Beschluss vom 09.04.2003 -
BVerwG 4 BN 59.02ECLI:DE:BVerwG:2003:090403B4BN59.02.0

Beschluss

BVerwG 4 BN 59.02

In der Normenkontrollsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. April 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. P a e t o w und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. R o j a h n und Dr. J a n n a s c h
beschlossen:

  1. Die Beschwerden der Antragstellerin und der Antragsgegnerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. September 2002 werden zurückgewiesen.
  2. Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens - mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt - trägt die Antragstellerin ein und die Antragsgegnerin zwei Drittel.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 30 000 € festgesetzt.

1. Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde der Antragstellerin gegen die Nichtzulassung der Revision bleibt ohne Erfolg.
1.1 Die Rechtssache hat nicht die rechtsgrundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde beimisst. Dies setzt die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll (stRspr).
Die Beschwerde der Antragstellerin wirft die Frage auf, ob die bloße Tatsache eines vorhandenen bebauten Gemeindegebiets bereits von der planenden Gemeinde zum Anlass genommen werden kann, den vorgefundenen Gebäudebestand insoweit zu "zementieren", dass die vorhandenen bebauten Grundflächen zugleich die Grenzen der zukünftigen Bebauung abstecken. Diese Frage lässt sich jedoch nicht in einer verallgemeinerungsfähigen über den Einzelfall hinausgehenden Weise beantworten. Wenn ein vorhandener Bestand überplant werden soll, bleiben der Gemeinde im Grundsatz mehrere Möglichkeiten. Wenn sie sich für die Festsetzung von Baugrenzen entscheidet, die von einer vorhandenen oder genehmigten Bebauung überschritten werden, muss sie sich damit abfinden, dass sich die Planung voraussichtlich für längere Zeit nicht durchsetzen lässt. Daher kann es abwägungsfehlerfrei sein, wenn sie sich dazu entschließt, Festsetzungen zu treffen, die mit dem vorgefundenen Gebäudebestand übereinstimmen. Vorliegend benennt das Normenkontrollgericht weitere Umstände, die die Antragsgegnerin bei ihrer Abwägungsentscheidung geleitet haben. Insbesondere weist es darauf hin, dass die Antragstellerin sich hinsichtlich der Baugrenze gegen eine Festsetzung wendet, von der sie an anderer Stelle ihres Baugrundstücks in gleicher Weise profitiert. Dies verdeutlicht, dass es bei einer derartigen Abwägungsentscheidung stets auf die Besonderheiten des Einzelfalls ankommt, die sich einer grundsätzlichen Klärung entziehen.
Nichts anderes gilt für die weiteren Fragen, die die Antragstellerin in diesem Zusammenhang in ihrer Beschwerdebegründung aufwirft.
1.2 Auch die Verfahrensrügen greifen nicht durch. Die Antragstellerin sieht einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Sie meint, die auf dem Nachbargrundstück stehende Bebauung genieße keinen Bestandsschutz. Demgegenüber ist der Verwaltungsgerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, die Antragsgegnerin habe sich an der Entscheidung des Regierungspräsidiums als Bauaufsichtsbehörde orientieren dürfen, die den Landkreis verpflichtet habe, den Bauantrag positiv zu entscheiden. Mit dieser Argumentation setzt sich die Beschwerde nicht substantiiert auseinander. Umso weniger ist ihr Vorbringen geeignet, einen Verfahrensfehler darzulegen, ganz abgesehen davon, dass ein Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ohnehin nur unter engen Voraussetzungen einen Mangel im Verfahren und nicht allein im materiellen Recht darstellt.
Ferner rügt die Beschwerde als Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO, das Normenkontrollgericht sei in seinem Urteil nicht auf alle ihre Argumente eingegangen. Die Vorschrift verlangt jedoch nicht, dass sich das Gericht mit allen Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des festgestellten Sachverhalts in den Gründen seiner Entscheidung ausdrücklich auseinander setzt. Aus der Nichterwähnung einzelner Umstände kann daher regelmäßig auch nicht geschlossen werden, das Gericht habe diese bei seiner Entscheidung unberücksichtigt gelassen. Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht seiner Pflicht aus § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO genügt und seiner Entscheidung das Vorbringen der Beteiligten sowie den festgestellten Sachverhalt vollständig und richtig zugrunde gelegt hat.
2. Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde der Antragsgegnerin gegen die Nichtzulassung der Revision bleibt ebenfalls ohne Erfolg.
