Verfahrensinformation

Die Kläger der drei Verfahren sind irakische Staatsangehörige, die wegen drohender Verfolgung durch das Regime Saddam Husseins in den Jahren 1997 bzw. 2002 als Flüchtlinge anerkannt wurden. Im Jahr 2005 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wegen der geänderten Verhältnisse im Irak ihre Flüchtlingsanerkennungen. Die Verwaltungsgerichte gaben den Klagen gegen die Widerrufsbescheide jeweils statt, während die Berufungsgerichte die Klagen abwiesen. In den Revisionsverfahren geht es in allen drei Verfahren u.a. um die Frage, ob der Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung nach der durch das Zuwanderungsgesetz mit Wirkung ab 1. Januar 2005 eingefügten Vorschrift des § 73 Absatz 2a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG)* eine Ermessensentscheidung erfordert, wenn er nach dem 1. Januar 2005 ausgesprochen wird, sich aber auf eine Anerkennung vor diesem Zeitpunkt bezieht.


  • § 73 Abs. 2a AsylVfG lautet: „(2a) Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach Absatz 1 oder eine Rücknahme nach Absatz 2 vorliegen, hat spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen. Das Ergebnis ist der Ausländerbehörde mitzuteilen. Ist nach der Prüfung ein Widerruf oder eine Rücknahme nicht erfolgt, so steht eine spätere Entscheidung nach Absatz 1 oder Absatz 2 im Ermessen. Bis zur Bestandskraft des Widerrufs oder der Rücknahme entfällt für Einbürgerungsverfahren die Verbindlichkeit der Entscheidung über den Asylantrag.“

Pressemitteilung Nr. 15/2007 vom 20.03.2007

Widerruf der Flüchtlingsanerkennung von Irakern

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute in mehreren Verfahren über den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung von irakischen Staatsangehörigen entschieden, die noch zu Zeiten des Regimes Saddam Husseins nach Deutschland geflohen und hier als Flüchtlinge anerkannt worden waren. In den drei Fällen ging es vor allem um die in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung umstrittene verfahrensrechtliche Frage, ob Widerrufsbescheide des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) eine Ermessensentscheidung erfordern, wenn sie nach dem 1. Januar 2005 ergangen sind, sich aber auf Anerkennungen vor diesem Zeitpunkt beziehen. Das Erfordernis einer solchen Ermessensentscheidung ist in der mit Wirkung ab 1. Januar 2005 eingefügten Vorschrift des § 73 Abs. 2a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG)* geregelt. Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass die neue Vorschrift zwar im Grundsatz auch in derartigen Altfällen anwendbar ist. Es hat in allen drei Fällen aber eine Ermessensausübung des Bundesamts deshalb nicht für erforderlich gehalten, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt waren.


Die Kläger der drei Ausgangsverfahren sind in den Jahren zwischen 1997 und 2001 nach Deutschland eingereiste irakische Staatsangehörige, die das Bundesamt als Flüchtlinge anerkannt hatte, weil sie schon wegen der Stellung eines Asylantrags im Ausland mit Verfolgung durch das Regime Saddam Husseins hätten rechnen müssen. Im Jahr 2005 hat das Bundesamt diese Anerkennungen widerrufen, weil die Verfolgungsgefahr im Irak nach der Beseitigung dieses Regimes endgültig weggefallen sei und den Klägern auch nicht aus anderen Gründen neue Verfolgung drohe. Diese Entscheidungen sind als sogenannte gebundene Entscheidungen ohne Ausübung behördlichen Ermessens ergangen. Die Verwaltungsgerichte haben die Widerrufe zum Teil wegen Fehlens von Ermessenserwägungen nach § 73 Abs. 2a AsylVfG aufgehoben. Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) München und das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster haben dagegen die Widerrufsbescheide als rechtmäßig bestätigt. Sie haben dies damit begründet, dass den Klägern nach der Entmachtung Saddam Husseins und der Zerschlagung seines Regimes keine Verfolgungsmaßnahmen im Irak mehr drohten, und haben eine Ermessensausübung des Bundesamts nach dem neuen § 73 Abs. 2a AsylVfG nicht für erforderlich gehalten.


Das Bundesverwaltungsgericht hat die Auffassung der Obergerichte zu § 73 Abs. 2a AsylVfG im Ergebnis bestätigt. Die Vorschrift ist zwar im Grundsatz auch auf vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar gewordene Anerkennungen anwendbar. Das bedeutet aber nicht etwa, dass nach Ablauf von drei Jahren seit Unanfechtbarkeit der Anerkennung ein Widerruf nur noch im Wege einer für den Anerkannten günstigeren Ermessensentscheidung getroffen werden kann und darf. Denn nach dem in § 73 Abs. 2a AsylVfG vorgesehenen neuen zweistufigen Verfahren ist ein solches Ermessen erst dann eröffnet, wenn eine vorangegangene erste Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen stattgefunden und nicht zu einem Widerruf geführt hat (Negativentscheidung). Daran fehlt es in den vorliegenden Fällen. Darüber hinaus war auch die dem Bundesamt in der Vorschrift nunmehr gesetzte Frist für eine derartige erste Prüfung („spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Anerkennung“) noch nicht abgelaufen, da diese neue Frist bei Altfällen erst mit dem Inkrafttreten der Vorschrift am 1. Januar 2005 zu laufen begonnen hat. Die Frage, was bei einer Versäumung der Prüfungsfrist zu gelten hat, stellte sich daher in den vorliegenden Fällen nicht.


