrund der am 5. Juni 2001 durchgeführten Untersuchung eine vollschichtige Dienstfähigkeit attestiert habe. Dies gelte umso mehr, als der Arzt B. seine positive Einschätzung, eine stufenweise Wiedereingliederung des Beamten verspreche Aussicht auf Erfolg, bereits in seinem Befund vom 17. August 2001 dahingehend korrigiert habe, dass er dessen Belastbarkeit überschätzt habe, es sich nur um eine vordergründig gezeigte Stabilität des Beamten gehandelt habe, die vor dem Hintergrund seiner unsicheren beruflichen Situation völlig dekompensiert sei, so dass er der Einschätzung des Kollegen Dr. R. letztlich nicht folgen könne. Auch die Neurologin E. sehe eine Besserung des Zustands des Antragstellers, die Fortsetzung psychotherapeutischer Maßnahmen vorausgesetzt, frühestens in zwei bis drei Jahren.
Der Senat hat durch Beschlüsse vom 13. August 2002 und 3. Dezember 2002 Beweis erhoben über die Frage, ob der Antragsteller seit dem 25. Juni 2001 (bzw. seit einem späteren Zeitpunkt) bis heute (bzw. bis zu einem früheren Zeitpunkt) dienstunfähig erkrankt ist durch Einholung eines psychiatrischen Fachgutachtens und einer ergänzenden differenzierten neuropsychologischen Zusatzbegutachtung unter Einschluss einer testpsychologischen Untersuchung.

II


Die gemäß § 85 Abs. 5 BDG, § 121 Abs. 5 BDO zulässige Beschwerde hat Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und des zugrunde liegenden Feststellungsbescheids.
Nach § 9 Satz 1 Bundesbesoldungsgesetz (BBesG) verliert ein Beamter, der ohne Genehmigung dem Dienst schuldhaft fernbleibt, für die Zeit des Fernbleibens seine Dienstbezüge. Der Verlust der Dienstbezüge ist nach § 9 Satz 3 BBesG - wie hier geschehen - vom Dienstvorgesetzten festzustellen. Diese Feststellung ist auch rückwirkend möglich (stRspr, vgl. z.B. Beschluss vom 17. Januar 2003 - BVerwG 1 DB 15.02 -).
Der Senat ist davon überzeugt, dass der Antragsteller bereits seit dem 25. Juni 2001 dienstunfähig erkrankt ist. Dies folgt aus den vom Senat eingeholten Gutachten des Prof. Dr. F. vom 15. Mai 2003 und dem klinisch-psychologischen Zusatzgutachten der Dipl.-Psychologen K. und Dr. W. vom 2. April 2003 sowie den Beurteilungen der den Antragsteller behandelnden Neurologen B. und E. Der Beurteilung des Dr. R. folgt der Senat dagegen nicht. Die von der Antragsgegnerin gegen das Gutachten von Prof. Dr. F. erhobenen Einwände, das Gutachten gehe lediglich mit einem Satz auf den Zeitpunkt des Beginns der Verlustfeststellung ein, das Gutachten lasse eine nähere Beschreibung des Krankheitsverlaufs vermissen, auf "die unterschiedliche Bewertung der behandelnden Ärzte gegenüber dem von Beklagtenseite beauftragten Arzt" werde nicht näher eingegangen und in großen Teilen des Gutachtens werde lediglich unreflektiert wiedergegeben, was der Kläger den Gutachtern mitgeteilt habe, sind unzutreffend.
