Beschluss vom 01.02.2006 -
BVerwG 4 B 78.05ECLI:DE:BVerwG:2006:010206B4B78.05.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 01.02.2006 - 4 B 78.05 - [ECLI:DE:BVerwG:2006:010206B4B78.05.0]

Beschluss

BVerwG 4 B 78.05

  • Bayerischer VGH München - 22.09.2005 - AZ: VGH 14 B 03.2916

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 1. Februar 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w ,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. J a n n a s c h und die Richterin
am Bundesverwaltungsgericht Dr. P h i l i p p
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungs-gerichtshofs vom 22. September 2005 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

2 1. Die Verfahrensrügen greifen nicht durch.

3 1.1 Die Beschwerde meint, dass der Verwaltungsgerichtshof die nähere Umgebung aufgrund unzureichender tatsächlicher Feststellungen als faktisches Gewerbegebiet qualifiziert habe. In der für den Gebietscharakter nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs maßgeblichen Umgebung befänden sich nicht nur die drei im Urteil angeführten, sondern insgesamt zwölf Wohngrundstücke, die einen durch reine Wohnbebauung geprägten Bebauungszusammenhang bildeten. Dass der Verwaltungsgerichtshof dies nicht festgestellt habe, stelle einen Aufklärungsmangel dar.

4 Das trifft nicht zu. Der Verwaltungsgerichtshof war nach seiner - für die Prüfung eines Verfahrensfehlers maßgebenden (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. März 1987 - BVerwG 6 C 10.84 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 183, stRspr) - materiellrechtlichen Rechtsauffassung nicht verpflichtet, die Nutzung der von der Beschwerde bezeichneten Grundstücke weiter aufzuklären und hierzu im Urteil Feststellungen zu treffen. Der Verwaltungsgerichtshof ist, ohne sich hinsichtlich der Abgrenzung der maßgebenden näheren Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 2 BauGB im Einzelnen festzulegen, davon ausgegangen, dass es für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Schutz der von ihr ausgeübten Wohnnutzung vor allem auf die Prägung des klägerischen Grundstücks selbst und seiner Nachbarschaft ankommt (vgl. UA S. 7). Angesichts der starken gewerblichen Prägung der unmittelbaren Umgebung des Grundstücks der Klägerin, insbesondere durch den Supermarkt "Lidl" und den Bekleidungsmarkt "Takko", hat er der weiteren, nicht mehr unmittelbar an die Bremer Straße angrenzenden Umgebung, in der sich nach dem Vorbringen der Beschwerde die weiteren Wohngrundstücke befinden, keine entscheidungserhebliche Bedeutung beigemessen. Damit bestand für ihn kein Anlass, auf die Nutzung dieser Grundstücke näher einzugehen.

5 1.2 Der Verwaltungsgerichtshof hätte auch nicht - wie die Beschwerde meint - von Amts wegen ein Sachverständigengutachten zur Verkehrsdichte in der Bremer Straße einholen müssen. Die Erforderlichkeit eines solchen Gutachtens musste sich ihm nicht aufdrängen. Die Klägerin hatte die Ergebnisse der von der Beklagten im Augenscheinstermin vorgelegten Verkehrszählung nicht substantiiert bestritten. Sie hatte weder eine Schriftsatzfrist beantragt noch auf mündliche Verhandlung bestanden, um zu der Verkehrszählung weiter Stellung nehmen zu können. Im Übrigen war die Klägerin bei ihrer Schätzung der Verkehrsdichte noch davon ausgegangen, dass die Bremer Straße als "Schleichweg" zur Umgehung einer Ampel benutzt würde. Der Schleichverkehr ist aber nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs durch die Errichtung der Schrankenanlage unterbunden worden (vgl. UA S. 3, 9).

6 1.3 Ebenso wenig musste der Verwaltungsgerichtshof von Amts wegen das Gutachten eines Lärmsachverständigen einholen, um die durch den Kfz-Verkehr verursachten Lärmbelastungen des klägerischen Grundstücks genauer zu ermitteln. Die auf der Grundlage der Verkehrszählung der Beklagten vorgenommene eigene Abschätzung des Verwaltungsgerichtshofs hatte eine Geräuschbelastung des klägerischen Grundstücks ergeben, die deutlich unter den - vom Verwaltungsgerichtshof als Orientierungs- und Anhaltspunkt für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze herangezogenen - Werten der TA Lärm, der DIN 18005 und der 16. BImSchV für Gewerbegebiete lag. Dass die nur einem Sachverständigen mögliche Berücksichtigung u.a. einer etwaigen Verengung der Bremer Straße durch parkende Fahrzeuge hieran wesentliches hätte ändern können und dass sich dies dem Verwaltungsgerichtshof hätte aufdrängen müssen, zeigt die Beschwerde nicht auf.