Das Bundesverwaltungsgericht hat in den beiden vom VGH München entschiedenen Fällen deshalb die Revisionen der Kläger zurückgewiesen, soweit sie den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung betrafen. Die materiellrechtlichen Voraussetzungen für den Widerruf der Anerkennungen lagen nach den revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen des VGH über die tatsächlichen Verhältnisse im Irak vor. Die Widerrufsregelung in der EU-Qualifikationsrichtlinie (2004/83/EG) ist wegen ihrer Beschränkung auf nach dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellte Schutzanträge (Art. 14 Abs. 1) hier noch nicht anwendbar. In einem der beiden Fälle hat das Bundesverwaltungsgericht allerdings die Sache bezüglich des hilfsweise geltend gemachten weiteren Begehrens auf subsidiären ausländerrechtlichen Abschiebungsschutz an den VGH zurückverwiesen, weil dieser bislang einen solchen Anspruch des Klägers noch nicht geprüft hat.


Die Entscheidung des OVG Münster über den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung hat das Bundesverwaltungsgericht dagegen aufgehoben. Die Klägerin dieses Verfahrens hat vorgetragen, sie sei eine alleinerziehende Mutter und würde wegen Verlassens ihres Ehemannes bei einer Rückkehr in den Irak keine Aufnahme in ihrer Familie finden. Sie hat sich unter Hinweis auf eine Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe sinngemäß auf eine geschlechtsspezifische Verfolgung alleinstehender Frauen ohne familiären Rückhalt durch private Akteure berufen. Da das OVG diese Frage nicht näher untersucht und auf zu schmaler Tatsachengrundlage verneint hat, ist das Verfahren insoweit zur Nachholung der notwendigen Feststellungen an das OVG zurückverwiesen worden.


BVerwG 1 C 21.06 - Urteil vom 20.03.2007

BVerwG 1 C 34.06 - Urteil vom 20.03.2007

BVerwG 1 C 38.06 - Urteil vom 20.03.2007


Beschluss vom 26.10.2006 -
BVerwG 1 B 143.06ECLI:DE:BVerwG:2006:261006B1B143.06.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 26.10.2006 - 1 B 143.06 - [ECLI:DE:BVerwG:2006:261006B1B143.06.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 143.06

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 28.06.2006 - AZ: OVG 9 A 259/06.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 26. Oktober 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
beschlossen:

  1. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen über die Nichtzulassung der Revision gegen sein Urteil vom 28. Juni 2006 wird aufgehoben, soweit sie sich auf den Hauptantrag der Klägerin auf Aufhebung des Widerrufsbescheids des Bundesamts vom 16. November 2005 bezieht.
  2. Die Revision wird insoweit zugelassen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe

1 Die Beschwerde der Klägerin, die sich ersichtlich nur auf ihren Hauptantrag auf Aufhebung des Widerrufsbescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. November 2005 bezieht und im Übrigen (hinsichtlich des vom Berufungsgericht ebenfalls negativ beschiedenen Hilfsantrags auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) auch keine Rügen erhebt, ist begründet.

2 Die Revision ist gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO insoweit wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Sie kann dem Bundesverwaltungsgericht Gelegenheit zur Klärung der Frage geben, ob § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG auf Widerrufsbescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge anwendbar ist, die nach dem 1. Januar 2005 ergangen sind, sich aber auf einen Anerkennungsbescheid (hier: nach § 51 Abs. 1 AuslG) aus der Zeit vor dem 1. Januar 2005 beziehen.

3 Auf die von der Beschwerde erhobene weitere Grundsatzrüge zum Prognosemaßstab in Widerrufsfällen, in denen eine aus anderen Gründen drohende Verfolgung im Heimatland geltend gemacht wird, kommt es danach nicht an. Im Übrigen hätte die Rüge voraussichtlich keinen Erfolg gehabt, weil die Frage inzwischen rechtsgrundsätzlich geklärt ist. Der Senat verweist insoweit auf seinen Beschluss vom 19. Oktober 2006 - BVerwG 1 B 125.06 - zu einer entsprechenden Rüge des dortigen, ebenfalls von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin vertretenen Beschwerdeführers.