Der angefochtene Bescheid über die Feststellung des Verlustes der Dienstbezüge beruht auf der arbeitsmedizinischen Begutachtung des Dr. R. vom 7. Juni 2001. Dr. R. gibt in seiner schriftlichen Begründung keine einzelnen Befunde und Untersuchungsergebnisse wieder, sondern knüpft nur an eine frühere vom behandelnden Psychiater attestierte Dienstunfähigkeit seit dem 16. Oktober 2000 sowie an eine sich daran anschließende Wiedereingliederungsmaßnahme an, die nach zwei Wochen abgebrochen wurde. Dr. R. geht von einer depressiven Episode aus und stellt fest: "Unter Berücksichtigung der frühkindlichen Sozialisationsbedingungen ist die derzeitige Beziehungsdynamik durchaus belastend. Es entwickelten sich Symptome von Krankheitswert, die jedoch durch die stattgefundenen ambulanten und stationären Behandlungsmaßnahmen in einem solchen Ausmaß abgemindert werden, dass erneut vollschichtige Dienstfähigkeit besteht." Weiter heißt es: "Aufgrund des bisherigen Krankheitsverlaufs gehe ich auch in Zukunft von häufigeren, jedoch nur kurz dauernden Dienstunfähigkeitszeiten aus. Es ist davon auszugehen, dass durch die Fortsetzung der ambulanten Psychotherapie das Leistungsvermögen stabilisiert wird." Zusammenfassen lässt sich die gutachterliche Äußerung Dr. R. dahin, dass die bisherige Therapie gut gewirkt habe, der Antragsteller daher vollschichtig dienstfähig sei und dies bei Fortsetzung der ambulanten Therapie und weiterer Stabilisierung auch so bleiben werde, jedoch wechselnd mit häufigeren kurz dauernden Dienstunfähigkeitsunterbrechungen.
Auch in seiner nachträglichen Stellungnahme vom 22. Juli 2002 stellt Dr. R. ohne erneuten Patientenkontakt maßgeblich darauf ab, dass "keinerlei medikamentöse Therapie" mehr erfolgte, dass die Wiedereingliederungsmaßnahme mit dem behandelnden Arzt B. abgesprochen gewesen sei, dieser den Patienten also für belastbar gehalten habe, sowie dementsprechend darauf, dass das Ausmaß der depressiven Episode nach dem Schweregrad "allenfalls leichtgradig" einzuschätzen gewesen sei. Weitere Einzelheiten als Bewertungsgrundlage werden auch hier nicht mitgeteilt. Auch hier wird deutlich, dass sich die arbeitsmedizinische Begutachtung mittelbar und wesentlich auf die Einschätzung der behandelnden Ärzte und auf Mitteilungen über die bisherigen Ergebnisse der Behandlung durch diese Ärzte stützte.
Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie B. als behandelnder Arzt hat jedoch seine Einschätzung korrigieren müssen. Bereits in seinem Befundbericht vom 17. August 2001 erklärte er, dass er die Belastbarkeit des Antragstellers bei der Befürwortung der Wiedereingliederung überschätzt habe. Im ärztlichen Befundbericht vom 25. April 2002 führte er aus, die Wiedereingliederung sei noch im (als möglich unterstellten) Krankenzustand durchgeführt worden, habe also unter dem Vorbehalt der jederzeitigen Modifizierung gestanden. Sie habe jedoch entgegen den Erwartungen und Hoffnungen schon in einer früheren Phase dazu geführt, dass sich der Gesundheitszustand des Antragstellers "erneut massiv und anhaltend" verschlechtert habe, und zwar in Folge der fehlenden (erg.: beruflichen) Perspektive nunmehr dramatisch. Eine Intensivierung der ambulanten Therapie habe bisher keinen Erfolg gebracht.
Der Umstand, dass der Neurologe B. mit einer Wiedereingliederungsmaßnahme einverstanden war, zeigt, dass er keineswegs auf eine Dienstunfähigkeitserklärung im vermeintlichen Interesse des Beamten fixiert war und ist, spricht also für seine Glaubwürdigkeit und Unparteilichkeit.
Die Neurologin E. als ambulante Therapeutin bescheinigt am 15. April 2002 unter Wiedergabe ihrer Untersuchungsergebnisse, dass der seit dem 10. Juli 2001 in ihrer Behandlung befindliche Antragsteller dienstunfähig sei. Sie kommt zu der Auffassung, bei "Fortsetzung der psychotherapeutischen sowie thymoleptischen Maßnahmen" könne "mit der Besserung des Zustandes in ca. zwei bis drei Jahren gerechnet werden". Die detaillierten Angaben zur langjährigen Behandlung, den erhobenen Befunden und zur Art der Maßnahme lassen ihre Ausführungen glaubhaft erscheinen.