7 1.4 Die Beschwerde legt auch nicht - wie dies erforderlich wäre (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328) - dar, in welcher Weise der Verwaltungsgerichtshof die Verkehrssituation vor dem klägerischen Grundstück weiter hätte aufklären sollen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Örtlichkeit in Augenschein genommen. Die Kritik der Beschwerde daran, dass er das Ergebnis der Beweisaufnahme tatrichterlich nicht in der von der Klägerin geforderten Weise gewürdigt hat, kann einen Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht begründen; die Grundsätze der Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich dem sachlichen Recht zuzurechnen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Januar 1995 - BVerwG 4 B 197.94 - Buchholz 406.12 § 22 BauNVO Nr. 4; Beschluss vom 10. Februar 1978 - BVerwG 1 B 13.78 - Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 8).

8 1.5 Ebenso wenig liegt ein Verfahrensmangel darin, dass der Verwaltungsgerichtshof anlässlich der Augenscheinseinnahme keine Feststellungen zu der Frage in das Protokoll aufgenommen hat, ob die Beigeladene die Zu- und Abfahrt zur Bremer Straße abweichend von der Baugenehmigung vergrößert hat. Dass der Verwaltungsgerichtshof die Zu- und Abfahrt zur Bremer Straße in Augenschein genommen hat, stellt die Beschwerde selbst nicht in Abrede. Die Frage, ob die Zu- und Ausfahrt der Baugenehmigung entsprach, war nach seiner Rechtsauffassung nicht entscheidungserheblich.

9 1.6 Ein Verfahrensmangel ist auch nicht dadurch bezeichnet, dass der Verwaltungsgerichtshof aus dem unstreitigen Umstand, dass das Grundstück der Beigeladenen über eine Zufahrt nicht nur zur Bremer, sondern auch zur Erlanger Straße verfügt, nicht die von der Klägerin geforderten Schlüsse gezogen hat.

10 1.7 Die Beschwerde meint, der Verwaltungsgerichtshof habe den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, weil er ihr das Protokoll über die Augenscheinseinnahme erst zusammen mit dem Urteil zugestellt hat. Sie legt jedoch nicht - wie dies für die schlüssige Erhebung einer Gehörsrüge erforderlich wäre - dar, zu welchen im Protokoll festgestellten und für die Entscheidung erheblichen Tatsachen sie sich nicht bereits im Ortstermin, bei dem sie anwesend war, äußern konnte und was sie bei ausreichender Gehörsgewährung noch vorgetragen hätte. Im Übrigen hat sie nicht die verfahrensrechtlich eröffneten und nach Lage der Dinge tauglichen Möglichkeiten ausgeschöpft, sich in der Vorinstanz rechtliches Gehör zu verschaffen (zu dieser Voraussetzung vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2005 - BVerwG 4 BN 1.05 - NVwZ 2005, 584). Sie hat nicht auf die Ergänzung des Protokolls hingewirkt und sowohl auf das Abspielen des in ihrer Gegenwart diktierten Protokolls als auch auf mündliche Verhandlung verzichtet.

11 1.8 Das Urteil stellt sich schließlich nicht als unzulässiges Überraschungsurteil dar. Eine Überraschungsentscheidung liegt nur vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit welcher insbesondere der unterlegene Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Februar 2004 - BVerwG 4 B 110.03 - juris Rn. 8). Ein Urteil kann danach insbesondere überraschend sein, wenn die das Urteil tragende Erwägung weder im gerichtlichen Verfahren noch im früheren Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren erkennbar thematisiert worden war. Das ist hier ersichtlich nicht der Fall. Die Beteiligten hatten sich im gerichtlichen Verfahren sowohl zum Charakter des Gebiets als auch zur Verkehrsdichte und der dadurch verursachten Lärmbelastung des klägerischen Grundstücks geäußert. Das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, erfordert nicht, dass das Gericht den Beteiligten bereits in der mündlichen Verhandlung unter Vorwegnahme der anschließenden Beratung seine Würdigung des Tatsachenvorbringens der Beteiligten mitteilt.

12 2. Die Rechtssache hat auch nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde beimisst. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist nur gegeben, wenn die Rechtssache eine für die Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage aufwirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Daran fehlt es, wenn die Beurteilung der Sache ausschlaggebend von der Würdigung der konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls abhängt und demgemäß nicht auf eine Rechtsfrage führt, die sich in verallgemeinerungsfähiger Weise beantworten lässt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. April 1989 - BVerwG 1 B 54.89 - NVwZ-RR 1990, 220). Die Beschwerde zeigt nicht ansatzweise auf, zu welchen verallgemeinerungsfähigen, über die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hinausgehenden Erkenntnissen die Beantwortung der von ihr zur Zumutbarkeit der konkreten Grundstückssituation und zur Erforderlichkeit von Sachverständigengutachten aufgeworfenen Fragen führen sollte.

13 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertentscheidung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1, § 72 Nr. 1 GKG.