4 Soweit das Berufungsgericht den Hilfsantrag der Klägerin auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG abgewiesen hat, ist das Berufungsurteil rechtskräftig geworden. Die Rechtskraft ist allerdings auflösend bedingt durch den Erfolg der Klägerin mit ihrem noch nicht rechtskräftig beschiedenen Hauptantrag.
Rechtsmittelbelehrung
Das Beschwerdeverfahren wird als Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen BVerwG 1 C 34.06 fortgesetzt; der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht, Simsonplatz 1, 04107 Leipzig, schriftlich oder in elektronischer Form (Verordnung vom 26. November 2004, BGBl I S. 3091) einzureichen.
Für den Revisionskläger besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Revision. Der Revisionskläger muss sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtigten vertreten lassen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst, Gebietskörperschaften ferner durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt der zuständigen Aufsichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen Spitzenverbandes des Landes, dem sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen. In derselben Weise muss sich jeder Beteiligte vertreten lassen, soweit er einen Antrag stellt.

Urteil vom 20.03.2007 -
BVerwG 1 C 34.06ECLI:DE:BVerwG:2007:200307U1C34.06.0

Urteil

BVerwG 1 C 34.06

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 28.06.2006 - AZ: OVG 9 A 259/06.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 20. März 2007
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann und Richter,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. Juni 2006 wird aufgehoben, soweit es sich auf den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung (Nr. 2 und 3 des Bescheides vom 16. November 2005) bezieht.
  2. Die Sache wird insoweit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
  4. Die Klägerin trägt zwei Drittel der Kosten des Verfahrens in erster Instanz und zwei Drittel der Kosten des bisherigen Verfahrens in zweiter Instanz sowie die Hälfte der Kosten des Revisionsverfahrens. Im Übrigen bleibt die Entscheidung über die Kosten der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I

1 Die Klägerin wendet sich gegen den Widerruf ihrer Asylanerkennung und ihrer Flüchtlingsanerkennung (Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG).

2 Die 1977 in Bagdad geborene Klägerin ist irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie lebte vor ihrer Ausreise mit ihrem Ehemann in der Gegend von Diala. Im Januar 1997 kam sie mit ihrem Ehemann in die Bundesrepublik Deutschland und beantragte Asyl. Dabei berief sie sich im Wesentlichen auf die Asylgründe ihres Ehemannes. Dieser hatte geltend gemacht, vom irakischen Geheimdienst gezwungen worden zu sein, Kontakte zur Al-Dawa-Partei aufzunehmen, um Informationen über diese Partei und ihre Beziehungen zum Iran zu liefern; er sei zum Schein auf dieses Angebot eingegangen, nach seiner Freilassung aber zusammen mit seiner Ehefrau aus dem Irak geflohen. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - stellte mit Bescheid vom 19. Februar 1997 zunächst zugunsten der Klägerin nur fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Irak vorliegen. Auf ein entsprechendes Verpflichtungsurteil des Verwaltungsgerichts erkannte es die Klägerin mit Bescheid vom 27. August 1998 auch als Asylberechtigte an. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts war die Klägerin als kurdische Volkszugehörige im Irak einer Gruppenverfolgung ausgesetzt, ohne dass ihr eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung gestanden hätte. Außerdem drohe ihr wegen der Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland die Gefahr politischer Verfolgung durch das dortige Regime.

3 Im März 2005 teilte das Bundesamt der Klägerin mit, dass es beabsichtige, die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung zu widerrufen, da sich die politische Situation im Irak grundlegend geändert habe. Die Klägerin machte daraufhin geltend, sie habe nach Gewalttätigkeiten ihres Ehemannes den Kontakt zu diesem abgebrochen und um Hilfe für sich und das 1999 geborene gemeinsame Kind im Frauenhaus nachgesucht. Aufgrund der Eheprobleme müsse sie im Falle ihrer Rückkehr in den Irak mit Bedrohung und Belästigung nicht nur von Seiten der Familienangehörigen ihres Ehemannes, sondern auch durch ihre eigene Familie rechnen. Eine Aufnahme in den alten Familienverband sei nicht möglich, da dieser der Auffassung sei, ihr Verhalten sei mit dem islamischen Glauben nicht vereinbar. Darüber hinaus sei ihr als alleinstehender Frau und alleinerziehender Mutter aufgrund der allgemeinen Situation im Irak eine Rückkehr dorthin nicht zumutbar.

