Beschluss vom 04.08.2014 -
BVerwG 1 B 8.14ECLI:DE:BVerwG:2014:040814B1B8.14.0

Beschluss

BVerwG 1 B 8.14

  • VG Berlin - 16.02.2012 - AZ: VG 23 K 202.11 V
  • OVG Berlin-Brandenburg - 27.02.2014 - AZ: OVG 2 B 12.12

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. August 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 27. Februar 2014 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

2 Der - allein geltend gemachte - Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.

3 Grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache nur dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, entscheidungserheblichen und klärungsbedürftigen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist (stRspr, Beschluss vom 8. Oktober 2012 - BVerwG 1 B 18.12 - Buchholz 402.242 § 54 AufenthG Nr. 13 Rn. 2). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

4 1. Die Frage, „ob der über Artikel 4 Abs. 2 lit. a FamZRL begünstigte Personenkreis (vorliegend die Mutter zu ihrer erwachsenen Tochter) im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG privilegiert ist, so dass in diesem Falle von einer außergewöhnlichen Härte auszugehen ist“, würde sich in einem Revisionsverfahren auch dann nicht stellen, wenn unterstellt wird, dass die Richtlinie überhaupt anwendbar sei. Denn das Berufungsgericht (UA S. 11, 19) hat mit Blick darauf, dass die Klägerin in ihrem Heimatland mit ihrer Schwester und ihrem Neffen zusammenlebe, bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des optionalen Zusammenführungstatbestandes des Art. 4 Abs. 2 lit. a Richtlinie 2003/86/EG verneint, dass der nachzugswillige Elternteil in seinem Herkunftsstaat keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben dürfe. Diese tatsächliche Feststellung, die die Beschwerde nicht mit Verfahrensrügen angegriffen hat, bindet den Senat (§ 137 Abs. 2 VwGO). Für eine überschießende Umsetzung in das nationale Recht, nach der bei den in Art. 4 Abs. 2 lit. a Richtlinie 2003/86/EG genannten Personen unabhängig von den in der Richtlinie genannten Voraussetzungen stets eine „außergewöhnliche Härte“ im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszugehen sei, fehlt jeder Anhalt; sie ist nach den Voraussetzungen, die in der Rechtsprechung des Senats für den Nachzug sonstiger Familienangehöriger in Fällen außergewöhnlicher Härte geklärt sind (Urteile vom 10. März 2011 - BVerwG 1 C 7.10 - Buchholz 402.242 § 7 AufenthG Nr. 5 Rn. 10 und vom 18. April 2013 - BVerwG 10 C 10.12 - BVerwGE 146, 198 = Buchholz 402.242 § 2 AufenthG Nr. 7, jeweils Rn. 37 ff.) auszuschließen.

5 2. Im Hinblick auf die von der Klägerin aufgeworfene Frage, „ob das erkennende Gericht bei Vorliegen eines medizinischen Sachverständigengutachtens eine von diesem abweichende, eigene Bewertung zu dem Beweisthema vornehmen kann, ob ein Autonomieverlust im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG anzunehmen ist“, fehlt es bereits an einer (den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden) Darlegung, inwiefern es sich hierbei um eine fallübergreifend zu beantwortende Rechtsfrage handelt. Mit der angeblich fehlerhaften Bewertung der ärztlichen Atteste im vorliegenden Einzelfall lässt sich eine rechtsgrundsätzliche Bedeutung nicht begründen. Die Beantwortung der Frage hängt von den tatsächlichen Umständen des konkreten Einzelfalls ab, insbesondere der Würdigung der vorliegenden ärztlichen Atteste und Gutachten betreffend den psychischen Gesundheitszustand der Klägerin.

6 Unter welchen Voraussetzungen die Angewiesenheit eines älteren Menschen auf familiäre Hilfe eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG darstellen kann, hat das Bundesverwaltungsgericht im Übrigen in seinem Urteil vom 18. April 2013 (a.a.O. jeweils Rn. 38) näher dargelegt.

7 3. Die Revision ist insoweit auch nicht wegen eines allenfalls sinngemäß geltend gemachten Verfahrensmangels (§ 108 VwGO) zuzulassen.

