Beschluss vom 03.09.2003 -
BVerwG 7 B 45.03ECLI:DE:BVerwG:2003:030903B7B45.03.0

Beschluss

BVerwG 7 B 45.03

  • VG Dresden - 16.01.2003 - AZ: VG 1 K 3081/98

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. September 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht S a i l e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H e r b e r t und N e u m a n n
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 16. Januar 2003 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 18 000 € festgesetzt.

Der Kläger beansprucht die Feststellung seiner Rückübertragungsberechtigung in Bezug auf Flurstücke, die seine Rechtsvorgänger durch notariellen Kaufvertrag vom 26. September 1973 zum Zweck des Wohnungsbaus an den VEB Kommunale Wohnungsverwaltung in Volkseigentum veräußerten. Sein Begehren blieb im Verwaltungsverfahren erfolglos. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, weil der Grundstücksverkauf nicht auf unlauteren Machenschaften beruht habe. Das Verwaltungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Klägers hat mit dem Ergebnis Erfolg, dass das angegriffene Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen wird.
Die Beschwerde rügt zu Recht einen Verfahrensfehler durch Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat die Begleitumstände des Herzinfarkts des Vaters des Klägers im Oktober 1972 als wahr unterstellt, den Fortbestand des dabei ausgeübten Verkaufsdrucks bis zum Abschluss des notariellen Vertrags aber verneint. Eine Entscheidung stellt sich als unzulässiges "Überraschungsurteil" dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten; das Gericht ist allerdings nicht verpflichtet, den Beteiligten bereits vor dem Ergehen einer Entscheidung seine Rechtsauffassung zu offenbaren. Das angegriffene Urteil genügt diesen Anforderungen nicht. Der anwaltlich vertretene Kläger musste aufgrund der mündlichen Verhandlung nicht erwarten, dass das Verwaltungsgericht sein Vorbringen zum Verkaufsdruck im Oktober 1972 als für die Veräußerung im September 1973 nicht mehr ursächlich bewerten würde. Nach der Wahrunterstellung des Verwaltungsgerichts war davon auszugehen, dass der Vater des Klägers im Oktober 1972 einen Herzinfarkt erlitten und auf der Fahrt ins Krankenhaus dem Kläger sowie bei der ärztlichen Erstversorgung im Krankenhaus dem als Zeugen benannten Arzt Peter B. berichtete, wie staatliche Stellen ihn wegen des Verkaufs der Grundstücke unter nötigenden Druck gesetzt hatten. Der Herzinfarkt war nach dem Klagevorbringen ursächliche Folge eines Gesprächs, das ein Mitarbeiter der Staatssicherheit mit dem Vater des Klägers wegen des von diesem abgelehnten Grundstücksverkaufs geführt hatte. Angesichts dessen hat das Verwaltungsgericht seine prozessuale Fürsorgepflicht verletzt, weil es in der mündlichen Verhandlung nicht auf die Möglichkeit hingewiesen hat, dass die von ihm unterstellte Nötigungssituation für den Vertragsabschluss nicht mehr ursächlich gewesen sein könnte. Abgesehen davon, dass der Wegfall der Kausalität eines mit derart schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen verbundenen Vorgangs binnen weniger Monate kaum vorstellbar ist, hätte das Verwaltungsgericht dem Kläger jedenfalls durch Gewährung des rechtlichen Gehörs die Möglichkeit einräumen müssen, zu diesem bislang nicht erörterten Umstand Stellung zu nehmen und darzulegen, dass der Verkaufsdruck bis zur Einleitung der notariellen Veräußerung tatsächlich fortbestand. Hiervon durfte das Verwaltungsgericht auch nicht deshalb absehen, weil der Kläger den Zeugen B. erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung benannt hat. Das angegriffene Urteil beruht auf dem gerügten Verfahrensfehler, weil nicht auszuschließen ist, dass das Verwaltungsgericht bei ordnungsgemäßer Verfahrensweise eine dem Kläger günstigere Entscheidung getroffen hätte. Unter diesen Umständen kann offen bleiben, ob das Verwaltungsgericht auch gegen den Überzeugungsgrundsatz verstoßen hat, indem es aus der Aussage des Zeugen O. geschlossen hat, dass der Kläger bereits im September 1973 wegen der Ablehnung des Grundstücksverkaufs durch seinen Vater keine beruflichen Nachteile mehr habe befürchten müssen, obwohl er erst im Jahr 1974 eine neue Stelle angetreten hat.
Der Senat nimmt den dem Verwaltungsgericht unterlaufenen Verfahrensfehler zum Anlass, gemäß § 133 Abs. 6 VwGO durch Beschluss zu entscheiden. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.