4 Mit Bescheid vom 16. November 2005 widerrief das Bundesamt die Asylanerkennung (Nr. 1 des Bescheides) sowie die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen (Nr. 2 des Bescheides), und stellte fest, dass weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 3 des Bescheides) noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen (Nr. 4 des Bescheides). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die politische Situation im Irak habe sich durch die Militäraktion unter Führung der USA seit März 2003 grundsätzlich verändert. Die Baath-Regierung unter Saddam Hussein habe ihre politische und militärische Herrschaft über den Irak verloren. Anhaltspunkte für eine Wiedererlangung der Macht durch dieses Regime gebe es nicht. Es sei auch nichts dafür ersichtlich, dass von der neu gebildeten irakischen Übergangsregierung politische Verfolgung ausgehe. Die Klägerin habe ferner nicht dargelegt, dass sie der Gefahr nichtstaatlicher politischer Verfolgung ausgesetzt wäre, wenn sie in den Irak zurückkehren müsse.

5 Auf die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht den Widerrufsbescheid des Bundesamts aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt, angesichts der hochgradig instabilen Lage im Irak könne von einer dauerhaften und stabilen Änderung der politischen Verhältnisse, die den Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung rechtfertige, nicht ausgegangen werden. Außerdem sei der Widerruf unter Verstoß gegen § 73 Abs. 2a AsylVfG nicht als Ermessensentscheidung, sondern als gebundene Entscheidung ergangen. In Altfällen wie dem der Klägerin sei eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift in der Art geboten, dass nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der positiven Statusentscheidung ein Widerruf nur noch im Wege einer Ermessensentscheidung möglich sei.

6 Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht durch Urteil vom 28. Juni 2006 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Widerrufsentscheidung des Bundesamts sei rechtmäßig. Das bisherige Regime Saddam Husseins habe seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die im März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren. Eine Rückkehr des alten Regimes sei nach den aktuellen Machtverhältnissen ebenso ausgeschlossen wie die Bildung einer Struktur, die eine vom früheren Regime gesehene Gegnerschaft als solche übernehme und erneut (wiederholend) verfolge. Dies gelte auch nach der Herstellung der Souveränität des Irak im Juni 2004 und mit Blick auf die durch Referendum vom 15. Oktober 2005 angenommene neue Irakische Verfassung sowie die Ende Mai 2006 gebildete neue Regierung unter Beteiligung von Schiiten, Sunniten und Kurden. Damit liege eine nachträgliche entscheidungserhebliche Veränderung der maßgeblichen Verhältnisse vor, die sowohl die Bindungswirkung des rechtskräftigen, zur Asylanerkennung verpflichtenden verwaltungsgerichtlichen Urteils beende als auch den Widerruf der ursprünglichen Anerkennungen rechtfertige. Dabei könne auf sich beruhen, ob die Klägerin den Irak unter dem Druck erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung durch das Regime Saddam Husseins verlassen habe. Denn sie sei vor einem Wiederaufleben einer gleichartigen Verfolgung hinreichend sicher. Ihr drohe auch nicht aus anderen Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut eine - wie auch immer geartete - Verfolgung im Sinne von Art. 16a GG bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG. Greifbare Anhaltspunkte für asylerhebliche Übergriffe von Seiten der neu gebildeten irakischen Regierung oder dem irakischen Staat sonst zurechenbarer Kräfte einschließlich der multinationalen Streitkräfte oder der kurdischen Parteien im Nordirak ließen sich den aktuellen Erkenntnissen nicht entnehmen. Auch für eine nichtstaatliche Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. b und c AufenthG gebe das Vorbringen der Klägerin nichts Tragfähiges her. Soweit es nach wie vor insbesondere zu terroristischen Anschlägen und fortgesetzten offenen Kampfhandlungen zwischen militanter Opposition sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften komme, sei nicht erkennbar, dass dieses Geschehen bezogen auf die Klägerin an asylerhebliche Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG anknüpfe. Auch § 73 Abs. 2a AsylVfG führe nicht zur Rechtswidrigkeit der Widerrufsentscheidung. Die Norm sei im vorliegenden Fall weder direkt noch analog anwendbar. Im Übrigen könne die Klägerin auch nicht die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG beanspruchen.

7 Mit der vom Senat beschränkt auf den Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung zugelassenen Revision erstrebt die Klägerin, das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen. Sie macht vor allem geltend, die Widerrufsentscheidung hätte nach § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG als Ermessensentscheidung ergehen müssen. Die gebundene Entscheidung, die das Bundesamt getroffen habe, sei daher rechtswidrig.

8 Die Beklagte verteidigt das angegriffene Berufungsurteil.

II

9 Die Revision ist nur teilweise begründet. Das Oberverwaltungsgericht hat den Widerruf der Asylanerkennung der Klägerin in Übereinstimmung mit Bundesrecht als rechtmäßig angesehen. Insoweit hat die Revision keinen Erfolg (1.). Soweit das Berufungsgericht dagegen auch den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung als rechtmäßig bestätigt hat, ist die Revision begründet (2.). Das Berufungsurteil beruht insoweit auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da der Senat auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst entscheiden kann, ob der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung durch den angefochtenen Bescheid rechtmäßig ist, ist die Sache insoweit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

10 1. Das Berufungsgericht hat den Widerruf der Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte (Nr. 1 des Bescheides) im Ergebnis zu Recht als rechtmäßig bestätigt.