Das vom Senat erhobene Gutachten und das klinisch-psychologische Zusatzgutachten bestätigen die Einschätzung der behandelnden Ärzte, denen selbst Dr. R. nicht grundsätzlich, sondern nur graduell widersprochen hatte.
Das Zusatzgutachten gibt die Ergebnisse einer Reihe von testpsychologischen Untersuchungen wieder, stellt insbesondere erhebliche Beeinträchtigungen im Bereich der Aufmerksamkeit und Konzentration fest und leitet daraus ab, dass der Antragsteller an einem depressiven Syndrom erheblichen Ausmaßes leide, welches auch seine kognitiven Fähigkeiten tangiere. Ein Hinweis auf Simulation oder Aggravation (Übertreibung) habe nicht festgestellt werden können. Der Beamte sei daher aus klinisch-psychologischer Sicht nicht arbeitsfähig. Es werde aufgrund des Krankheitsbildes eine intensivere Behandlung angeraten.
Das psychiatrische Sachverständigengutachten von Prof. Dr. F. stützt sich nicht nur auf eine Schilderung subjektiv erfahrener Arbeitskonflikte, sondern fasst auch alle bisherigen Stellungnahmen in jeweils konzentrierter Form zusammen, was auf deren intellektuelle Verarbeitung schließen lässt. Darüber hinaus enthält es detaillierte Angaben über die durchgehend und bis zuletzt fortgesetzte Therapie, und zwar sowohl in Gestalt der Psychotherapie als auch der Medikation - von deren Einstellung Dr. R. noch ausging. Der Gutachter zeigt auf, dass Dr. R. in seiner arbeitsmedizinischen Begutachtung durchaus zu einer ähnlichen Diagnose gelangt sei, jedoch die Belastungsfähigkeit des Beamten anders beurteilt und dabei auch ein wohlwollendes Arbeitsklima unterstellt habe, das nach Angaben des Antragstellers nicht vorgelegen habe. Die spätere Stellungnahme sei ohne erneuten Patientenkontakt erfolgt. Bei seiner Würdigung weiß der Gutachter zwischen subjektiven Konfliktwahrnehmungen des Antragstellers und tatsächlichen Gegebenheiten zu unterscheiden. Seine Diagnose der mittelgradigen depressiven Episode ohne somatisches Syndrom ordnet er in die Klassifikation nach ICD 10 ein und kommt von daher zur Verneinung eines somatischen Syndroms. Er schätzt die Dauer des Vorliegens der Störung ein (mindestens seit Oktober 2000), die seitdem vorliegt und persistiert bzw. zunimmt. Dies stimmt mit der Behandlungsdauer und der zunehmenden Behandlungsintensität überein, von der er und die behandelnden Ärzte berichten. Darüber hinaus weist er auf Anzeichen einer beginnenden Chronifizierung unter Verschlechterung des Zustandes seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit hin. Da sich schließlich auch aus seiner Sicht während der gesamten Untersuchung - wie auch während der testpsychologischen Begutachtung - keinerlei Hinweise auf eine Simulation oder Aggravation fanden, legt er mit guten Argumenten und sorgfältig begründet - mithin in überzeugender Weise - dar, dass der Antragsteller spätestens seit dem 25. Juni 2001 und bis heute dienstunfähig erkrankt ist. Die retrospektive Würdigung lässt keinen Ansatzpunkt übrig, dass Argumente des arbeitsmedizinischen Gutachtens von Dr. R. unbeachtet geblieben wären, die auch heute noch Gültigkeit beanspruchen könnten. Dr. R. ist schlicht eine prognostische Fehleinschätzung unterlaufen, von der er sich später, ohne neuen Patientenkontakt und ohne sonstige neue Befunde zu kennen, nicht hat lösen können.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 113 f. BDO.