2.1 Die Beschwerde hält es für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob ein Gericht für die Begründung der Nichtigkeit einer angegriffenen Satzung auf die Feststellungen in einem Einstellungsbeschluss zurückgreifen darf. Diese Frage ist in der gestellten Form ohne weiteres zu bejahen; eines Revisonsverfahrens bedarf es hierfür nicht. Ein Grundsatz, wonach es einem Gericht verwehrt wäre, auf eigene frühere Entscheidungen zu verweisen, besteht nicht. Davon sind Beschlüsse nach § 161 Abs. 2 VwGO nicht ausgenommen. Selbstverständlich hat ein Gericht dabei weitere Verfahrensregeln zu beachten. So ist den Beteiligten gegebenenfalls rechtliches Gehör zu gewähren. Auch mag im Einzelfall dem Begründungsgebot allein mit einem Verweis auf eine frühere Entscheidung nicht ausreichend Rechnung getragen werden. Zu einer weiteren Vertiefung dieser Überlegungen bedarf es vorliegend schon deswegen nicht, da der Verwaltungsgerichtshof es nicht bei einem Verweis auf den früheren Beschluss nach § 161 Abs. 2 VwGO hat bewenden lassen, sondern eine eigenständige Begründung angefügt hat (Urteilsabdruck S. 14 Mitte). Das Normenkontrollgericht hat sich mithin nicht - wie die Beschwerde zu unterstellen scheint - an eine "rechtskräftige" Feststellung der Nichtigkeit in dem Beschluss nach § 161 Abs. 2 VwGO gebunden gefühlt.
2.2 Die Beschwerde rügt ferner, der Verwaltungsgerichtshof habe das rechtliche Gehör verletzt. Die Leiterin des Rechtsamts der Antragsgegnerin sei erst am Freitag vor der am Dienstag stattfindenden mündlichen Verhandlung vom Vorsitzenden des Senats auf die Überplanung von Sonderbiotopen durch den Bebauungsplan und eine möglicherweise daraus resultierende Nichtigkeit hingewiesen worden. Bei dieser Gelegenheit sei sie auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufmerksam gemacht worden, die in der Kürze der Zeit jedoch nicht zu beschaffen gewesen sei.
Dieses Vorbringen verhilft der Beschwerde bereits aus folgenden Gründen nicht zum Erfolg: Zum einen hat die Antragsgegnerin nicht vorgetragen, dass sie sich darum bemüht hätte, sich rechtliches Gehör dadurch zu verschaffen, dass sie in der mündlichen Verhandlung eine Vertagung beantragt hat. Dies ist ausweislich der Niederschrift über diese Verhandlung auch nicht geschehen. Davon abgesehen ist die Frage der Überplanung von Sonderbiotopen Gegenstand eingehender Erörterung in der mündlichen Verhandlung gewesen (Niederschrift S. 2/3). Zum anderen legt die Antragsgegnerin mit ihrer Beschwerde nicht dar, was sie vorgetragen hätte, wenn ihr - nach ihrem Maßstab - ausreichend rechtliches Gehör gewährt worden wäre, sie also die benannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts rechtzeitig gekannt hätte, und warum dieser (fehlende) Vortrag zu einem anderen Ergebnis geführt hätte.
3. Der nach Ablauf der Beschwerdefrist eingegangene Vortrag der Beigeladenen kann nicht als Anschlussbeschwerde gewürdigt werden, da eine solche unzulässig wäre (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Dezember 1969 - BVerwG 3 B 68.69 - BVerwGE 34, 351). Die Beigeladene hat nach einem entsprechenden Hinweis des Gerichts erklärt, dass ihre Ausführungen als Stellungnahme zu werten seien.
Davon abgesehen fehlt es der Aufklärungsrüge an Darlegungen, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären; ebenso wenig wird dargelegt, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, entweder auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden wäre oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen. Die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz, vor allem das Unterlassen der Stellung von Beweisanträgen, zu kompensieren (stRspr).
Der Grundsatzrüge zu den zum maßgeblichen Zeitpunkt heranzuziehenden Tatsachen (Schriftsatz vom 16. Dezember 2002 S. 5) dürfte ein Sachverhalt zugrunde liegen, den das Normenkontrollgericht in dieser Form nicht festgestellt hat. Denn dieses hat keinen Zweifel "an der Vorfindlichkeit dieser Sonderbiotopbestände im maßgeblichen Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses" gehabt (Urteilsabdruck S. 13). Das Gericht ist auch nicht davon ausgegangen, dass sich der Mangel nicht mehr auswirke. Auch die zur Auslegung und Anwendung von § 215 a BauGB aufgeworfene Frage hätte nicht zur Zulassung der Revision geführt. Denn insoweit kommt es auf der Grundlage der bereits ergangenen Rechtsprechung des Senats auf die jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls an. Vorliegend ist der Verwaltungsgerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, es sei "eine größere Umplanung" erforderlich. Allerdings kommt ein ergänzendes Verfahren auch dann in Betracht, wenn zur Behebung des Mangels der Inhalt des Bebauungsplans geändert werden muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 - BVerwG 4 CN 7.98 - BVerwGE 110, 193 und Beschluss vom 25. Mai 2000 - BVerwG 4 BN 17.00 - BRS 63 Nr. 225). Die Frage, wann ein Mangel so gewichtig ist, dass er die Grundzüge der Abwägung betrifft oder ihr Grundgerüst in Zweifel zu ziehen ist, dürfte sich jedoch weiterer grundsätzlicher Klärung entziehen.
4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO ab, da sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 1, § 14 GKG.