11 a) Es ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass der angefochtene Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG als gebundene Entscheidung ergehen konnte und nicht nach Maßgabe von § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG eine Ermessensausübung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) erforderte. Zwar gilt § 73 Abs. 2a AsylVfG grundsätzlich auch für den nach dem 1. Januar 2005 ausgesprochenen Widerruf von Anerkennungen, die vor diesem Zeitpunkt unanfechtbar geworden sind, allerdings mit der Maßgabe, dass die darin vorgesehene neue Drei-Jahres-Frist, nach deren Ablauf das Bundesamt spätestens erstmals die Widerrufsvoraussetzungen prüfen muss, erst vom 1. Januar 2005 an zu laufen beginnt. Dies hat der Senat im Einzelnen in seinem Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 1 C 21.06 (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) ausgeführt. Hierauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

12 Für den Fall der Klägerin bedeutet dies, dass § 73 Abs. 2a AsylVfG zwar auf den angefochtenen Widerrufsbescheid anwendbar ist, dass aber die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung des Bundesamts in ihrem Fall nicht erfüllt sind, weil es an der erforderlichen vorherigen Prüfung und Verneinung der Widerrufsvoraussetzungen durch das Bundesamt fehlt. Eine solche Negativentscheidung ist auch nicht etwa pflichtwidrig unterblieben, denn die ab 1. Januar 2005 laufende Drei-Jahres-Frist war zum Zeitpunkt des Widerrufs noch nicht abgelaufen. Es kann deshalb offen bleiben, welche Rechtsfolgen sich an eine pflichtwidrige Unterlassung der Prüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG knüpfen, insbesondere, ob diese Prüfungspflicht nur im öffentlichen Interesse oder nicht zumindest auch im Interesse des anerkannten Asylberechtigten oder Flüchtlings besteht.

13 b) Auch das Vorliegen der sonstigen formellen Voraussetzungen für den Widerruf hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler bejaht. Weder im Hinblick auf die Unverzüglichkeit des Widerrufs im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG noch im Hinblick auf die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG bestehen gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides Bedenken. Denn das Gebot der Unverzüglichkeit des Widerrufs dient ausschließlich öffentlichen Interessen, so dass ein etwaiger Verstoß dagegen keine Rechte des betroffenen Ausländers verletzt (stRspr, vgl. zuletzt Urteil vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 Rn. 13 m.w.N.). Ob die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG auch in Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 1 AsylVfG gilt, bedarf hier weiterhin keiner Entscheidung, da die Jahresfrist, die frühestens nach einer Anhörung der Klägerin mit angemessener Frist zur Stellungnahme zu laufen beginnt (stRspr, vgl. ebenfalls Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. und Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 276 = juris Rn. 43), hier eingehalten wäre. Das Bundesamt hat nämlich die Anerkennung mit Bescheid vom 16. November 2005 widerrufen, nachdem es die Klägerin mit Schreiben vom 11. März 2005 angehört und ihr eine einmonatige Frist zur Stellungnahme gesetzt hatte.

14 c) Das Berufungsgericht hat ferner das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen für den Widerruf der Asylberechtigung der Klägerin im Ergebnis zu Recht bejaht.

15 aa) Rechtsgrundlage für den Widerruf der Asylanerkennung (Nr. 1 des Bescheides) ist § 73 Abs. 1 AsylVfG in der Fassung des am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes. Danach ist - vorbehaltlich des Satzes 3 - die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen (Flüchtlingsanerkennung), unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Dass gegen die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung im Hinblick auf das Grundrecht auf Asyl in Art. 16a GG keine Bedenken bestehen, hat der Senat bereits mehrfach entschieden (vgl. Urteil vom 1. November 2005 a.a.O. juris Rn. 15 m.w.N.; ebenso BVerfG, Beschluss vom 26. September 2006 - 2 BvR 1731/04 - juris). Die abstrakten Anforderungen an den Wegfall der Voraussetzungen im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind im Übrigen für die Asylanerkennung und die Flüchtlingsanerkennung dieselben (vgl. Urteil vom 1. November 2005 a.a.O. juris Rn. 17). Unabhängig davon bleibt zu beachten, dass die Voraussetzungen für die Asylanerkennung und die Flüchtlingsanerkennung selbst und damit auch die Voraussetzungen für den Widerruf beider Anerkennungen - etwa hinsichtlich der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure - voneinander abweichen.