8 Soweit die Beschwerde die vom Berufungsgericht vorgenommene Würdigung der vorliegenden ärztlichen Atteste und Gutachten als unzutreffend und nicht mehr von einer freien Beweiswürdigung gedeckt beanstandet, greift sie der Sache die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts an. Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind aber nach ständiger Rechtsprechung revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzurechnen (vgl. etwa Beschluss vom 19. Oktober 1999 - BVerwG 9 B 407.99 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 11 m.w.N.). Ein Verfahrensverstoß kann ausnahmsweise u.a. dann in Betracht kommen, wenn die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen Denkgesetze verstößt oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet (vgl. etwa Beschlüsse vom 16. Juni 2003 - BVerwG 7 B 106.02 - NVwZ 2003, 1132 <1135> m.w.N., vom 17. Mai 2011 - BVerwG 8 B 88.10 - juris und vom 10. Oktober 2013 - BVerwG 10 B 19.13 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 67). Dass die angefochtene Entscheidung derartige Mängel aufweist, macht die Beschwerde zwar geltend, legt dies indes nicht in einer Weise dar, die den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt.

9 Das Berufungsgericht hat sich eingehend mit den vorgelegten Attesten auseinandergesetzt und dargelegt, dass und aus welchen Gründen sie nicht belegen könnten, dass bei der Klägerin nicht von einer depressiven Erkrankung mit erheblichen Auswirkungen auf die Fähigkeit zur eigenständigen Lebensführung oder dem Risiko einer alsbaldigen Verschlechterung des Gesundheitszustandes ausgegangen werden könne. Das hiergegen gerichtete Vorbringen der Beschwerde lässt eine als Verfahrensfehler zu bewertende Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht einmal ansatzweise erkennen. Zu seiner eigenständigen Bewertung des Aussagegehalts der Atteste war das Berufungsgericht aufgrund eigenen Sachverstands und somit ohne weitere Sachverhaltsaufklärung befugt. Den Gerichten ist es zwar regelmäßig verwehrt, eigene medizinische Bewertungen, etwa zur Schwere und zum Ausmaß einer psychischen Erkrankung vorzunehmen, ohne die hierfür erforderliche Sachkunde zu besitzen (Beschluss vom 28. März 2006 - BVerwG 1 B 91.05 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 12). Die Würdigung ärztlicher Atteste indes ist eine sich in der verwaltungsgerichtlichen Praxis immer wieder stellende Aufgabe; aufgrund der dadurch gewonnenen Erfahrungen ist ein Gericht regelmäßig befähigt, ein ärztliches Attest jedenfalls insoweit zu würdigen, als es um die Mindestanforderungen an die Verwertbarkeit ärztlicher Stellungnahmen oder die Differenzierung zwischen Symptomen und Diagnosen und die ihm insoweit zukommende Aussagekraft geht (Beschluss vom 12. März 2004 - BVerwG 6 B 2.04 - juris). Die vom Berufungsgericht dafür benannten Gründe, dass die Stellungnahme des Psychiaters Dr. L. vom 30. Dezember 2011 nicht den formalen Mindestanforderungen an die Verwertbarkeit ärztlicher Stellungnahmen genüge und daher eine depressive Erkrankung der Klägerin nicht belege, wahren den Wertungsrahmen, der dem Tatrichter durch den Grundsatz freier Beweiswürdigung eröffnet ist, und enthalten keinen Verstoß gegen Denkgesetze, die Gebote, bei der Sachverhalts- und Beweiswürdigung das gesamte Ergebnis des Verfahrens zugrunde zu legen, keinen entscheidungserheblichen Sachverhalt zu übergehen und auch keine aktenwidrigen Tatsachen heranzuziehen oder sonstige Grundsätze richterlicher Überzeugungsbildung.

10 4. Auch dem übrigen Vorbringen der Klägerin lässt sich keine bestimmte abstrakte, klärungsbedürftige Rechtsfrage zu einer Norm des revisiblen Rechts entnehmen.

11 Soweit die Klägerin vorträgt, eine grundsätzliche Bedeutung der vorliegenden Sache folge bereits aus den divergierenden Rechtsauffassungen von Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht, geht diese Auffassung fehl. Der Umstand, dass die Instanzgerichte eine Rechtsfrage unterschiedlich beantworten („Difformität“), macht diese aus Sicht des Revisionsgerichts noch nicht klärungsbedürftig (Czybulka, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 132 Rn. 57). Überdies haben Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht auf der Grundlage eines im Kern übereinstimmenden rechtlichen Ansatzes lediglich den Sachverhalt, insbesondere die Betreuungssituation und die zum Gesundheitszustand vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und Atteste, unterschiedlich bewertet.

12 5. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

13 6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 2, § 52 Abs. 2 GKG.