16 Die Anerkennung ist nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG insbesondere zu widerrufen, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht (stRspr, vgl. etwa Urteil vom 1. November 2005 a.a.O. Rn. 17 m.w.N. und Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Rn. 16). Beruft sich der Asylberechtigte darauf, dass ihm bei der Rückkehr in seinen Heimatstaat nunmehr eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung drohe, ist dabei der allgemeine Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden (vgl. Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Leitsatz 2 und Rn. 26 f. zur Flüchtlingsanerkennung). Ändert sich im Nachhinein lediglich die Beurteilung der Verfolgungslage, so rechtfertigt dies den Widerruf nicht (vgl. Urteil vom 1. November 2005 a.a.O. Rn.17 und Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Rn. 26, jeweils m.w.N.). Wegen der weiteren Einzelheiten zur Auslegung von § 73 Abs. 1 AsylVfG wird wiederum auf das Urteil des Senats vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 1 C 21.06 Bezug genommen.

17 bb) Nach diesen Grundsätzen durfte das Berufungsgericht auf der Grundlage seiner im Revisionsverfahren nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und für das Revisionsgericht bindenden (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) tatrichterlichen Feststellungen und Prognosen annehmen, dass die für die Asylanerkennung maßgebliche Gefahr einer Gruppenverfolgung kurdischer Volkszugehöriger und einer Verfolgung wegen der Asylantragstellung der Klägerin in Deutschland nach der Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein inzwischen weggefallen ist. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat dieses Regime seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die am 20. März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren. Eine Rückkehr des alten Regimes ist demzufolge nach den aktuellen Machtverhältnissen ebenso ausgeschlossen wie die „Bildung einer Struktur, die eine vom früheren Regime gesehene Gegnerschaft als solche übernehme“ und erneut (wiederholend) verfolgt (UA S. 6). Die Klägerin ist nach diesen Feststellungen vor einer Wiederholung der der Asylanerkennung zugrunde liegenden Verfolgung künftig hinreichend sicher. Dass bei einer erheblichen nachträglichen Änderung der Sachlage, wie sie ein Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG voraussetzt, auch die Bindungswirkung des zuvor ergangenen rechtskräftigen Verpflichtungsurteils auf Asylanerkennung endet und damit einem Widerruf nicht entgegensteht, hat das Berufungsgericht im Übrigen zutreffend ausgeführt.

18 Auch die weitere Annahme des Berufungsgerichts, dass der Klägerin nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aus anderen Gründen politische Verfolgung im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG droht, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Danach bestehen weder für eine Verfolgung durch die im Mai 2006 gebildete neue irakische Regierung oder ihr zurechenbare Kräfte noch für eine - möglicherweise quasistaatliche - Verfolgung durch die multinationalen Streitkräfte oder durch die kurdischen Parteien im Nordirak irgendwelche Anhaltspunkte. Diese nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen tragen den Schluss, dass die Klägerin nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andersartiger asylerheblicher Verfolgung von staatlicher oder quasistaatlicher Seite ausgesetzt wäre. Die Klägerin hat sich selbst nicht substantiiert auf eine derartige Verfolgung berufen. Ihr Vorbringen zur Bedrohung durch ihre Familienangehörigen oder die ihres Ehemannes sowie zur Gefährdung als alleinstehende Frau und alleinerziehende Mutter ohne den Schutz eines Familienverbandes bezieht sich ersichtlich nur auf eine Gefährdung durch nichtstaatliche Akteure (vgl. unten 2. zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung).

19 Ferner scheitert der Widerruf der Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte auch nicht am Fehlen jeglicher staatlicher oder quasistaatlicher Herrschaftsmacht im Irak im Sinne einer übergreifenden prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtigen Ordnung von gewisser Dauer (vgl. hierzu Urteil vom 20. Februar 2001 - BVerwG 9 C 20.00 - BVerwGE 114, 16 <21 ff.>). Es kann (weiterhin) offen bleiben, ob das völlige Fehlen einer solchen Herrschaftsmacht im Herkunftsstaat - unabhängig vom Wegfall der Verfolgungsgefahr - dem Widerruf der Anerkennung entgegenstünde (vgl. auch Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 1 C 21.06 ). Denn die aufgrund der Wahlen im Dezember 2005 gebildete neue irakische Regierung übt - wie sich aus den Feststellungen des Berufungsgerichts in Verbindung mit im Revisionsverfahren berücksichtigungsfähigen unstreitigen allgemeinkundigen Tatsachen (vgl. Urteil vom 20. Oktober 1992 - BVerwG 9 C 77.91 - BVerwGE 91, 104 <106 f.>) ergibt - mit Hilfe der multinationalen Streitkräfte jedenfalls in Teilen des Staatsgebiets eine De-facto-Gebietsgewalt im Sinne einer übergreifenden prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtigen Ordnung von gewisser Dauer aus, wie es nach der Rechtsprechung des Senats für das Bestehen staatlicher oder quasistaatlicher Gewalt - etwa auch im fortdauernden Bürgerkrieg - ausreicht (vgl. Urteil vom 20. Februar 2001 a.a.O., Urteil vom 1. November 2005 a.a.O. Rn. 28 und Urteil vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 1 C 21.06 ). Zwar hat das Berufungsgericht bei der Prüfung, ob der Klägerin nunmehr eine andersartige Verfolgung im Sinne des Art. 16a GG droht, offen gelassen, ob es sich bei der neu gebildeten irakischen Regierung überhaupt um ein zur politischen Verfolgung fähiges Machtgebilde mit einer prinzipiell schutz- und verfolgungsmächtigen Ordnung von gewisser Stabilität handelt (UA S. 12 f.). Die an anderer Stelle getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts über die seit Wiederherstellung der Souveränität des Irak im Juni 2004 aufgebauten staatlichen Strukturen (UA S. 6 f.) und den Einsatz der multinationalen Streitkräfte belegen aber hinreichend, dass die irakische Regierung jedenfalls mit Hilfe der multinationalen Streitkräfte eine effektive staatliche oder staatsähnliche Gewalt im Sinne der genannten Rechtsprechung zumindest in Teilen des Staatsgebiets inne hat. Dies wird durch die allgemeinkundige und in der mündlichen Verhandlung erörterte unstreitige Tatsache bestätigt, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf Bitten der irakischen Regierung mit der Resolution 1723 vom 28. November 2006 das Mandat der multinationalen Streitkräfte um ein Jahr bis Ende 2007 verlängert hat. Trotz der vom Berufungsgericht festgestellten inneren Bedrohung durch terroristische Anschläge und fortgesetzte offene Kampfhandlungen militanter Opposition kann deshalb derzeit nicht von einem völligen Fehlen prinzipiell verfolgungs- und schutzmächtiger staatlicher oder quasistaatlicher Gewalt im Irak ausgegangen werden. Eine etwaige Verfolgung durch die irakische Regierung oder ihr zurechenbare Kräfte wäre danach ohne weiteres auch als staatliche Verfolgung im Sinne des Art. 16a GG zu qualifizieren.

20 Das Berufungsgericht hat ferner zu Recht das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Absehen vom Widerruf aus Gründen früherer Verfolgung nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG verneint. Es hat mithin den Widerruf der Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte im Ergebnis zutreffend als rechtmäßig bestätigt.

21 2. Hinsichtlich des Widerrufs der Flüchtlingsanerkennung (Nr. 2 und 3 des Bescheides) hält das Berufungsurteil dagegen einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand.

22 a) Allerdings ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass auch der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nicht schon wegen Verstoßes gegen § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG rechtswidrig ist und auch die übrigen formellen Voraussetzungen für den Widerruf vorliegen (vgl. oben zu 1. a und b).

23 b) Das angefochtene Urteil verfehlt auch nicht bereits im Ansatz die vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Maßstäbe zur Auslegung der Widerrufsermächtigung in § 73 Abs. 1 AsylVfG. Wegen dieser Maßstäbe wird wiederum auf die vorstehenden Ausführungen im Rahmen des Widerrufs der Asylberechtigung (oben zu 1. c unter Hinweis auf das Urteil des Senats vom heutigen Tage im Verfahren BVerwG 1 C 21.06 ) verwiesen, die für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung entsprechend gelten.

24 An diesen Grundsätzen ist auch in Ansehung der am 20. Oktober 2004 in Kraft getretenen Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl Nr. L 304/12 vom 30. September 2004) - Qualifikationsrichtlinie -, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006 (Art. 38 Abs. 1) grundsätzlich unmittelbar anzuwenden ist, festzuhalten. Die den Widerruf betreffenden Bestimmungen der Richtlinie über die Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft (Art. 14 i.V.m. Art. 11) sind im vorliegenden Fall noch nicht anwendbar. Denn sie gelten gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie nur bei Anträgen auf internationalen Schutz, die nach Inkrafttreten dieser Richtlinie gestellt wurden. Der dem hier streitigen Widerruf zugrunde liegende Asylantrag wurde von der Klägerin aber bereits 1997 und damit vor Inkrafttreten der Richtlinie gestellt. Abgesehen davon ist auch nicht erkennbar, dass sich für den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft aus Art. 14 i.V.m. Art. 11 der Richtlinie, der wörtlich an die entsprechenden Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention anknüpft, inhaltlich etwas anderes ergibt als aus § 73 Abs. 1 AsylVfG, der nach der Rechtsprechung des Senats ebenfalls im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 und 6 GFK auszulegen und anzuwenden ist (vgl. Urteil vom 1. November 2005 a.a.O. Rn.19 bis 24 und Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Rn. 15). Soweit im Rahmen der Widerrufsvoraussetzungen inzident zu prüfen ist, ob dem anerkannten Flüchtling nach Wegfall der ursprünglichen Verfolgung nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht, sind die wesentlichen Inhalte der Bestimmungen der Richtlinie über Neuanträge auf Anerkennung als Flüchtling bereits durch § 60 Abs. 1 AufenthG in nationales Recht umgesetzt und deshalb ohnehin zu beachten. Auch hinsichtlich des allgemeinen Prognosemaßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der nach den oben angeführten Grundsätzen bei der Prüfung einer neuen, andersartigen Verfolgungsgefahr anzuwenden ist, ergibt sich aus diesen Bestimmungen der Richtlinie nichts Abweichendes. Dieser Maßstab entspricht im Wesentlichen dem von der Richtlinie vorausgesetzten und auch in der Flüchtlingsdefinition („begründete Furcht vor Verfolgung“, vgl. auch Art. 2 Buchst. c der Richtlinie) angelegten Maßstab. Die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie vorgesehene Beweiserleichterung auf tatsächlicher Ebene greift nur im Falle einer Vorverfolgung ein.

25 c) Nach diesen Grundsätzen durfte das Berufungsgericht auf der Grundlage seiner im Revisionsverfahren nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und für das Revisionsgericht bindenden (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) tatrichterlichen Feststellungen und Prognosen annehmen, dass die im Anerkennungsbescheid angenommene ursprüngliche Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr in den Irak mit der Beseitigung des Saddam-Regimes inzwischen weggefallen ist und insofern die dargelegten Voraussetzungen für einen Widerruf vorliegen (vgl. oben zu 1. c) bb) erster Absatz). Im Ergebnis zu Recht durfte es auch davon ausgehen, dass der Ausnahmefall einer auf der früheren Verfolgung beruhenden unzumutbaren Rückkehr im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG hier nicht geltend gemacht und auch sonst nicht in Betracht zu ziehen ist.

26 d) Hingegen sind die Erwägungen des Berufungsgerichts dazu, dass der Klägerin - bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung im Juni 2006 - bei einer Rückkehr in den Irak nicht erneut eine (andere) Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG droht, mit Bundesrecht nicht in vollem Umfang vereinbar. Das Berufungsgericht hat zwar im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend geprüft, ob der Klägerin nach Wegfall der der Anerkennung zugrunde liegenden Verfolgung nunmehr bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine anders geartete Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG droht. Es hat hierbei in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise die Gefahr einer derzeitigen staatlichen oder quasistaatlichen Verfolgung der Klägerin verneint (vgl. oben zu 1. c) bb) zweiter Absatz). Hinsichtlich einer Verfolgung der Klägerin durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG genügen dagegen die Feststellungen des Berufungsgerichts nicht den Anforderungen, die an die Prüfung der von der Klägerin geltend gemachten geschlechtsspezifischen Verfolgung durch private Akteure zu stellen sind.

27 Die Klägerin hat sich im behördlichen Widerrufsverfahren sowohl auf Bedrohung und Belästigung durch die Familie ihres - inzwischen getrennt lebenden - Ehemannes und ihre eigene Familie im Irak als auch auf Gefährdungen als alleinstehende Frau und alleinerziehende Mutter, die aus dem Familienverband verstoßen worden ist, berufen und sich hierzu auf ein Positionspapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 9. Juni 2004 bezogen (Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 11. April 2005). Auf diesen Vortrag hat ihr Prozessbevollmächtigter auch im Klage- und Berufungsverfahren jeweils verwiesen. Das Berufungsgericht hätte deshalb nicht ohne jegliche Auseinandersetzung mit diesem Vorbringen und der angeführten Erkenntnisquelle eine Verfolgung durch private Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG verneinen dürfen. Auch wenn es die behauptete „Bedrohung und Belästigung“ durch Familienangehörige möglicherweise als nicht hinreichend substantiiert oder - mangels Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG - als rechtlich unerheblich angesehen haben sollte, hätte es doch jedenfalls auf die ebenfalls geltend gemachte Gefahr geschlechtsspezifischer Verfolgung für alleinstehende Frauen und alleinerziehende Mütter ohne Unterstützung des Familienverbandes eingehen und sich mit der einschlägigen Auskunftslage, ggf. auch nach Durchführung weiterer Aufklärungsmaßnahmen, auseinandersetzen müssen. Da das Berufungsgericht die Frage einer geschlechtsspezifischen Verfolgung der Klägerin mithin auf zu schmaler Tatsachengrundlage geprüft und verneint hat, wird es dies im erneuten Berufungsverfahren nachholen müssen. Es wird dabei auch Feststellungen dazu treffen müssen, ob die Klägerin, wie sie vorträgt, bei einer Rückkehr in den Irak nicht auf den Schutz durch Familienangehörige zurückgreifen kann.

28 Über das Hilfsbegehren der Klägerin auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG ist durch das Berufungsurteil bereits rechtskräftig - wenn auch auflösend bedingt durch den Erfolg der Klägerin mit ihrem Hauptantrag - entschieden (vgl. den Zulassungsbeschluss des Senats vom 26. Oktober 2006 - BVerwG 1 B 143.06 - juris).

29 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.